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Gedanken zum 4. Buch Mose

 

C. H. Mackintosh

 

EINLEITUNG

 

Das vierte Buch Mose kann als die aus Gottes Sicht geschriebene Ge­schichte der Wanderungen der Israeliten durch die Wüste angesehen werden, dieser Wanderungen, die etwa achtunddreißig Jahre und zehn Monate dauerten und mit dem ersten Aufbruch des Lagers begannen, nachdem die Stiftshütte errichtet worden war. Zugleich kann man dieses Buch auch als eine Denkschrift über des HERRN unermüdliche Fürsorge für Sein murrendes und aufrührerisches Volk betrachten. Es ist ein "Wüstenbuch", ausdrücklich als solches geschrieben, und Reisen, Dienst sowie alle die Wechselfälle des Wüstenlebens charakterisieren es. Und deswegen ist es von großem Interesse für einen Christen in der gegen­wärtigen bösen Zeit; es ist für ihn sehr lehrreich, und er kann es leicht auf seine Situation anwenden.

 

Schon das erste, was unsere Aufmerksamkeit beansprucht, wenn wir 4. Mose lesen, erfreut unser Herz: Gott hat Sein Volk gezählt und hat es um Sich versammelt. Er war in dem Lager, "in dessen Mitte ich wohne". Hätte Gottes Liebe mehr tun können? ‑ Alles im Lager war nach den Anweisungen des HERRN geordnet. Damit hatte jeder seinen richtigen Platz, und jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Die Wol­kensäule leitete alle Bewegungen des Lagers am Tage, die Feuersäule tat es nachts (4. Mose 9, 17‑23). In dem Augenblick, in dem die Wolke sich von der Wohnung erhob, blies man mit den silbernen Trompeten Lärm und das ganze Lager geriet sofort in Bewegung. Und dann sprach Mose die Worte: "Stehe auf, HERR, daß deine Feinde sich zerstreuen und deine Hasser vor dir fliehen!" Wenn die Wolke ruhte, dann ruhte das ganze Lager, und jeder kannte seinen Platz und seine Arbeit. Und dann betete Mose: "Kehre wieder, HERR, zu den Myriaden der Tau­sende Israels!" (4. Mose 10, 35. 36).

 

Wie großartig muß der Anblick dieses gewaltigen Lagers mitten in der Wüste gewesen sein! und so konnte Bileam: „Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!" Die wahre Schönheit dieses Lagers aber erkennt nur das Auge des Glaubens. Es war der herrlichste und der am meisten gesegnete Flecken der Erde, obwohl er im Sand der Wüste lag. Das bei weitem Wichtigste aber war das Wis­sen, daß Gott selbst dort war, an jeden einzelnen dachte und für alles Sorge trug. Tag für Tag bereitete Er ihnen einen Tisch in der Wüste, und Er gab ihnen Wasser aus dem Kieselfelsen. Ihr Fuß schwoll nicht, und ihre Kleider veralteten nicht während dieser vierzig Jahre (5. Mose 8, 4). Der HERR selbst versammelte sie alle um Sich, so wie ein Vater seine Kinder versammelt, und Er bedeckte sie Nacht und Tag mit den Säumen Seiner Wolke. "Er breitete eine Wolke aus zur Decke und ein Feuer, die Nacht zu erleuchten“ (Ps. 105, 39).

 

Möge der HERR diese "Gedanken zum vierten Buch Mose" mit Seinem reichen Segen begleiten!

 

GEDANKEN ZUM VIERTEN BUCH MOSE

 

Kapitel 1 und 2

 

Wir beginnen jetzt mit der Betrachtung des vierten Buches Mose; dabei werden wir hier den Leitgedanken ebenso stark ausgeprägt finden wie in den anderen drei Büchern, die wir schon behandelt haben. Im ersten Buch Mose finden wir nach dem Bericht über die Schöpfung, die Sint­flut und die Sprachverwirrung und Zerstreuung von Babel die Berufung Abrahams und seines Samens; im zweiten Buch sehen wir die Erlösung; das dritte Buch zeigt uns den priesterlichen Dienst und die Gemein­schaft; das vierte Buch zeigt uns Weg und Kampf in der Wüste. Das sind die auf den ersten Blick auffallendsten Themen dieser wertvollen Teile der Heiligen Schrift. Der HERR hat uns in Seiner Gnade bei der Betrachtung der ersten drei Bücher Moses begleitet, und wir können darauf vertrauen, daß Er uns auch durch das vierte Buch führen wird. Möge Sein Geist die Gedanken leiten, damit nichts niedergeschrieben wird, das nicht mit Seinem heiligen Willen übereinstimmt! Möge jede Seite den Stempel Seines Einverständnisses tragen und so sowohl zu Seiner Ehre als auch zum bleibenden Gewinn des Lesers beitragen!

 

Das vierte Buch Mose beginnt mit folgenden Worten: "Und der HERR redete zu Mose in der Wüste Sinai im Zelte der Zusammenkunft, am Ersten des zweiten Monats, im zweiten Jahre nach ihrem Auszuge aus dem Lande Ägypten, und sprach: Nehmet auf die Summe der ganzen Gemeinde der Kinder Israel nach ihren Geschlechtern, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl der Namen, alle Männlichen nach ihren Köpfen; von zwanzig Jahren und darüber, jeden, der zum Heere aus­zieht in Israel, die sollt ihr mustern nach ihren Heeren, du und Aaron" (Kap. 1, 1‑3).

 

Wir sind hier von vornherein "in der Wüste", wo nur die zählen, die "zum Heere" ausziehen können. Das wird betont. Im ersten Buch Mose war Israel noch in den Lenden seines Vaters Abraham, im zweiten Buch sahen wir das Volk bei den Ziegelöfen Ägyptens, im dritten Buch waren die Israeliten um das Zelt der Zusammenkunft versammelt, und hier im vierten Buch werden sie in der Wüste gesehen. Entsprechend hören wir auch im ersten Buch Mose vom Ruf Gottes in der Auserwäh­lung, begegnen im zweiten Buch dem Blut des Lammes in der Erlösung und sehen dann im dritten Buch schon fast ausschließlich die Anbetung und den Dienst am Heiligtum; sobald wir aber das vierte Buch auf­schlagen, lesen wir von den Kriegsleuten, Heeren, Panieren (Standar­ten), Lagern und Lärm blasenden Trompeten.

 

Das alles ist sehr charakteristisch und zeigt uns, daß wir hier ein Buch vor uns haben, das für einen Christen von besonderem Interesse und großer Wichtigkeit ist. jedes Buch der Bibel hat seinen eigenen Platz und seinen bestimmten Gegenstand. Wir dürfen nicht auf den Gedan­ken kommen, einzelne Teile der Bibel für wichtiger, ursprünglicher oder wertvoller zu halten als andere. Dagegen können wir mit sehr viel Nutzen Inhalt, Absicht und Zweck der verschiedenen Bücher miteinan­der vergleichen, und je tiefer wir darüber nachdenken, um so mehr werden wir von der Schönheit, der unendlichen Weisheit und der Ge­nauigkeit der Bibel als Ganzes wie auch ihrer einzelnen Teile beein­druckt sein. Der Schreiber entfernt sich nie von dem eigentlichen Ge­genstand eines Buches, was dieser Gegenstand auch immer sein mag. Man wird in keinem Buch der Bibel etwas finden, das nicht zu seinem Generalthema paßt. Wenn wir das jetzt beweisen wollten, müßten wir die ganze Bibel durchgehen, aber dazu ist hier nicht der Ort.

 

Ein Mann, der die Bibel sehr gut kannte, sagte einmal dazu: "Die Schriften haben eine lebendige Quelle, und eine lebende Kraft hat ihre Zusammensetzung bewirkt und durchdringt sie. Daher rührt ihre un­endliche Tragweite, und daher ist es unmöglich, irgendeinen Teil aus seiner Verbindung zum Ganzen zu lösen. Der eine Gott ist der lebende Mittelpunkt, um den alle Wahrheiten dieses Buches kreisen und auf den sie sich beziehen (wenn auch in unterschiedlicher Weise), obwohl sie verschiedene Herrlichkeiten offenbaren; ein Geist dringt von seiner Quelle in Gott aus bis in die kleinsten Zweige der alles vereinigenden Wahrheit, indem Er von der Herrlichkeit, der Gnade und der Wahrheit dessen zeugt, den Gott als Objekt, Mittelpunkt und Haupt alles dessen vorstellt, was mit Ihm selbst in Verbindung steht, und der zugleich Gott über alles ist, gepriesen in Ewigkeit! ... Je mehr wir ‑ angefan­gen bei den äußersten Blättern und Zweigen der Offenbarung der Ge­danken Gottes, von denen wir erreicht wurden, als wir noch fern von Ihm waren ‑ diese Offenbarung verfolgen bis in ihren Mittelpunkt und von dort noch einmal auf ihre Ausdehnung und ihre Vielfalt sehen, je mehr wir das tun, um so mehr lernen wir ihre Unendlichkeit kennen, um so mehr aber auch die Schwäche unserer Auffassungskraft. Wir lernen ‑ und dafür sei Gott gepriesen ‑ daß die Liebe als Quelle aller göttlichen Offenbarung in unverfälschter Vollkommenheit und völliger Entfaltung bereits darin zu sehen ist, daß wir in unserem verlorenen Zustand erreicht wurden. Derselbe vollkommene Gott der Liebe zeigt sich in allem. Aber die Entfaltung göttlicher Weisheit, Seine Selbst­offenbarung in Seinen Ratschlüssen, wird für uns doch etwas bleiben, über das wir immer nachdenken und das wir immer erforschen können, ohne damit ganz ans Ende zu kommen. Denn jede neue Entdeckung vergrößert unsere geistliche Einsicht und läßt uns mehr und mehr die Unendlichkeit des Ganzen erkennen, das unser Denken übersteigt."

 

Es ist erfrischend, solche Zeilen von einem Mann zu lesen, der seit vierzig Jahren ein gründlicher Kenner der Heiligen Schrift ist. Gerade zu einem Zeitpunkt, in dem so viele über dieses Buch nur noch lächeln, sind sie ungemein wertvoll. Herz und Sinn müssen festhalten an der Wahrheit, daß die Heilige Schrift vollständig von Gott eingegeben ist und folglich göttliche Autorität besitzt, daß sie ausreicht für alle Pro­bleme aller Menschen und zu jeder Zeit, insbesondere auch heute. Wir sind von zwei feindlichen Strömungen umgeben, die auf alles Einfluß zu gewinnen suchen: von Unglauben ‑ aber andererseits auch von Irr­glauben. Der Unglaube streitet ab, daß Gott in Seinem Wort zu uns gesprochen hat; der Irrglaube gesteht zwar zu, daß Er geredet hat, behauptet aber außerdem, daß wir das, was Er gesagt hat, nur durch Auslegungen der Kirche verstehen können.

 

Nun, sehr viele schrecken zurück vor der Verwegenheit völligen Un­glaubens, sehen aber nicht, daß auch ein falscher Glaube, wie er eben erwähnt wurde, ihnen die Heilige Schrift entzieht. Denn was für einen Unterschied macht es, ob ich nun leugne, daß Gott geredet hat, oder ob ich leugne, daß wir verstehen können, was Er sagt? Ist uns nicht in jedem Fall das Wort Gottes genommen? Wenn Gott mich nicht ver­stehen lassen kann, was Er sagt, wenn Er mir nicht die Gewißheit geben kann, daß Er selbst es ist, der da redet, dann bin ich nicht besser dran, als wenn Er überhaupt nicht gesprochen hätte. Wenn Gottes Wort nicht hinreicht, wenn es nicht vollkommen ist ohne die Auslegung eines Menschen, dann kann es gar nicht Gottes Wort sein. Denn was unvoll­kommen ist, ist niemals Gottes Wort. Es gibt deshalb nur zwei Mög­lichkeiten: entweder hat Gott gar nicht geredet, oder aber Er hat geredet, dann ist Sein Wort auch vollkommen. Hinsichtlich dieser Frage gibt es keine weitere, etwa eine neutrale, Möglichkeit. Hat Gott uns eine Offenbarung gegeben? Der Unglaube sagt: "Nein", und ein falscher Glaube sagt: "ja, aber wir können sie ohne eine menschliche Autorität nicht verstehen." So treffen sich Unglaube und jener Irr­glaube, obwohl sie auf den ersten Blick so ungleich erschienen, in dem einen Punkt: beide nehmen uns die göttliche Offenbarung.

 

Doch Gott sei Dank ‑ Er hat uns eine Offenbarung gegeben! Er hat ge­sprochen, und Sein Wort kann das Herz erreichen und ebenso das Ver­ständnis. Er kann die Gewißheit geben, daß Er es ist, der da redet, und wir benötigen keine menschliche Autorität, die hier vermitteln müßte. Wir müssen nur im Schein der Sonne stehen ‑ dann werden wir auch überzeugt sein, daß die Sonne scheint. Wenn wir uns natürlich in einen Keller oder einen Tunnel verkriechen, spüren wir nichts von ihr. Und genau so ist es mit der Heiligen Schrift: Wenn wir uns den verfinstern­den Einflüssen eines falschen Glaubens oder des Unglaubens öffnen, werden wir die belebende Kraft dieser göttlichen Offenbarung nicht erfahren.

 

Soviel über das göttliche Buch als Ganzes. Betrachten wir jetzt den Inhalt des Teiles, der vor uns liegt! Im 1. Kapitel finden wir das Geschlechtsregister des Volkes Israel, im 2. Kapitel die Anordnung der Paniere (Standarten). "Und Mose und Aaron nahmen diese mit Namen bezeichneten Männer, und sie versammelten die ganze Gemeinde am Ersten des zweiten Monats. Und sie ließen sich in die Geburtsverzeich­nisse eintragen nach ihren Geschlechtern, nach ihren Vaterhäusern, nach der Zahl der Namen, von zwanzig Jahren und darüber, nach ihren Köpfen; wie der HERR dem Mose geboten hatte. Und so musterte er sie in der Wüste Sinai" (Kap. 1, 17‑19).

 

Sagt uns das etwas? Hilft es uns, irgendeine geistliche Lehre zu ver­stehen? Ganz gewiß! Zuerst einmal will diese Stelle in dem Leser die Frage wecken: "Kann ich meine Herkunft angeben?" Es steht sehr zu befürchten, daß Hunderte, wenn nicht Tausende unter denen, die be­kennen, Christen zu sein, das nicht können. Sie können nicht mit Bestimmtheit sagen: „Jetzt sind wir Kinder Gottes" (i. Joh. 3, 2). ‑"Ihr alle seid Söhne Gottes durch den Glauben an Jesum Christum ... Wenn ihr aber Christi seid, so seid ihr denn Abrahams Same und nach Verheißung Erben" (Gal. 3, 26. 29). ‑ "Denn so viele durch den Geist Gottes geleitet werden, diese sind Söhne Gottes. . . . Der Geist selbst zeugt mit unserem Geiste, daß wir Kinder Gottes sind." (Röm. 8, 14. 16).

 

Das ist das "Geschlechtsregister", der "Stammbaum" des Christen, und es ist sein Vorrecht, es "bekanntmachen" zu können. Er ist von oben her geboren ‑ von neuem geboren ‑ geboren aus Wasser und Geist, d. h., durch das Wort und den Geist Gottes (vgl. sorgfältig Joh. 3, 5; Jak. 1, 18; 1. Petr. 1, 23; Eph. 5, 26). Der Gläubige leitet seine Ab­kunft direkt von einem auferstandenen und verherrlichten Christus her. Das ist das christliche Geschlechtsregister. Was unsere natürliche Herkunft betrifft ‑ wenn wir sie bis zu ihrer Quelle zurückverfolgen, müssen wir sehen und zugeben, daß wir von einem verdorbenen Stamm herkommen. Wir sind eine gefallene Menschheitsfamilie. Unser Ge­schlecht ist ein gefallenes Geschlecht. Unsere Güter sind verloren, unser Blut ist befleckt, wir sind unwiederbringlich zugrunde gerichtet; wir können niemals wieder unsere ursprüngliche Stellung zurückgewinnen, unser früherer Stand und das Erbe, das damit verbunden war, sind rettungslos verloren. "In Ungerechtigkeit ... geboren und in Sünde ... empfangen" (vgl. Ps. 51, 5) ‑ das ist der Ursprung des Menschen, das ist seine Herkunft. Wer könnte daran denken, auf solch eine Herkunft, auf einen solchen Ursprung stolz zu sein? Doch nur jemand, dessen Sinn der Gott dieses Zeitlaufs verblendet hat!

 

Wie anders aber verhält es sich mit einem Christen! Seine Herkunft ist himmlischer Art, sein Stammbaum wurzelt im Boden der neuen Schöpfung. Der Tod kann diese Verbindung niemals zerstören, denn sie ist aus der Auferstehung entstanden. Es ist äußerst wichtig, sich über diesen fundamentalen Punkt völlig im klaren zu sein. Das erste Kapitel der vierten Buches Mose zeigt uns, wie wichtig es war, daß jedes Glied der Gemeinde Israel seinen Stammbaum angeben konnte. Ungewißheit in diesem Punkt hätte sich als unheilvoll erwiesen und Verwirrung hervorgerufen. Wir können uns kaum vorstellen, daß ein Israelit sich in der bei vielen Christen heute üblichen unklaren Art geäußert hätte, wenn man ihn nach seiner Herkunft gefragt hätte: "Nun ja, ich bin mir nicht ganz sicher, Manchmal hoffe ich, daß ich vom Stamm Israel bin; aber dann wieder bin ich voller Furcht, daß ich keineswegs zur Gemeinde des Herrn gehöre. Ich bin da ganz unsicher und weiß nichts Genaues." ‑ Und noch viel weniger können wir es uns vorstellen, daß darauf jemand bestanden hätte, man könne bis zum Tage des Gerichts nicht sicher sein, ob man wirklich ein Israelit sei oder nicht.

 

jetzt können wir mit Recht fragen: Wenn ein Jude sich seiner Her­kunft sicher sein konnte, warum soll es dann ein Christ nicht sein können? ‑ Eine Frage, über die nachzudenken sich lohnt! ‑ Wenn du einer der vielen Menschen bist, die bisher noch nicht zu der segens­reichen Gewißheit ihrer himmlischen Abstammung, ihrer Geburt aus dem Geist (vgl. Joh. 3, 5) gelangt sind, dann laß uns jetzt in Ruhe über diesen bedeutsamen Punkt nachdenken. Vielleicht möchtest du die Frage stellen:. "Wie kann ich dessen sicher sein, daß ich wirklich und wahrhaftig ein Kind Gottes bin, geboren aus dem Wort und dem Geist Gottes?"

 

Zuerst einmal wollen wir auf ein besonderes Merkmal hinweisen, das ausnahmslos alle Kinder Gottes kennzeichnet. Es ist sehr einfach, aber es bringt sehr viel Segen mit sich. Besitzen wir es nicht, dann sind wir ganz sicher nicht himmlischer Herkunft; wenn wir es aber haben, dann sind wir wirklich dieser Herkunft. Wir können deshalb genau wie die Israeliten ohne irgendwelche Schwierigkeit oder Einschränkung unser "Geschlechtsregister" angeben. Welches ist dieses Kennzeichen? Worin besteht diese große Familien‑Eigenschaft? Unser Herr Jesus Christus selbst gibt uns die Antwort: "Die Weisheit ist gerechtfertigt worden von allen ihren Kindern" (Luk. 7, 35; Matth. 11, 13). Alle Kinder der Weisheit von Abel bis jetzt tragen also diesen großen Charakterzug der einen Familie. Alle Kinder Gottes, alle Söhne der Weisheit lassen ausnahmslos dieses Merkmal in irgendeinem Grade erkennen, daß sie Gott gerechtfertigt haben.

 

Beachten wir das gut! Es mag auf den ersten Blick schwierig sein, zu verstehen, was das sagen will: Gott rechtfertigen. Aber folgende Stelle macht es wohl ganz klar: "Und das ganze Volk, das zuhörte, und die Zöllner rechtfertigten Gott, indem sie mit der Taufe Johannes ge­tauft worden waren; die Pharisäer aber und die Gesetzgelehrten machten in bezug auf sich selbst den Ratschluß Gottes wirkungslos, indem sie nicht von ihm getauft worden waren." (Luk. 7, 29 f.). Hier stehen die beiden Gruppen einander gegenüber: die Zöllner recht­fertigten Gott und verurteilten sich selbst, die Pharisäer dagegen recht­fertigten sich selbst und verurteilten Gott. Die ersteren unterwarfen sich der Taufe des Johannes, der Taufe der Buße (vgl. Mark. 1, 4); die letzteren wiesen diese Taufe zurück, weigerten sich, Buße zu tun, wei­gerten sich, sich zu demütigen und sich selbst zu verurteilen.

 

Hier sehen wir die beiden großen Gruppen, in die sich die ganze menschliche Familie von den Tagen Kains und Abels bis in unsere Zeit aufteilt. Und wir sehen hier auch gleichzeitig den einfachsten Prüfstein, an dem wir unsere "Abstammung" feststellen können. Haben wir uns selbst verurteilt? Haben wir uns in wirklicher Reue vor Gott gebeugt? Das bedeutet "Gott rechtfertigen"! Beide Dinge gehören zu­sammen, ja, sind ein und dasselbe: derjenige, der sich selbst verurteilt, rechtfertigt damit Gott, und wer Gott rechtfertigt, verurteilt sich selbst ‑ und andererseits richtet derjenige Gott, der sich selbst rechtfertigt bzw. wer Gott richtet, rechtfertigt sich selbst.

 

So ist es in jedem Fall. Und es sei nochmals bemerkt, daß in dem­selben Augenblick, in dem wir uns auf den Boden der Buße und des Urteils über uns selbst stellen, Gott unser Rechtfertiger wird. Gott rechtfertigt immer diejenigen, die sich selbst verurteilen. Alle Seine Kinder rechtfertigen Ihn, und Er rechtfertigt alle Seine Kinder. In dem Augenblick, als David sagte: "Ich habe gegen den HERRN ge­sündigt", erhielt er die Antwort: Der HERR hat deine Sünde hinweg­getan." Gottes Vergebung folgt dem Bekenntnis des Menschen sofort. Daraus ergibt sich, daß es sehr töricht ist, sich selbst zu rechtfertigen (vgl. Ps. 51, 4 bzw. 5; Röm. 3, 4), und daß es weise ist, wenn wir uns selbst verurteilen; alle Kinder der Weisheit tun es. Von Natur aus geben wir allem und jedem die Schuld, nur uns selbst nicht. Wo aber die Gnade wirkt, da entsteht die Bereitschaft, sich selbst zu verurteilen und einen niedrigen Platz einzunehmen. Darin besteht das Geheimnis alles Segens und des Friedens. Jeder, der wirklich dahin kommt, daß er sich selbst als verloren erkennt und sich selbst verurteilt, ist ein Kind der Weisheit, und er kann deshalb mit Sicher­heit und Bestimmtheit seine "Herkunft" angeben. Auf diesen Punkt möchte ich hier am Anfang den Nachdruck legen. Unmöglich kann jemand die richtige "Standarte", das richtige "Panier" erkennen und sich dort aufstellen, wenn er nicht seine "Herkunft" angeben kann. Kurz gesagt: Es ist unmöglich, den richtigen Standplatz in der Wüste einzunehmen, so lange im Hinblick auf diese große Frage noch irgend­welche Unsicherheit herrscht. Wie hätte einer der alten Israeliten seinen Platz in der Gemeinde einnehmen und mit den übrigen im Heer stehen können, und wie hätte er erwarten können, irgendwie in der Wüste voranzukommen, wenn er sich nicht als Israelit hätte ausweisen können? So ist es auch jetzt mit den Christen. Ein Weiter­kommen im Leben in der Wüste und jeder Erfolg im geistlichen Kampf sind ganz unmöglich, solange noch irgendwelche Unsicherheit hinsicht­lich der geistlichen Herkunft besteht. Wir müssen sagen können: "Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben hinübergegangen sind" (i. Joh. 3, 14), "wir wissen, daß wir aus Gott sind" (i. Joh. 5, 19), "wir glauben und wissen" (Joh. 6, 69), bevor irgendein wirklicher Fortschritt in unserem Leben als Christen möglich ist.

 

Kannst du deine Herkunft angeben? Ist das für dich eine vollständig geklärte Frage? Bist du dir bis in die Tiefen deiner Seele darüber im klaren? Wenn du ganz allein bist mit Gott ‑ ist das dann eine gänzlich entschiedene Frage zwischen dir und Ihm? Prüfe, untersuche das gut und vergewissere dich sorgfältig! Gehe nicht leicht über diese Ange­legenheit hinweg! Verlaß dich nicht auf ein bloßes Bekenntnis! Sage nicht: "Ich bin Mitglied einer Kirche; ich nehme das Abendmahl des Herrn; ich halte mich an diese oder jene Lehren; ich bin religiös erzogen; ich lebe moralisch einwandfrei; ich habe niemandem etwas getan; ich lese die Bibel und bete; ich halte zu Hause Familienandach­ten; ich gebe viel für wohltätige und religiöse Zwecke." ‑ Das alles kann vollkommen wahr sein, ohne daß du einen einzigen Pulsschlag göttlichen Lebens besitzt, ohne daß dich jemals ein einziger Strahl göttlichen Lichtes erreicht hat. Keines dieser Dinge ‑ und auch nicht sie alle zusammen ‑ ist ein Beweis geistlicher Herkunft. Das Zeugnis des Heiligen Geistes, daß du ein Kind Gottes bist, ist erforderlich, und dieses Zeugnis begleitet immer den einfachen Glauben und den Herrn Jesus Christus. "Wer an den Sohn Gottes glaubt, hat das Zeugnis in sich selbst" (i. Joh. 5, 10). Keinesfalls geht es dabei darum, daß du in dein eigenes Herz siehst, um Beweise zu finden; es ist nicht ein Gebäude, errichtet auf Gemütsbewegungen, Gefühlen und Erlebnis­sen ‑ es ist nichts dergleichen. Vielmehr geht es um einen kindlichen Glauben an Christus; es geht darum, ewiges Leben in dem Sohn Gottes zu haben; es geht um die unvergängliche Versiegelung durch

 

den Heiligen Geist; es geht darum, Gott beim Wort zu nehmen. "Wahr­lich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tode in das Leben hinübergegangen." (Joh. 5,24).

 

Das ist der Weg, durch den man seine "Herkunft" angeben kann, und man muß sie angeben können, bevor man "zum Krieg auszieht". Das soll nicht heißen, daß man sonst nicht gerettet sein könnte. Sicher­lich gibt es viele wirkliche Kinder Gottes (Israeliten im geistlichen Sinn), die ihre Herkunft nicht kennen. Aber sind sie fähig, in den Kampf zu ziehen? Sind sie tüchtige Krieger? Nein! Sie können nicht einmal wissen, was wahrer Kampf ist, im Gegenteil: sie mißverstehen ihre Zweifel und Ängste, ihre dunklen und trüben Zeiten als wirk­lichen christlichen Kampf. Das ist ein sehr schwerwiegender, aber leider üblicher Fehler. Immer wieder erleben wir, daß etwas als christlicher Kampf verteidigt wird, das in Wirklichkeit nur Niedergeschlagenheit und Gesetzlichkeit ist. Nach dem Neuen Testament werden jedoch der wirkliche Streit des Christen und sein Kampf in einem Gebiet geführt, in dem Zweifel und Befürchtungen unbekannt sind. In den Kampf, den wir als Christen zu führen haben, treten wir erst ein, wenn wir in dem klaren Licht der vollkommenen Rettung Gottes stehen, der Ret­tung in einem auferstandenen Christus. Können wir auch nur für einen Moment annehmen, daß unser gesetzliches Ringen, unser sün­diger Unglaube, daß unser Weigern, uns der Gerechtigkeit Gottes zu unterwerfen, und unsere Fragen und Vernunftschlüsse als der Kampf eines Christen angesehen werden können? Auf keinen Fall! Alles das ist Kampf gegen Gott. Dagegen wird christlicher Kampf gegen Satan geführt. "Unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut, sondern wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern.' (Eph. 6, 12).

 

Das ist christlicher Streit. Aber kann solchen Streit jemand führen, der dauernd zweifelt, ob er Christ ist oder nicht? Sicherlich nicht!

 

Es mag an dieser Stelle, wo es um das wichtige Thema des christlichen Kampfes geht, gut sein, auf drei Stellen im Neuen Testament hinzu­weisen, in denen uns drei verschiedene Arten des Kampfes vorgestellt werden. Diese Stellen sind Röm. 7, 7‑24; Gal. 5, 17 und Eph. 6, 10‑17. Die erste Stelle, Röm. 7, 7‑24, zeigt uns das Ringen einer Seele, die zwar lebendig gemacht, aber noch nicht befreit ist ‑ eine wiedergeborene Seele unter dem Gesetz. Den Beweis, daß wir hier von einer lebendig gemachten Seele reden können, finden wir in solchen Ausdrücken wie: "Was ich vollbringe, billige ich nicht" ' ‑"Das Wollen ist bei mir vorhanden." ‑ "Ich habe Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes nach dem inneren Menschen." Nur eine wieder­geborene Seele kann so reden. Das Verwerfen des Bösen, der Wille, das Richtige zu tun, das innere Wohlgefallen an dem Gesetz Gottes ‑alles das sind deutliche Zeichen des neuen Lebens und Früchte der Wiedergeburt.

 

Aber andererseits finden wir Hinweise darauf, daß wir in dieser Römer‑Stelle eine Seele vor uns haben, die nicht ganz befreit ist und nicht in der Freude einer Errettung lebt, die sie wirklich erkannt hat. Sie hat nicht das volle Bewußtsein des Sieges und ist nicht im sicheren Besitz geistlicher Kraft. Das beweisen uns ganz deutlich Ausdrücke wie: "Ich ... bin fleischlich, unter die Sünde verkauft." ‑ "Nicht was ich will, das tue ich, sondern was ich hasse, das übe ich aus." ‑ "Ich elender Mensch! Wer wird mich retten von diesem Leibe des Todes?" Nun, wir wissen, daß ein Christ normalerweise nicht "fleischlich" ist, sondern geistlich. Er ist nicht "unter die Sünde verkauft", sondern von ihrer Macht befreit. Er ist nicht ein "elender Mensch", der sich nach Befreiung sehnt, sondern ein glücklicher Mensch, der weiß, daß er errettet ist. Er ist nicht ein unfähiger Sklave, unfähig, das Gute zu tun, und immer gezwungen, das Böse auszuüben; er ist frei, ausgerüstet mit der Kraft des Heiligen Geistes. Er kann sagen: "Alles vermag ich in dem, der mich kräftigt." (Phil. 4, 13).

 

Das 7. Kapitel des Römerbriefes zeigt uns die Erfahrungen einer wirk­lich wiedergeborenen Seele, die aber noch nicht freigemacht ist. Sie weiß noch nicht, daß sie mit einem auferstandenen Christus vereinigt ist, und sie kennt noch nicht die Kraft des Heiligen Geistes. Viele Christen leben tatsächlich in Römer 7 ‑ während doch ihr eigentlicher Platz der ist, den Römer 8 uns zeigt. Ihrer Erfahrung nach leben sie un­ter Gesetz. Sie können nicht sagen, daß sie mit dem Heiligen Geist ver­siegelt sind. Sie besitzen nicht den völligen Sieg in einem auferstan­denen und verherrlichten Christus. Zweifel und Befürchtungen quälen sie. Immer wieder ergeht es ihnen so, daß sie es am liebsten heraus­schreien möchten: "Ich elender Mensch! Wer wird mich retten?" Aber ist denn ein Christ nicht gerettet? Ist er nicht erlöst? Ist er nicht angenehm gemacht in dem Geliebten? Ist er nicht versiegelt mit dem Hei­ligen Geist der Verheißung? Ist er nicht vereinigt mit Christus? Und sollte er nicht all dieses wissen, sich darin freuen und es bekennen? Zweifellos! Und wenn er das tut, dann lebt er nicht mehr in Römer 7. Es ist dann sein Vorrecht, jenseits des leeren Grabes Jesu das Siegeslied zu singen und in der heiligen Freiheit zu leben, zu der Christus Sein Volk freigemacht hat. Römer 7 spricht durchaus nicht von Freiheit, sondern von Knechtschaft ‑ allerdings außer der Stelle am Ende des Kapitels, wo die Seele endlich sagen kann: "Ich danke Gott." Zweifel­los ist es sehr heilsam, alles das durchzumachen, was uns hier mit sol­cher Lebendigkeit und Kraft dargestellt ist.

 

Wir wollen jetzt kurz einen Blick auf den Kampf werfen, den Gal. 5,17 uns nennt. Diese Stelle lautet: "Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegen­gesetzt, auf daß ihr nicht das tuet, was ihr wollt." Dieser Vers wird oft so zitiert, als spreche er von fortwährender Niederlage, während er doch in Wirklichkeit das Geheimnis steten Sieges enthält. In Vers 16 lesen wir: "Ich sage aber: Wandelt im Geiste, und ihr werdet die Lust des Fleisches nicht vollbringen." Das macht alles so klar. Die Gegen­wart des Heiligen Geistes sichert uns Kraft. Es ist uns zugesichert, daß Gott stärker ist als das Fleisch' und daß deshalb da, wo Er in den Kampf tritt, der Sieg gesichert ist. Und beachten wir, daß Gal. 5, 17 nicht von dem Kampf zwischen den beiden Naturen spricht ‑ der alten und der neuen ‑, sondern von dem Kampf zwischen dem Heiligen Geist und dem Fleisch. Aus diesem Grund wird hinzugefügt: " . . . auf daß ihr nicht das tuet, was ihr wollt." Wenn der Heilige Geist nicht in uns wohnte, würden wir mit Sicherheit die Lust des Fleisches vollbrin­gen; aber weil Er in uns den Kampf führt, sind wir nicht mehr gezwun­gen, das Böse zu tun, sondern können das Gute tun.

 

Das ist auch der Unterschied zwischen Röm. 7, 14. 15 und Gal. 5, 17. In der Stelle im Römerbrief sehen wir die neue Natur ohne die Kraft des innewohnenden Geistes, während in der Stelle im Galaterbrief sowohl die neue Natur als auch die Kraft des Heiligen Geistes vor­handen sind. Wir müssen uns immer vergegenwärtigen, daß die neue Natur in einem Glaubenden auf zweierlei Weise abhängig ist ‑ abhän­gig vom Geist, um Kraft zu erhalten, und abhängig vom Wort Gottes, um sich von ihm leiten zu lassen. Der Heilige Geist kann betrübt und gehindert werden, aber Gal. 5, 16 lehrt deutlich, daß wir einen sicheren und beständigen Sieg über das Fleisch davontragen, wenn wir im Geist wandeln. Darum wäre es, wie bereits gesagt, ein ernster Fehler, wenn man Gal. 5, 17 als Begründung für ein leeres und fleischliches Leben anführen wollte. Diese Stelle will gerade das Gegenteil sagen.

 

Und nun ein Wort über Eph. 6, 10‑17. Hier sehen wir den Kampf des Christen gegen die bösen Geister in den himmlischen Örtern. Die Kirche gehört dem Himmel an, und deshalb sollte sie immer nach himmlischen Grundsätzen leben. Wir sollten uns immer bemühen, unsere himmlische Stellung auch zu verwirklichen ‑ von unserem himmlischen Erbe Besitz zu ergreifen und es festzuhalten. Das versucht der Teufel auf alle mögliche Weise zu verhindern. Hier liegt die Ur­sache des Kampfes, und deshalb brauchen wir auch "die ganze Waffen­rüstung" Gottes, um gegen unseren mächtigen geistlichen Feind beste­hen zu können.

 

Ich möchte jetzt nicht weiter bei der Waffenrüstung stehenbleiben. Wir haben diese drei Stellen, die von Kampf sprechen, ja nur deshalb heran­gezogen, weil wir uns den Kampf in allen seinen Arten vergegenwärti­gen wollten, und zwar im Hinblick auf den Anfang des 4. Buches Mose. Es ist äußerst wichtig, sich über Wesen und Bereich des christlichen Kampfes im klaren zu sein. Wenn wir in den Krieg ziehen, ohne zu wissen, gegen wen oder was er geführt wird, und in einem Gefühl der Unsicherheit hinsichtlich unserer "Herkunft" leben, dann werden wir gegen den Feind nicht viel ausrichten.

 

jedoch war für den Mann, der in den Krieg zog, neben der genauen Angabe seiner Herkunft noch ein zweites wichtig: er mußte seine Standarte, sein Panier kennen. Diese beiden Dinge waren unabding­bar notwendig für das Leben und den Kampf in der Wüste. Außerdem waren sie gar nicht voneinander zu trennen. Wenn jemand seine Ab­stammung nicht kannte, konnte er auch sein Panier nicht ausfindig machen. Alles wäre in Verwirrung geraten. jeder mußte seinen Platz wissen und ihn halten, sein Panier kennen und bei ihm bleiben. So gingen sie gemeinsam voran, taten ihre Arbeit und führten den Kampf. Der Benjaminiter hatte seinen Platz, der Ephraimiter den seinen, nie­mand stieß mit dem andern zusammen oder kreuzte den Weg eines andern. So sah es in allen Stämmen im Lager des Israel Gottes aus. Jeder hatte seine bestimmte Abstammung, jeder seinen Posten ‑ und weder das eine noch das andere war so, weil es sich die Israeliten selber so ausgedacht hätten, sondern deshalb, weil Gott es so bestimmt und eingeteilt hatte. Er gab die Einteilung nach Geschlechtern, und Er ernannte die Paniere. Sie brauchten sich nicht einer mit dem andern zu messen, und es gab keinen Grund zur Eifersucht untereinander: jeder hatte seinen Platz und seine Aufgabe, und es gab Arbeit genug und Raum genug für alle. Wir sehen die größtmögliche Vielfalt und dennoch vollkommene Einheit. "Die Kinder Israel sollen sich lagern, ein jeder bei seinem Panier, bei den Zeichen ihrer Vaterhäuser." (Kap. 2, 2). "Und die Kinder Israel taten nach allem, was der HERR dem Mose geboten hatte: also lagerten sie sich nach ihren Panieren, und also brachen sie auf, ein jeder nach seinen Geschlechtern, nach seinem Vaterhause." (Kap. 2, 34)

 

So sehen wir im Lager des Volkes Israel ebenso wie jetzt in der Kirche, daß Gott nicht der Urheber von Verwirrung ist. Nichts hätte vorzüg­licher angeordnet sein können als die vier Lager aus je drei Stämmen, die genau ein Viereck bildeten. Jede Seite des Vierecks trug ihr beson­deres Panier. "Die Kinder Israel sollen sich lagern, ein jeder bei seinem Panier, bei den Zeichen ihrer Vaterhäuser; dem Zelte der Zusammen­kunft gegenüber sollen sie sich ringsum lagern." (Vers 2). Aus dem einfachen, aber entschiedenen Grund, weil Gottes Hand es geordnet und ausgerüstet hatte, war das Lager Israels auf vollkommene Weise geordnet und ausgerüstet. Denn alles, was Gott tut, ist vollkommen!

 

Noch einmal möchte ich jetzt am Schluß dieses Abschnitts die beiden wichtigsten Fragen wiederholen, die die ersten zwei Kapitel von 4. Mose uns stellten.

 

Die erste Frage ist diese: Bist du dir deiner "Herkunft" sicher? Ist es ganz klar, daß du auf der Seite des Herrn stehst? Laß um nichts in der Welt diese wichtige Frage unentschieden. Ich habe sie vorhin schon einmal gestellt und stelle sie jetzt wieder. Kennst du deine geistliche Herkunft, kannst du sie angeben? Das ist das erste für einen Krieger Gottes. Es ist sinnlos, daran zu denken, in die Schar der Krieger ein­zutreten, solange du dir in diesem Punkt nicht sicher bist. Damit soll nicht gesagt sein, daß jemand ohne das nicht gerettet sein könnte ‑nein, aber er kann so nicht ein Kriegsmann werden! Er kann nicht gegen die Welt und den Teufel kämpfen, solange er voller Zweifel und Ängste ist im Hinblick darauf, ob er wirklich geistlicher "Her­kunft" ist. Wenn es irgendwelchen Fortschritt geben soll und wenn diese Entscheidung so wichtig ist für einen geistlichen Kämpfer, dann müssen wir unbedingt sagen können: "Wir wissen, daß wir aus dem Tode in das Leben hinübergegangen sind" (i. Joh. 3, 14) ‑ "Wir wissen, daß wir aus Gott sind" (i. Joh. 5, 18).

 

Die zweite Frage betrifft die Standarte, das "Panier". Was ist das7 Ist es ein theologisches System? Oder was ist das Panier des Heeres Gottes? Es ist Christus! Das ist das einzige Panier Gottes und das ein­zige Panier jener Kriegerschar, die sich in dieser Wüsten‑Welt sammelt, um gegen die Heere des Bösen Krieg zu führen und die Schlachten des Herrn zu schlagen. Jedes andere Panier macht uns für den geistlichen Kampf, in den wir gerufen sind, untauglich. Was haben wir als Christen mit Streitigkeiten um irgendein theologisches System oder eine kirchliche Organisation zu tun? Wie wichtig sind uns Gewohn­heiten, Zeremonien oder religiöse Feiern? Sind wir im Begriff, unter irgendeinem solchen Panier zu kämpfen? Möge Gott uns davor bewah­ren! Unsere Theologie muß die Bibel sein, unsere Kirchenorganisation der eine Leib, den der Heilige Geist bildet und der mit dem lebendigen und verherrlichten Haupt im Himmel vereinigt ist. Für irgend etwas zu kämpfen, das weniger ist als das, ist für einen wirklichen geist­lichen Streiter zu wenig.

 

Es ist schade, daß so viele, die bekennen, daß sie zur Kirche Gottes gehören, ihr eigentliches Panier vergessen und unter einem anderen Banner kämpfen. Wir können sicher sein, daß es zu Schwächung führt, das Zeugnis fälscht und am Fortschreiten hindert. Wenn wir am Tage des Kampfes bestehen wollen, dürfen wir kein anderes Panier aner­kennen als Christus und Sein Wort. Hier liegt unsere Sicherheit ange­sichts aller geistlichen Feinde. je mehr wir Christus anhangen, und zwar Ihm allein, um so stärker und sicherer werden wir sein. Nahe bei Ihm zu bleiben, dicht an Seiner Seite, das ist unser großer moralischer Schutz. "Die Kinder Israel sollen sich lagern, ein jeder in seinem Lager und ein jeder bei seinem Panier, nach ihren Heeren." (Kap. 1, 52).

 

Möchte es so in dem ganzen Heer der Kirche Gottes sein! Möchte alles aufgegeben werden für Christus, möchte Er genug sein für uns! Wir leiten unsere "Herkunft" von Ihm ab ‑ sollte dann nicht auch genauso Sein Name auf dem Panier stehen, um das wir uns in dieser Wüste lagern, durch die wir unserer ewigen Ruhe im Vaterhaus zugehen? Achten wir darauf, daß da wirklich gar nichts auf dem Banner steht als nur Jesus Christus ‑ dieser Name, der über jedem Namen ist und der in alle Ewigkeit überall im gesamten Weltall Gottes erhoben wer­den wird 1

 

Kapitel 3 und 4

 

DIE LEVITEN

 

Was für einen merkwürdigen Anblick bot das Lager Israels in dieser öden, furchtbaren Wüste! Was für ein Schauspiel für Engel, Menschen und Teufel! Aber Gottes Auge ruhte stets auf dem Lager, Er war dort gegenwärtig, Er wohnte in der Mitte Seines kämpfenden Volkes. Dort, und nur dort fand Er Seine Wohnung ‑ nicht inmitten des Glanzes von Ägypten, Assyrien oder Babylon. Zweifellos boten diese Länder vieles, das den natürlichen Menschen anzog. Künste und Wissenschaften wur­den bei ihnen gepflegt. Die Kultur hatte bei diesen alten Völkern eine Höhe erreicht, die wir modernen Menschen ihnen kaum zuzugestehen geneigt sind.

 

Aber der Herr war unter diesen Völkern nicht bekannt, Sein Name war ihnen niemals geoffenbart worden, und Er wohnte nicht unter ihnen. Wohl gab es auch dort die vielen tausend Beweise Seiner Schöpfermacht, Seine Vorsorge waltete über ihnen. Er gab ihnen Regen und fruchtbare Zeiten, und Er erfüllte ihre Herzen mit Speise und Freude. Sie aber kannten Ihn nicht und fragten nicht nach Ihm. Seine Wohnung war nicht bei ihnen. Keines dieser Völker konnte sagen: "Meine Stärke und mein Gesang ist der HERR, denn er ist mir zur Rettung geworden; er ist mein Gott, und ich will ihn verherrlichen, meines Vaters Gott, und ich will ihn erheben." (2. Mose 15, 2)

 

Der HERR fand Seine Wohnung inmitten Seines erlösten Volkes und nirgends sonst. Erlösung ist die notwendige Grundlage dafür, daß Gott unter Menschen wohnen kann. Ohne Erlösung konnte Gottes Gegen­wart nur die Vernichtung des Menschen zur Folge haben; wo aber Erlösung ist, da bringt Gottes Gegenwart die höchsten Vorrechte und die strahlendste Herrlichkeit des Menschen mit sich.

 

Gott wohnte also inmitten Seines Volkes Israel. Er stieg vom Himmel herab, nicht nur, um sie aus Ägypten zu erlösen, sondern auch, um mit ihnen durch die Wüste zu gehen. Welch ein Gedanke! Gott der Aller­höchste schlägt Seine Wohnung im Sand der Wüste auf, bei Seiner erlösten Gemeinde! Wirklich, es gab in der ganzen weiten Welt nichts, das hiermit hätte verglichen werden können. Da war das Heer von sechshunderttausend Männern, ohne die Frauen und Kinder gerechnet, in einer unfruchtbaren Wüste, in der es keinen Grashalm und nicht einen Tropfen Wasser gab, keinen sichtbaren Quell für ihren Unterhalt. Wie sollten sie ernährt werden? Gott war da! Wie sollte Ordnung ge­halten werden? Gott war da! Wie sollten sie ihren Weg durch eine furchtbare Wüste ziehen, in der es gar keinen Weg gab? Gott war da!

 

Mit einem Satz gesagt: Gottes Gegenwart gab für alles die Sicherheit. Der Unglaube mochte sagen: Wie, sollen drei Millionen Menschen von Luft leben? Wer kümmert sich um die Verpflegung? Wo sind die Militär‑Magazine? Wo ist das Reisegepäck? Wer hat auf die Bekleidung zu achten? Nur der Glaube konnte hier antworten, und seine Antwort ist einfach, kurz und überzeugend: Gott war da! Und das war völlig hinreichend. Alles ist in diesem einen Satz eingeschlossen. In der Rech­nung, die der Glaube anstellt, ist Gott die einzig bedeutsame Größe. Wenn alle unsere Quellen in dem lebendigen Gott sind, kommt es gar nicht mehr darauf an, was wir brauchen ‑ alle Fragen lösen sich durch Seine Allgenugsamkeit.

 

Was bedeuten sechshunderttausend Mann Fußvolk für den allmächtigen Gott? Was alles das, was ihre Frauen und Kinder brauchen? Nach menschlichem Ermessen mag alles das entmutigend sein. Und stellen wir uns vor, daß dieses riesige Heer einen Zug begann, der vierzig fahre dauern würde, einen Zug durch eine "große und schreckliche Wüste", in der es kein Korn, kein Gras, keine Wasserquelle gab. Wie sollten sie ernährt werden? Sie hatten keine Vorräte mitgenommen, hatten keine Abmachungen mit befreundeten Völkern getroffen wegen Lebensmittellieferungen und hatten keine schnellen Provianttransporte an einzelnen Punkten ihres Reiseweges zu erwarten. Aber Gott war in der Mitte Seines Volkes. Er war da in Seiner ganzen Gnade und Barm­herzigkeit, in Seiner vollkommenen Kenntnis der Armut Seines Volkes und der Schwierigkeiten ihres Weges, in Seiner Allmacht und mit Seinen unbegrenzten Möglichkeiten, um diesen Schwierigkeiten und allen Nöten zu begegnen. Und so völlig kannte Er alle diese Dinge, daß Er am Ende ihrer langen Wüstenwanderung mit bewegenden Worten an ihre Herzen appellieren konnte: "Denn der HERR, dein Gott, hat dich gesegnet in allem Werke deiner Hand. Er kannte dein Ziehen durch diese große Wüste: diese vierzig Jahre ist der HERR, dein Gott, mit dir gewesen; es hat dir an nichts gemangelt." Und weiter: "Dein Kleid ist nicht an dir zerfallen, und dein Fuß ist nicht geschwollen diese vierzig Jahre." (5. Mose 2, 7; 8, 4)

 

Nun, das Lager Israels war ein Abbild, ein lebendiges, eindrucksvolles Abbild von der Kirche Gottes, wie sie durch diese Welt geht. Das sagt die Bibel so deutlich, daß für Einbildung oder Phantasie hier kein Raum bleibt: "Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist." (l. Kor. 10, 11)

 

Wir können also mit besonderem Interesse das erstaunliche Schauspiel in der Wüste betrachten und versuchen, die wertvollen Belehrungen zu sammeln, die es uns gibt. Sehen wir uns dieses rätselhafte Lager in der Wüste mit seinen Kriegern, Arbeitern und Anbetern an! Wie anders ist dieses Bild als das, das alle anderen Völker der Welt bieten! Welch gänzliche Hilflosigkeit! Welch völlige Abhängigkeit von Gott! Sie hatten nichts, konnten nichts unternehmen und wußten auch nichts. Sie hatten nicht einen Bissen Brot und keinen Tropfen Wasser, wenn sie nicht beides Tag für Tag unmittelbar aus Gottes Hand empfingen. Wenn sie sich abends zur Ruhe legten, war nicht die kleinste Kleinig­keit an Vorrat für den nächsten Tag vorhanden. Es gab keinen Speicher, keine Speisekammer, keine sichtbare Versorgungsquelle ‑ es gab gar nichts, auf das der Mensch natürlicherweise hätte irgendwie rechnen können.

 

Aber Gott war da, und das war für den, der glaubte, genug. Sie waren ganz auf Gott angewiesen. Das ist die große Tatsache. Für den Glauben ist nichts real, nichts fest und nichts wahr als nur der wahre, lebende, ewige Gott. Der natürliche Mensch mochte einen sehnsüchtigen Blick auf die Kornspeicher Ägyptens werfen und darin etwas Greif­bares, etwas Verläßliches sehen: der Glaube aber sieht hinauf zum Himmel und findet alle seine Quellen dort.

 

Und so ist es auch in bezug auf die Versammlung Gottes in dieser Welt, die im geistlichen Sinn eine Wüste genannt werden kann. Von Gott aus gesehen ist diese Gemeinde nicht von der Welt. Sie ist ebenso vollständig von ihr getrennt, wie das Lager Israels von Ägypten. Die Wasser des Roten Meeres flossen zwischen diesem Lager und Ägypten, und die noch tieferen und dunkleren Wasser des Todes Christi fließen zwischen der Kirche Gottes und der gegenwärtigen bösen Welt. Es ist unmöglich, sich eine vollständigere Trennung vorzustellen. Unser Herr Christus sagt: "Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin." (Joh. 17, 16)

 

Der nächste Punkt, der uns am Lager Israels auffällt, war, daß es völlig auf Gott angewiesen und von Ihm abhängig war. Nun, was könnte ab­hängiger sein als die Kirche Gottes in dieser Welt? Sie hat nichts in sich selbst und nichts aus sich selbst. Sie befindet sich mitten in einer geistlichen Wüste, einer traurigen Einöde, einer weiten, furchtbaren Wildnis, in der es buchstäblich nichts gibt, wovon sie leben kann. Es gibt in dem Bereich dieser Welt nicht einen Tropfen Wasser für sie, nicht einen einzigen Bissen geeigneter Nahrung.

 

Auch insofern, als die Kirche allen Arten feindlicher Einflüsse ausgesetzt ist, besteht eine Parallele zwischen ihr und dem Lager der Israeliten. Es gibt nicht einen einzigen günstigen Einfluß, alles ist gegen sie gerich­tet. Sie gleicht einer ausländischen Pflanze, die in ein anderes Klima gehört und in eine Gegend verpflanzt wurde, in der beides, Erdboden und Atmosphäre, ihr nicht entsprechen.

 

Das ist Gottes Kirche in der Welt, abgesondert, abhängig, wehrlos und völlig auf Gott angewiesen. Wir können wirklich sagen, daß das, was Israel buchstäblich war, die Kirche im geistlichen Sinn ist; und weiter, daß das, was die Wüste im buchstäblichen Sinn für Israel war, die Welt im geistlichen Sinn für die Kirche Gottes ist.

 

Die Wüste war für Israel der Schauplatz der Mühe und Gefahr, nicht aber der Bereich, aus dem ihm seine Hilfsquellen und seine Freude zuwuchsen; und so ist die Welt der Schauplatz der Mühe und Gefahr für die Kirche, sie birgt für sie weder Freude noch irgend etwas, was sie bedarf.

 

Es ist gut, wenn man das in seiner ganzen geistlichen Tragweite be­greift. Die Versammlung Gottes in der Welt ist wie die "Gemeinde in der Wüste" ganz und gar auf den lebendigen Gott angewiesen. Es sei noch einmal daran erinnert, daß es hier um den göttlichen Standpunkt geht, um das, was die Kirche, von Gott her gesehen, ist. Wenn wir sie von einem menschlichen Gesichtspunkt aus betrachten, so, wie sie in ihrem eigenen tatsächlichen praktischen Zustand ist, dann ist es leider ganz anders. Aber damit beschäftigen wir uns jetzt nicht.

 

Erinnern wir uns für einen Augenblick daran, daß es jetzt ebenso wirk­lich die Kirche Gottes, den Leib Christi gibt, wie es früher ein Lager in der Wüste gegeben hat, eine Versammlung in der Einöde. Zweifellos wußten damals die Völker der Welt wenig über jene Versammlung und kümmerten sich erst recht nicht darum; aber das veränderte die Tat­sache selbst nicht, und so ist es auch jetzt. Die Menschen dieser Welt wissen wenig über die Versammlung Gottes und rechnen ganz gewiß nicht mit ihr; aber das berührt in keiner Weise die große Wahrheit, daß sie tatsächlich in dieser Welt ist und immer war seit der Heilige Geist am Pfingsttag auf die Erde herabkam. Wohl hatte früher jene Gemeinde in der Wüste ihre Prüfungen, ihre Konflikte, ihre internen Erschütte­rungen und ihre zahl‑ und namenlosen Schwierigkeiten, die nach all den Hilfsquellen riefen, die in Gott waren.

 

Aber trotz der Sünde und der Rebellion gab es dort immer noch diesen auffallenden Tatbestand, der von Menschen, von Teufeln und von Engeln zur Kenntnis genommen werden konnte: nämlich die ungeheuer große Gemeinde von ungefähr drei Millionen Menschen, die durch die Wildnis wanderte, völlig abhängig von einem unsichtbaren Arm, ge­führt und versorgt von dem ewigen Gott, dessen Auge sich niemals für einen Augenblick von ihnen wandte. ja gewiß, Er wohnte mitten unter ihnen und in all ihrem Unglauben, ihrer Vergeßlichkeit, ihrer Undank­barkeit und Aufsässigkeit verließ Er sie doch niemals. Gott war da, um sie Tag und Nacht zu versorgen und zu leiten. Tag für Tag gab Er ihnen Brot vom Himmel, und Er ließ ihnen Wasser aus dem Kieselfel­sen fließen.

 

Das war gewiß eine erstaunliche Tatsache. Gott hatte eine Gemeinde in der Wüste, die von allen Völkern um sie herum getrennt und auf Ihn selbst angewiesen war. Es kann, wie gesagt, sein, daß die Völker der Welt über diese Gemeinde nichts wußten, sich nicht darum kümmerten und sich auch keinerlei Gedanken um sie machten.

 

Und das war, wie gesagt, ein Abbild ‑ ein Abbild von etwas, das bereits seit über neunzehnhundert Jahren besteht, das noch besteht und das bestehen wird, bis unser Herr Christus wiederkommt; es war ein Abbild der Kirche Gottes in der Welt. Wie wichtig ist es, das zu be­achten! Wie sehr hat man es aus den Augen verloren und wie wenig verstanden, auch jetzt noch! Und doch ist jeder Christ in ernster Weise verantwortlich dafür, daß er es erkennt und auch praktisch danach handelt; er kann dieser Verantwortung nicht entgehen. Es gibt eine Gemeinde, die durch diese Welt zieht wie früher Israel durch die Wüste gezogen ist. Und ebenso, wie Israel in der Wüste keine Quellen fand, sollte die Kirche Gottes keine Quellen finden in der Welt. Wenn sie es doch tut, ist sie nicht treu ihrem Herrn gegenüber.

 

Wenn wir das alles wirklich begreifen, dann wird es uns auch auf den Platz völliger Absonderung hinweisen, der der Kirche Gottes als einem Ganzen sowie jedem ihrer einzelnen Glieder zukommt. Die Kirche, so wie Gott sie sieht, ist ebensosehr von dieser gegenwärtigen Welt ge­trennt, wie es das Lager Israels von der es umgebenden Wüste war. Es gibt ebensowenig Gemeinsames zwischen der Kirche und der Wüste wie zwischen Israel und dem Sand der Wüste. Die Attraktionen und Reize der Welt sind für die Kirche Gottes das, was die Schlangen und Skor­pionen und die tausend anderen Gefahren der Wildnis für Israel waren.

 

So sieht Gottes Bild von der Kirche aus. Wir wollen uns jetzt im. Glauben auf Gottes Standpunkt stellen und von dort aus die Kirche betrachten. Nur so können wir eine richtige Vorstellung dessen, was die Kirche ist, erhalten ‑ und auch eine richtige Vorstellung unserer eigenen persönlichen Verantwortung im Hinblick darauf. Gott hat eine Kirche in der Welt. Es gibt gegenwärtig auf der Erde einen Leib, in dem Gott der Heilige Geist wohnt und der mit seinem Haupt, Christus, vereinigt ist. Die Kirche ‑ dieser Leib ‑ besteht aus all denen, die wirklich an den Sohn Gottes glauben und die durch die Gegenwart des Heiligen Geistes vereinigt sind. Das ist nicht eine Frage unserer Mei­nung, etwas, das wir nach Belieben annehmen oder ablehnen können. Es ist eine göttliche Tatsache ‑ ob wir uns danach richten wollen oder nicht. Die Kirche ist da, und wir sind, wenn wir glauben, Glieder davon. Das können wir weder umstoßen noch übergehen. Wir gehören wirklich dazu, wir sind durch den Heiligen Geist zu einem Leib getauft. Das ist etwas ebenso Wirkliches und Bestimmtes wie wenn ein Kind in eine Familie hineingeboren wird. Nach der Geburt ist die Verbindung her­gestellt, und wir müssen sie nur erkennen und dieser Verbindung entsprechend von Tag zu Tag leben. In demselben Augenblick, in dem eine Seele von neuem, von oben her geboren ist und versiegelt ist durch den Heiligen Geist, gehört sie zum Leib Christi. Sie kann sich nicht länger als isolierten und unabhängigen Einzelmenschen betrachten, sondern sie ist Glied eines Leibes, ebenso, wie Hand oder Fuß Glieder des menschlichen Körpers sind. Sie ist Glied der einen Kirche Gottes und kann nicht auch noch gleichzeitig Glied von irgend etwas anderem sein.

 

Wie aber wurde dieser Leib geschaffen? Durch den Heiligen Geist ‑denn: "In einem Geist sind wir alle zu einem Leibe getauft" (l. Kor. 12, 13). Und wie wird er erhalten? Durch Sein lebendiges Haupt, durch den Geist und durch das Wort. Wir lesen: "Niemand hat jemals sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er nährt und pflegt es, gleichwie auch der Christus die Versammlung" (Eph. 5, 29). Ist das nicht ausreichend? ist der Herr Jesus Christus nicht genug? Ist nicht der Heilige Geist genug? Wünschen wir noch irgend etwas, das über die Kraft hinaus­geht, die in dem Namen Jesus wohnt? Reichen nicht die Gaben des ewigen Geistes aus für das Wachstum und das Bestehen der Kirche? Bedeutet nicht die Anwesenheit Gottes, daß alles da ist, was die Kirche vielleicht benötigen könnte? Der Glaube sagt nachdrücklich und ganz entschieden: Ja! Der Unglaube und alle menschliche Vernunft sagen: Nein; wir brauchen noch sehr viel. ‑ Darauf können wir nur antworten: Wenn Gott nicht genug ist, dann wissen wir nicht, wohin wir uns wenden sollen; wenn der Name Jesus nicht ausreicht, dann wissen wir nicht, was wir tun sollen; wenn der Heilige Geist nicht allem, was wir in der Gemeinschaft, im Dienst und in der Anbetung brauchen, entge­genkommt, dann wissen wir nicht, was wir sagen sollen. Man könnte je­doch einwenden, daß die Dinge nicht mehr so liegen wie in der Zeit der Apostel. Die Kirche, die sich als solche bekennt, hat versagt; die Gaben von Pfingsten sind nicht mehr da; die glücklichen Tage der ersten Liebe der Kirche sind vorbei. Wir müssen also für die Organisation und das Bestehen unserer Kirchen das Beste, was in unseren Kräften steht, tun. ‑ Aber Gott hat nicht versagt; Christus, das Haupt der Kirche, hat nicht versagt; der Heilige Geist hat nicht versagt; und Gottes Wort ist nicht schwächer geworden. Das ist die zuverlässige Grundlage für den Glauben. "Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewig­keit" (Hebr. 13, a). Er hat gesagt; Ich bin bei euch. Wie lange? Während der Tage der ersten Liebe? In der Zeit der Apostel? Solange die Kirche treu sein würde? Nein! ‑ "Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung des Zeitalters" (Matth. 28, 20). Und schon vorher, in dem Augenblick, als Zum erstenmal in der ganzen Heiligen Schrift die Kirche als solche genannt wird, hören wir die denkwürdigen Worte: "Auf diesen Felsen (und wer sollte das anders sein als der Sohn des lebendigen Gottes?) will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen“ (Matth. 16, 18).

 

Die Frage ist jetzt: Gibt es diese Kirche gegenwärtig auf der Erde? Ganz gewiß! Es gibt ebenso gewiß jetzt eine Kirche auf der Erde wie es früher einmal ein Lager in der Wüste gab. ja ‑ und so gewiß Gott in diesem Lager war, um jedem Bedürfnis zu begegnen, so gewiß ist Er jetzt in der Kirche, um sie in allem zu regieren und zu leiten, wie wir es in Eph. 2, 22 lesen: ‑.. in welchem auch ihr mit aufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste". Das ist völlig genug. Alles, was wir brauchen, ist, im einfachen Glauben diese Wirklichkeit zu ergreifen. Der Name Jesu ist genug für alles, was die Kirche benötigt ‑ ebenso, wie er für die Errettung der Seele genug ist. Das eine ist so wahr wie das andere. "Wo zwei oder drei versammelt sind in (oder: zu) meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte" (Matth. 18, 20). Hat das aufgehört, wahr zu sein? Und wenn nicht ‑ ist nicht die Gegenwart Christi völlig ausreichend für Seine Kirche? Müssen wir uns in kirchlichen Dingen an unsere eigene Planung und unsere eigene Arbeit herangeben? Nicht mehr, als wir es mußten, als es um die Rettung unserer Seele ging! Dem Sünder sagen wir, er solle völlig Christus vertrauen ‑ und dasselbe sagen wir dem, der gerettet ist, und wir sagen dasselbe der Versamm­lung der Heiligen, ganz gleich, ob da wenige oder viele sind. Gibt es irgend etwas, was Er nicht kann? "Ist für den HERRN eine Sache zu wunderbar?" (l. Mose 18, 14) Sollte für Ihn etwas zu schwer sein? Ist Sein Schatz an Gaben und Gnaden erschöpft? Kann Er nicht Gaben für den Dienst geben? Kann Er nicht für Evangelisten, Hirten und Lehrer sorgen? Kann Er allen vielfältigen Bedürfnissen Seiner Kirche in der Wüste begegnen? Und wenn nicht ‑ wo sind wir dann? Was sollen wir tun? Wohin sollen wir uns wenden? Was mußte die Gemeinde Israel tun? Sie mußte auf den HERRN sehen ‑ und zwar in allem: wenn es um Speise ging, um Schutz ‑ in allem mußte sie auf den HERRN sehen. Alle ihre Quellen waren in Ihm. Und müssen wir uns noch an irgend jemand anders wenden? Niemals! Unser Herr, Christus, ist voll­kommen genug, trotz unseres Versagens und unseres Niedergangs, unserer Sünde und unserer Untreue. Er hat den Heiligen Geist, den Sachwalter, herniedergesandt, um bei Seinem Volk und in Seinem Volk zu bleiben, um sie zu einem Leib zu bilden und ihn mit dem lebendigen Haupt im Himmel zu vereinigen. Er ist die Kraft der Einheit, der Gemeinschaft, des Dienstes und der Anbetung. Er hat uns nicht ver­lassen und wird es niemals tun. Möchten wir Ihm nur vertrauen, Ihm Raum zum Handeln geben! Laßt uns sorgfältig auf der Hut sein vor allem, was Ihn auslöschen, hindern oder betrüben könnte! Laßt uns Ihn in dem Platz anerkennen, der Ihm in der Versammlung gebührt, und uns in allem Seiner Leitung und Autorität unterwerfen!

 

Ganz gewiß liegt hier das Geheimnis der Kraft und des Segens. Leug­nen wir damit den Verfall? ‑ Wie könnten wir! Er zeigt sich doch allzu handgreiflich und offen, um noch geleugnet werden zu können! Oder versuchen wir zu leugnen, daß wir an dem Niedergang teilhaben ‑versuchen wir, unsere Torheit und unsere Sünde zu leugnen? 0 wollte Gott, daß wir sie tiefer fühlten! Aber sollten wir unsere Sünde dadurch noch vergrößern, daß wir die Gnade und Macht unseres Herrn leugnen, die uns in unserem Niedergang und in unserer Torheit begegnen kann? Sollen wir Ihn, „den Born lebendigen Wassers", verlassen und uns löcherige Brunnen graben, die doch kein Wasser geben? Sollen wir uns von dem Fels der Ewigkeiten wegwenden und uns auf die zerbrochenen Halme unserer eigenen Vorstellungen stützen? Möge Gott uns davor bewahren! Die Sprache unserer Herzen, wenn wir an den Namen Jesus denken, sollte sein:

"Du bist uns alles: unsre Stärke,

Erlösung, Weisheit, Licht und Kraft ...

ja, was wir haben, was wir sind,

in Dir nur seinen Ursprung find“

 

Keinesfalls geht es hier darum, irgendeinem kirchlichen Anspruch die geringste Unterstützung zuteil werden zu lassen. Das wäre verachtens­wert. Uns stehen im Hinblick auf unsere gemeinsame Sünde und Schande ein sehr bescheidener Platz und ein demütiger Geist zu. Alles, worum es hier geht, ist dieses: die Allgenugsamkeit des Namens des Herrn Jesus Christus*) für alles, was die Kirche Gottes ‑ in welcher

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*) Wenn ich den Ausdruck Allgenugsamkeit des Namens des Herrn Jesus Christus" gebrauche, verstehe ich darunter alles, was Seinem Volk in diesem Namen zugesichert ist.‑ Leben, Gerechtigkeit, Annahme, die Gegenwart des Heiligen Geistes mit seinen verschiedenen Gaben, ein göttlicher Mittel- oder Sammelpunkt. Kurz gesagt: alles, was die Kirche für Zeit oder Ewigkeit benötigen könnte, ist in diesem einen herrlichen Namen des Herrn Jesus Christus einbegriffen.

 

Zeit und unter welchen Umständen auch immer ‑ benötigt. In den Zeiten der Apostel lag alle Kraft in diesem Namen ‑ warum nicht auch jetzt? Hat sich dieser herrliche Name irgendwie verändert? Gott sei Dank nicht. Nun, dann genügt er für uns, und es ist lediglich nötig, völlig auf ihn zu vertrauen und das zu zeigen, indem wir alles andere, worauf man vertrauen könnte, aufgeben und mit Entschiedenheit an­fangen, diesen unvergleichlichen und wertvollen Namen kennenzuler­nen. Er ‑ und dafür sei Ihm gedankt ‑ hat sich zur kleinsten Versamm­lung, in die kleinstmögliche Mehrzahl herabgeneigt, weil Er nämlich zugesichert hat: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich". Gilt das noch? oder hat es seine Kraft verloren? Paßt es nicht mehr? Wo ist es widerrufen worden?

 

Wollen wir doch von Herzen unsere Zustimmung zu dieser einen ewigen Wahrheit geben: daß der Name des Herrn Jesus Christus für die Versammlung Gottes völlig genug ist, und zwar in jeder Lage, in die sie kommen kann, und zu jeder Zeit. Es geht nicht darum, das nur für eine richtige oder wahre Theorie oder Lehre zu halten ‑ es geht darum, es auch praktisch zu bekennen. Dann erfährt man mit Sicherheit den tiefen Segen der Gegenwart Jesu, einen Segen, den man wirklich erfahren muß, um ihn zu kennen. Wer diesen Segen aber einmal er­fahren hat, der kann ihn nie mehr vergessen oder ihn für irgend etwas anderes aufgeben.

 

Wenden wir uns nach dieser langen Einführung wieder unserem Thema zu!

 

Wenn wir die "Versammlung in der Wüste" (Apg. 7, 38) aufmerksam betrachten, sehen wir, daß sie aus drei verschiedenen Gruppen bestand, nämlich aus Kriegern, Arbeitern und Anbetern. Es gab ein Volk von Kriegern, einen Stamm oder ein Geschlecht von Arbeitern und eine Familie von Anbetern oder Priestern. Wir haben auf die erste dieser Gruppen schon einen Blick geworfen und dabei gesehen, daß jeder einzelne seiner "Herkunft" gemäß seinen Platz bei seinem "Panier" ein­nahm, und zwar nach der genauen Anordnung des HERRN. jetzt wollen wir uns ein wenig die zweite Gruppe ansehen und jeden beobachten, wie er seine Arbeit und seinen Dienst tat ‑ ebenfalls gemäß der An­ordnung des HERRN.

 

Die Leviten waren aus allen anderen Stämmen herausgenommen und an einen besonderen Platz und zu einem besonderen Dienst berufen worden. So lesen wir von ihnen: "Aber die Leviten nach dem Stamme ihrer Väter... und die Leviten sollen den Dienst an der Wohnung des Zeugnisses verrichten" (4. Mose 1, 47. 53). Und weiter lesen wir: "Aber die Leviten wurden nicht unter den Kindern Israel gemustert, so wie der HERR dem Mose geboten hatte" (4. Mose 2, 33).

 

Warum gerade die Leviten? Warum war dieser Stamm vor allen ande­ren ausgezeichnet und für so einen heiligen und erhabenen Dienst ab­gesondert? Gab es in ihnen eine besondere Heiligkeit, etwas besonderes Gutes, woraus sich diese ihre Auszeichnung erklären ließe? Nein, weder in ihrer Natur noch in ihrem praktischen Leben lag der Vorzug begrün­det, wie Jakobs Worte beweisen: "Simeon und Levi sind Brüder, Werk­zeuge der Gewalttat ihre Waffen. Meine Seele komme nicht in ihren geheimen Rat, meine Ehre vereinige sich nicht mit ihrer Versammlung; denn in ihrem Zorn haben sie den Mann erschlagen und in ihrem Mut­willen den Stier gelähmt. Verflucht sei ihr Zorn, denn er war gewalt­tätig, und ihr Grimm, denn er war grausam! Ich werde sie verteilen in Jakob und sie zerstreuen in Israel" (i. Mose 49, 5‑7).

 

So also lebte Levi, so war er seiner Natur nach: eigenwillig, hitzig und grausam. Wie bemerkenswert ist es, daß so jemand ausgewählt werden und einen so hohen, heiligen und bevorzugten Platz erhalten sollte! Wir können sagen, daß es von Anfang bis Ende Gnade war. Die Gnade nimmt sich der allerschlimmsten Fälle an. Sie steigt in die tiefsten Abgründe hinab und erzielt dort ihre strahlendsten Triumphe. Paulus sagt: "Das Wort ist gewiß und aller Annahme wert, daß Christus Jesus in die Welt gekommen ist, Sünder zu erretten, von welchen ich der erste bin" (l. Tim. 1, 15). "Mir, dem allergeringsten von allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden, unter den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen" (Eph. 3, 8).

 

Aber wie beeindruckend ist diese Sprache: "Meine Seele komme nicht in ihren geheimen Rat, meine Ehre vereinige sich nicht mit ihrer Ver­sammlung"! Gottes Augen sind so rein, daß sie Böses nicht ansehen können, und Unheil vermag Er nicht anzuschauen (Hab. 1, 13). Gott konnte nicht in Levis geheimen Rat kommen und sich nicht mit seiner Versammlung vereinigen; das war unmöglich, denn Gott kann mit Eigenwillen, Gewalttat und Grausamkeit nichts zu tun haben. Wohl aber konnte Er Levi in Seinen geheimen Rat bringen und ihn mit Seiner Versammlung vereinigen. Er konnte ihn aus seiner Wohnung, in der die Werkzeuge der Grausamkeit lagen, herausnehmen und ihn ins Heiligtum bringen, wo er sich mit den heiligen Instrumenten und Ge­fäßen beschäftigen sollte. Das war freie, unumschränkte Gnade, und diese Gnade war die Grundlage von Levis gesegnetem und erhabenem Dienst. Soweit es Levi selbst als Person anging, war da ein unermeß­licher Abstand zwischen ihm und einem heiligen Gott ‑ eine Kluft, die keine menschliche Kunst oder Kraft überbrücken konnte. Aber wenn ein heiliger Gott auch nichts mit Sünde zu tun haben konnte ‑ ein Gott der Gnade konnte sich mit Levi beschäftigen. Er konnte in unum­schränkter Barmherzigkeit ein solches Geschöpf aus den Tiefen seiner moralischen Erniedrigung herausheben und ihm einen Platz in Seiner Nähe geben. Welch ein wunderbarer Gegensatz zwischen Levis Stellung nach der Natur und nach der Gnade, zwischen den Werkzeugen der Grausamkeit und den Gefäßen des Heiligtums zwischen Levi in 1. Mose 34 und Levi in 4. Mose 3 und 4!

 

Sehen wir uns jetzt Gottes Handlungsweise mit Levi an und den Grund, warum er auf einen solchen Platz des Segens geführt worden war! Dazu müssen wir das achte Kapitel unseres Buches hinzuziehen; dort erkennen wir das Geheimnis des Ganzen. Wir werden dort sehen, daß gar nichts von dem, was Levi gehörte, anerkannt und daß nicht einer seiner Wege gutgeheißen wurde. Und doch finden wir dort die vollkommene Entfaltung der Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht. Dabei geht es nicht darum, wie weit die Leviten diese Dinge durch­schauten. Wir wollen hier nicht fragen, was die Leviten in Gottes Handlungsweise sahen, sondern: Was lernen wir daraus?

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Nimm die Leviten aus der Mitte der Kinder Israel und reinigte sie. Und also sollst du mit ihnen tun, um sie zu reinigen: Sprenge Entsündigungswasser auf sie, und sie sollen das Schermesser über ihr ganzes Fleisch gehen lassen und ihre Kleider waschen und sich reinigen" (4. Mose 8, 5‑7).

 

Wir finden hier den göttlichen Grundsatz der Reinigung sinnbildlich dargestellt. Es ist die Anerkennung des Todes der Natur und aller ihrer Gewohnheiten; es ist das Wort Gottes, das in lebendiger Weise auf Herz und Gewissen wirkt. Daß es in dem eben zitierten Abschnitt eine doppelte Handlung ist, ist besonders eindrucksvoll. Mose mußte Reinigungswasser auf sie sprengen, und sie mußten dann alles Haar scheren und ihre Kleider waschen. Das ist sehr eindeutig und von großer Schönheit. Mose, der die Ansprüche Gottes vertritt, reinigt die Leviten dieser Ansprüche gemäß. Dann, wenn sie gereinigt sind, können sie das scharfe Schermesser über alles gehen lassen, was lediglich ihrer Natur entwachsen ist; und sie können ihre Kleider waschen, was sinn­bildlich ausdrückt, daß sie ihre Gewohnheiten dem Wort Gottes ent­sprechend reinigen. Das war Gottes Weg, all dem zu begegnen, was zu Levis Natur gehörte: dem Eigenwillen, der Gewalttätigkeit und der Grausamkeit. Das reine Wasser und das scharfe Schermesser mußten ihr Werk getan haben, bevor Levi tauglich war, in die Nähe der Gefäße des Heiligtums zu kommen.

 

Die Natur hat bei Gottes Arbeitern keinen Platz. Niemals gab es einen verhängnisvolleren Fehler als den, zu versuchen, die menschliche Natur in den Dienst Gottes zu stellen. Es macht nichts aus, wie man sich bemühen mag, sie zu bessern oder zu regulieren; nicht Verbesserung, sondern nur Tod kann hier helfen. Es ist äußerst wichtig, diese große, sehr praktische Wahrheit klar und nachdrücklich zu erfassen. Der Mensch ist gewogen und zu leicht befunden worden. Es bringt keinerlei Nutzen, etwas verbessern zu wollen. Gott hat die Geschichte des Men­schen abgeschlossen, hat sie im Tod Christi an ein Ende gebracht. Die erste große Tatsache, die der Heilige Geist in das Gewissen eines Menschen eingräbt, ist die, daß Gott Sein Urteil über die menschliche Natur ausgesprochen hat und daß jeder dieses Urteil über sich selbst persönlich annehmen muß. Das ist nicht eine Sache der Meinung oder des Gefühls. Es mag jemand sagen: Ich sehe nicht ein oder ich fühle nicht, daß ich so schlecht bin, wie du zu glauben scheinst. Aber das berührt die Frage nicht im geringsten. Gott hat Sein Urteil über uns bekanntgemacht, und es ist die erste Pflicht eines Menschen, dem zu­zustimmen und sich darunter zu beugen. Was hätte es Levi genützt, wenn er gesagt hätte, er sei mit dem, was Gottes Wort über ihn gesagt hatte, nicht einverstanden? Hätte das irgend etwas verändert? Nein, der Ausspruch Gottes blieb der gleiche, ob Levi es fühlte oder nicht; aber offenbar war es der erste Schritt auf dem Weg der Weisheit, sich unter dieses Urteil zu beugen.

 

Alles das ist sinnbildlich in dem "Wasser" und dem "Schermesser" ausgedrückt. Diese Handlungen erläutern die ernste Wahrheit des Todesurteils über die menschliche Natur und die Durchführung des Urteils über alles, was die Natur hervorbringt.

 

Was ist die Bedeutung der ersten Einführungshandlung des Christen­tums, der Taufe? Weist sie nicht auf die herrliche Tatsache hin, daß "unser alter Mensch" ‑ die gefallene Natur ‑ völlig beiseite getan ist und daß wir jetzt in eine völlig neue Stellung gebracht sind? Und was hat es für uns mit dem Schermesser auf sich? Wir wenden es gewisser­maßen an bei strengem, täglichem Selbstgericht und ernster Verurtei­lung alles dessen, was der menschlichen Natur entspringt. Das ist not­wendig für alle Arbeiter Gottes in der Wüste.

 

wir sind genau in dein Maße für Gottes Werk tauglich, wie unsere Natur unter der Kraft des Kreuzes und dem scharfen Schermesser des Selbstgerichts steht. Niemals kann Eigenwille im Dienst Gottes nütz­lich sein; er muß beseitigt sein, wenn wir wissen Wollen, was wirklicher Dienst ist. Gerade in dieser Hinsicht können wir uns gar nicht scharf genug beurteilen. Unser Herz ist so arglistig, daß wir uns sogar ein­bilden können, daß wir des Herrn Werk tun, während wir in Wirklich­keit nur uns selbst gefallen. Aber wenn wir wirklich den Weg wahren Dienstes gehen wollen, müssen wir bestrebt sein, der Natur mehr und mehr zu entsagen.

 

Bevor wir nun das Werk und den Dienst der Leviten im einzelnen betrachten, müssen wir uns erst ein Ereignis in 2. Mose 32 ansehen, bei dem die Leviten eine bemerkenswerte Rolle spielen. Es geht um das goldene Kalb. Während Moses Abwesenheit verlor das Volk Gott und Seine Rechte so vollständig aus den Augen, daß es sich ein goldenes Kalb aufstellte und sich vor ihm niederbeugte. Diese schreckliche Tat verlangte ein schnelles Gericht. "Und Mose sah das Volk, daß es zügel­los war; denn Aaron hatte es zügellos gemacht, zum Gespött unter ihren Widersachern. Und Mose stellte sich auf im Tore des Lagers und sprach: Her zu mir, wer für den HERRN ist! Und es versammelten sich zu ihm alle Söhne Levis. Und er sprach zu ihnen: Also spricht der HERR, der Gott Israels: Leget ein jeder sein Schwert an seine Hüfte, gehet hin wieder von Tor zu Tor im Lager, und erschlaget ein jeder seinen Bruder und ein jeder seinen Freund und ein jeder seinen Nachbar. Und die Söhne Levis taten nach dein Worte Moses; und es fielen von. dem Volke an selbigem Tage bei dreitausend Mann. Und Mose sprach: "Weihet euch heute dem HERRN, ja, ein jeder in seinem Sohne und in seinem Bruder, um heute Segen auf euch zu bringen" (2. Mose 32, 25‑29).

 

Das war ein Augenblick, der von allen eine Entscheidung verlangte. Wie konnte es auch anders sein, da doch diese große Frage vor Herz und Gewissen stand: Wer steht auf der Seite des HERRN? Die Frage war nicht: Wer ist bereit zu arbeiten? Nein, Sie ging tiefer. Sie hieß auch nicht‑. Wer will hierhin oder dorthin gehen und dies oder das tun? Man kann sehr geschäftig sein und doch immerzu lediglich von einem ungebrochenen Willen dazu getrieben sein, der, da er sich der religiösen Veranlagung bedient, den Eindruck der Ergebenheit und Frömmigkeit erweckt. Auf des HERRN Seite zu stehen aber schließt die Übergabe des eigenen Willens ein, ja, die Übergabe seiner selbst (der ganzen Person). Das ist die Hauptsache für den wahren Diener und den wirk­lichen Arbeiter. Saulus von Tarsus war so weit gekommen, als er aus­rief: Herr, was willst du, daß ich tun soll? ‑ Was für Worte aus dem Mund des eigenwilligen, grausamen Verfolgers der Kirche Gottes!

 

"Wer ist für den HERRN?" Stehen wir auf Seiner Seite? Prüfen wir uns doch sehr genau! Denken wir daran, daß es keineswegs heißt "Was tust du?" Nein, die Frage geht tiefer. Wer auf der Seite des Herrn steht, ist zu allem bereit, was Er ihm aufträgt. Der entscheidende Punkt ist, daß man sich selbst den Ansprüchen eines anderen übergibt, und dieser andere ist der Herr Jesus Christus. Es gibt gegenwärtig wohl nichts Wichtigeres als diese eindringliche Frage: "Wer ist auf der Seite des Herrn?" Wir leben in einer Zeit, in der der eigene Wille eine große Rolle spielt und man sich seiner Freiheit freut. Und das wirkt sich sehr stark aus in Fragen der Religion, und zwar in gleicher Weise wie im Lager Israels in den Tagen des goldenen Kalbes. Mose war nicht zu sehen, und der menschliche Wille unternahm etwas ‑ und was war das Ergebnis? Das gegossene Kalb. Als Mose zurückkam, fand er das Volk, wie es ein Bild verehrte und zügellos war. In diesem Augenblick wurde die ernste und prüfende Frage gestellt: "Wer ist auf der Seite des HERRN?" Das führte zu einer Entscheidung oder besser: das stellte das Volk auf die Probe. ‑ jetzt ist es nicht anders. Der Wille des Menschen spielt eine immer größere Rolle, auch in Fragen der Religion. Man ist stolz auf seine Rechte, die Freiheit seines Willens, die Freiheit seines Urteils. Die Herrschaft Christi wird abgestritten. Wir müssen deshalb sehr aufmerksam sein und darauf achten, daß wir wirklich auf die Seite des Herrn treten ‑ gegen uns selbst, und daß wir uns ganz einfach Seiner Autorität unterwerfen. Dann werden wir uns nicht über Umfang oder Art unseres Dienstes Gedanken machen; sondern dann wird unser einziges Ziel dies sein: den Willen unseres Herrn zu tun.

 

Auf diese Weise unter der Herrschaft des Herrn zu arbeiten mag unserem Arbeitsbereich oft einen Eindruck der Enge geben; aber das ist gar nicht unsere Sache. Wenn ein Herr seinem Diener oder Sklaven sagt, er möge in einem Raum warten und sich nicht rühren, bis er die Klingel hört, dann hat der Sklave eben zu warten. Er hat sich inzwi­schen nicht etwas anderes zu suchen, auch dann nicht, wenn die anderen ihn wegen seiner offensichtlichen Untätigkeit und Nichtsnutzigkeit kritisieren sollten; er kann sicher sein, daß der Herr ihn rechtfertigen wird. Das ist genug für einen, der wirklich von Herzen Sklave Jesu Christi ist und der in erster Linie den Willen seines Herrn tun möchte und nicht irgend etwas Großes.

 

Die Frage an das Volk Israel, als das goldene Kalb da war, und die Frage an die Kirche Gottes jetzt, wo der Wille des Menschen eine so große Rolle spielt, ist also: "Wer steht auf der Seite des HERRN?" In dieser Frage liegt eine große Kraft für das praktische Leben. Wirklich auf des HERRN Seite zu stehen bedeutet, wie gesagt, zu allem bereit zu sein, wozu Er uns ruft, ganz gleich, was es sein mag. Nur dann, wenn wir in Wahrheit sagen können: "Herr, was willst du, das ich tun soll?" ‑ "Rede, Herr, denn dein Knecht hört!", nur dann sind wir für alles bereit. Die Leviten wurden hier gerufen, ein jeder seinen Bru­der, seinen Freund und seinen Nachbarn zu erschlagen. Das war für Fleisch und Blut ein schrecklicher Auftrag. Der Augenblick aber erfor­derte es. Gottes Rechte waren öffentlich und in krasser Weise verletzt worden, die Herrlichkeit Gottes war vertauscht worden mit dem Ab­bild eines Stieres, der Gras frißt. Alle, die auf der Seite des HERRN standen, wurden aufgerufen, ein Schwert umzugürten. Von Natur aus hätte man vielleicht lieber sagen mögen: "Nein; wir wollen sanft und ruhig und gütig sein. Durch Freundlichkeit werden wir mehr erreichen als durch Strenge. Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn man die Leute umbringt. Liebe hat viel mehr Kraft als Strenge. Laßt uns einander lieben!" ‑ Solche Überlegungen mochte die Natur eines Menschen anstellen, aber der Befehl lautete klar und bestimmt: "Leget ein jeder sein Schwert an seine Hüfte!" Als das goldene Kalb da war, gab es nichts anderes mehr als das Schwert. Man hätte die gerechten Ansprüche des Gottes Israels über Bord geworfen, wenn man in diesem Augenblick von Liebe geredet hätte. Zu einem Geist, der wirklich gehorsam ist, gehört, daß er genau den Dienst tut, der gerade verlangt wird. Ein Sklave hat nicht die Pflicht, zu diskutieren; er soll ganz ein­fach das tun, was man ihm gesagt hat. Wenn wir Fragen stellen oder Einwände erheben, bedeutet das, daß wir unseren Platz als Diener verlassen haben. Einen Bruder, einen Freund oder einen Nachbarn zu erschlagen mochte sehr schrecklich sein ‑ aber das Wort des HERRN duldete keinen Widerspruch. Es gestattete kein Ausweichen. Und die Leviten waren durch die Gnade bereitwillig gehorsam. "Die Söhne Levis taten nach dem Worte Moses".

 

Das ist der einzige Weg für die, die in dieser Welt, in der alles von Eigenwillen beherrscht ist, Gottes Arbeiter und Diener Christi sein wollen. Es ist sehr wichtig, daß die Wahrheit, daß Christus Herr ist, tief in unseren Herzen eingegraben ist. Wenn unser Herz wirklich der Autorität Christi unterworfen ist, sind wir zu allem bereit, wozu Er uns ruft. Dann geht es nicht mehr um die Frage "Was tue ich?" oder "Wohin gehe ich?", sondern einfach darum: "Tue ich den Willen mei­nes Herrn?"

 

Dies war der Boden, auf dem Levi stand. Es ist sehr beachtenswert, was Gott darüber in Maleachi sagt: "Und ihr werdet wissen, daß ich dieses Gebot an euch gesandt habe, damit mein Bund mit Levi sei, spricht der HERR der Heerscharen. Mein Bund mit ihm war das Leben und der Friede: und ich gab sie ihm zur Furcht, und er fürchtete mich, und er, er zitterte vor meinem Namen. Das Gesetz der Wahrheit war in seinem Munde, und Unrecht fand sich nicht auf seinen Lippen; er wandelte mit mir in Frieden und Geradheit, und viele brachte er von ihrer Ungerech­tigkeit zurück" (Mal. 2, 4‑6). Und beachten wir den Segen Moses: "Und zu Levi sprach er: Deine Thummim und deine Urim sind für deinen Frommen, den du versucht hast zu Massa, mit dem du hader­test bei dem Wasser von Meriba; der von seinem Vater und von seiner Mutter sprach: Ich sehe ihn nicht, und der seine Brüder nicht kannte und von seinen Söhnen nichts wußte. Denn sie haben dein Wort be­obachtet, und deinen Bund bewahrten sie. Sie werden Jakob lehren deine Rechte, und Israel dein Gesetz; sie werden Weihrauch legen vor deine Nase und Ganzopfer auf deinen Altar. Segne, HERR, sein Ver­mögen, und das Werk seiner Hände laß dir wohlgefallen; zerschmettere die Lenden derer, die sich wider ihn erheben, und seiner Hasser, daß sie nicht mehr aufstehen!" (5. Mose 33, 8‑11).

 

Es mochte unverantwortlich rauh und streng von Levi aussehen, daß er seine Eltern nicht sah und seine Brüder nicht kannte. Aber Gottes Ansprüche sind wichtiger. Unser Herr hat die ernsten Worte gespro­chen: "Wenn jemand zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter und sein Weib und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein" (Luk. 14, 26).

 

Diese klaren Worte zeigen uns das Geheimnis, das die Grundlage jedes wahren Dienstes ist. Das bedeutet natürlich nicht, daß ein Diener nicht natürliche Zuneigung kennt! Wenn das so wäre, dann bestünde in moralischer Hinsicht ja eine Verbindung zwischen einem Diener des Herrn und dem Abfall der letzten Zeit (vgl. 2. Tim. 3, 3)1 Aber wenn wir den Ansprüchen natürlicher Zuneigung erlauben, uns zu hindern, Christus von ganzem Herzen zu dienen, und wenn die angebliche Liebe zu den Brüdern einen höheren Platz einnimmt als Treue Christus gegen­über, dann taugen wir nicht für Seinen Dienst und sind nicht wert, Seine Diener zu heißen. Prägen wir uns gut ein, daß der moralische Grund für Levis Recht, im Dienst des Herrn zu stehen, eben die Tat­sache war, daß er seine Eltern nicht sah, seine Brüder nicht kannte und von seinen Kindern nichts wußte! Kurz gesagt: er konnte die Ansprüche der Natur völlig beiseite lassen und dafür den Ansprüchen des HERRN den höchsten Platz in seinem Herzen einräumen. Und das ist, um es noch einmal zu sagen, die einzige wahre Basis für den Dienst. Wahrer Dienst besteht nicht in großer Aktivität, sondern in vollkom­mener Unterwerfung unter den Willen unseres Herrn. Und wo das so ist, da ist man auch bereit, die Ansprüche von Eltern, Brüdern und Kindern fallen zu lassen, um den Willen dessen zu tun, den wir als Herrn anerkennen. Natürlich sollen wir unsere Eltern, unsere Brüder und unsere Kinder lieben ‑ aber mehr noch sollen wir Christus lieben. Er und Seine Ansprüche müssen immer den ersten Platz in unserem Herzen haben, wenn wir brauchbare Arbeiter für Gott sein wollen, wirkliche Diener Christi, wahre Leviten in der Wüste. Dabei wird das Band natürlicher Verwandtschaft mit all den Ansprüchen, Pflichten und Verantwortlichkeiten, die daraus erwachsen, bei denen, deren Herz, Geist und Gewissen unter der bestimmenden Kraft der Wahrheit Gottes stehen, immer den Platz und die Achtung erhalten, die ihm zu­stehen. Gar nichts außer dem, was wirklich Gott und Seinem Christus zusteht, darf die Rechte übergehen, die auf natürlicher Verwandtschaft beruhen. Diese Überlegung ist sehr notwendig und heilsam, und ich möchte sie besonders den jungen Lesern empfehlen.

 

Wir müssen uns wirklich sehr sicher sein, daß es nur die Ansprüche Gottes sind, die ganz direkt und einfach unser Verhalten bestimmen, wenn wir die Ansprüche natürlicher Verwandtschaft übergehen. Im Falle Levis war das sonnenklar. So gibt es auch für uns Augenblicke, in denen es offenbare Untreue gegen unseren Herrn Christus wäre, auch nur für ganz kurze Zeit auf die Stimme verwandtschaftlicher Beziehung zu hören.

 

Im folgenden wollen wir uns ganz kurz der Weihung der Leviten in 4. Mose 8 zuwenden. Es ist ein sehr aufschlußreiches Kapitel für alle, die Arbeiter für Gott sein möchten.

 

Nach den feierlichen Handlungen des Waschens und des Scherens, die wir bereits besprachen, lesen wir: "Und sie (d. h. die Leviten) sollen einen jungen Farren nehmen und sein Speisopfer: Feinmehl, gemengt mit öl; und einen anderen jungen Farren sollst du nehmen zum Sünd­opfer. Und du sollst die Leviten vor das Zelt der Zusammenkunft her­zutreten lassen und die ganze Gemeinde der Kinder Israel versammeln. Und du sollst die Leviten vor den HERRN herzutreten lassen, und die Kinder Israel sollen ihre Hände auf die Leviten legen. Und Aaron soll die Leviten als Webopfer von seiten der Kinder Israel vor dem HERRN weben, damit sie zum Verrichten des Dienstes des HERRN seien. Und die Leviten sollen ihre Hände auf den Kopf der Farren legen; und den einen sollst du als Sündopfer und den anderen als Brandopfer dem HERRN opfern, um für die Leviten Sühnung zu tun" (4. Mose 8, 8‑12).

 

In diesem Text werden uns im Bild die beiden großen Seiten des Todes Christi dargestellt ‑ die eine durch das Sündopfer, und die andere durch das Brandopfer. Wir wollen jetzt nicht die Einzelheiten dieser Opfer besprechen, denn das haben wir ja bereits in den ersten Kapiteln der "Gedanken zum dritten Buch Mose" versucht. Nur dies ist hier zu bemerken, daß wir im Sündopfer Christus sehen, wie er die Sünde in Seinem Leibe auf dem Holz getragen (s. 1. Petr. 2, 24) und den Zorn Gottes über die Sünde erduldet hat; im Brandopfer dagegen sehen wir Christus, wie Er Gott selbst da verherrlichte, als Er die Sühnung war für die Sünde. In beiden Opfern geht es um Sühnung: im ersten ist es Sühnung entsprechend der Tiefe dessen, was der Sünder bedarf; im zweiten ist es Sühnung nach dem Maß der Ergebenheit Christi Gott gegenüber. In dem einen sehen wir, wie hassenswürdig Sünde ist, in dem andern sehen wir die Kostbarkeit Christi. Es geht dabei ‑ was wohl kaum noch gesagt werden muß ‑ um den einen Sühnungstod Christi, dargestellt von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus.

 

Nun, die Leviten legten ihre Hände sowohl auf das Sündopfer als auch auf das Brandopfer. Diese Handlung des Handauflegens drückt aus, daß man sich mit etwas eins macht. Aber wie verschieden ist das Ergebnis in diesen beiden Fällen! Wenn Levi seine Hand auf das Sündopfer legte, dann bedeutete das, daß alle seine Sünden, seine Schuld, seine Wild­heit, Grausamkeit und Eigenwilligkeit auf das Opfer übergingen; wenn er andererseits aber seine Hand auf das Brandopfer legte, dann be­deutete es, daß die ganze Wohlannehmlichkeit des Opfers und all seine Vollkommenheit auf Levi übergingen. Das, was wir daraus lernen kön­nen, ist auch in der so wichtigen Stelle am Ende von 2. Kor. 5 enthal­ten: "Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, auf daß wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm."

 

"Und so sollst du die Leviten vor Aaron und vor seine Söhne stellen und sie dem HERRN als Webopfer weben; und du sollst die Leviten aus der Mitte der Kinder Israel aussondern, daß die Leviten mir ge­hören. Und danach sollen die Leviten kommen, um das Zelt der Zu­sammenkunft zu bedienen. So sollst du sie reinigen und sie als Web­opfer weben. Denn sie sind mir ganz zu eigen gegeben aus der Mitte der Kinder Israel; anstatt alles dessen, was die Mutter bricht, anstatt jedes Erstgeborenen aus den Kindern Israel habe ich sie mir genom­men. Denn mein ist alles Erstgeborene unter den Kindern Israel an Menschen und an Vieh. An dem Tage, da ich alle Erstgeburt im Lande Ägypten schlug, habe ich sie mir geheiligt. Und ich habe die Leviten genommen anstatt aller Erstgeborenen unter den Kindern Israel; und ich habe die Leviten dem Aaron und seinen Söhnen als Gabe aus der Mitte der Kinder Israel gegeben, um den Dienst der Kinder Israel am Zelte der Zusammenkunft zu verrichten und um für die Kinder Israel Sühnung zu tun, damit unter den Kindern Israel keine Plage dadurch entstehe, daß die Kinder Israel dem Heiligtum nahen. Und Mose und Aaron und die ganze Gemeinde der Kinder Israel taten so mit den Leviten; nach allem, was der HERR geboten hatte wegen der Leviten, also taten die Kinder Israel mit ihnen" (4. Mose 8, 13‑20)‑

 

Wie sehr erinnern diese Zeilen an die Worte unseres Herrn in Jo­hannes 17! "Ich habe deinen Namen geoffenbart den Menschen, die du mir aus der Welt gegeben hast. Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt ... Ich bitte für sie; mit für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast, denn sie sind dein; und alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, mein; und ich bin in ihnen verherrlicht" (V. 6‑10).

 

Die Leviten bildeten ein abgesondertes Volk, sie waren Gottes beson­deres Eigentum. Sie nahmen den Platz aller Erstgeborenen in Israel ein, derer, die durch das Blut des Lammes vom Schwert des Würgeengels gerettet worden waren. Sie waren, bildlich gesprochen, ein totes und auferstandenes, für Gott abgesondertes Volk, das Er, Gott, als ein Geschenk dem Hohenpriester Aaron gab, damit es den Dienst im Zelte verrichtete.

 

Was für ein Platz war das für den eigenwilligen, heftigen und grau­samen Levi! Was für ein Sieg der Gnade! Was für ein lebendiges Bild von der Wirksamkeit des Sühnungsblutes und des Wassers der Reini­gung! Von Natur aus und in ihrem ganzen Leben waren die Leviten weit weg von Gott gewesen; aber das Blut des Sühnopfers, das Wasser der Reinigung und des Schermesser des Selbstgerichts hatten ihr Werk getan, und deshalb konnten die Leviten als ein Geschenk Aaron und seinen Söhnen gegeben werden, um mit ihnen zusammen den heiligen Dienst am Zelt der Zusammenkunft zu tun.

 

In allen diesen Dingen sind die Leviten ein treffendes Bild von Gottes Volk heute. Diejenigen, die dazu gehören, sind aus den Tiefen ihrer Erniedrigung und ihres Verderbens als Sünder herausgenommen worden. Sie sind gewaschen in dem kostbaren Blut Christi, gereinigt dadurch, daß sie Gottes Wort auf sich anwendeten, und berufen, an­dauernd ein strenges Selbstgericht zu üben. Auf diese Weise sind sie befähigt für den heiligen Dienst, zu dem sie berufen sind. Gott hat sie Seinem Sohn gegeben, damit sie Seine Arbeiter in dieser Welt seien. "Dein waren sie, und mir hast du sie gegeben.‑ Wunderbarer Gedanke, daß von solchen, wie wir sind, so etwas gesagt werden kann! Zu den­ken, daß wir Gottes Eigentum und Gottes Geschenk für Seinen Sohn sind! ja, es übersteigt alles menschliche Denken. Wir sind nicht nur von der Hölle errettet ‑ und es ist wahr, daß wir das sind ‑, wir haben nicht nur Vergebung erlangt, sind gerechtfertigt und angenom­men ‑ auch das ist wahr ‑, sondern wir sind zu dem hohen und hei­ligen Werk berufen, durch diese Welt den Namen, das Zeugnis, die Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus zu tragen. Das ist unsere Aufgabe als wahre Leviten. Als Kriegsleute sind wir zum Kampf beru­fen; als Priester dürfen wir anbeten; als Leviten aber sind wir verant­wortlich zu dienen, und dieser unser Dienst besteht darin, durch diese dürre wüste Welt das Gegenbild des Zeltes der Zusammenkunft zu tragen. Das Zelt der Zusammenkunft war ein Bild Christi. Das ist unsere klare Richtlinie für den Dienst, und dazu sind wir berufen und abgesondert.

 

Es ist interessant, daß wir nur hier im 4. Buch Mose alle die wunder­vollen und sehr lehrreichen Einzelheiten über die Leviten erfahren. Das weist noch einmal auf die Eigenart dieses Buches hin. Vom Wüsten‑Standpunkt aus gewinnen wir eine umfassende und richtige Sicht sowohl von den Arbeitern als auch von den Kriegern Gottes.

 

Wir wollen uns jetzt dem Dienst der Leviten zuwenden, wie er im einzelnen in 4. Mose 3 und 4 beschrieben wird. "Und der HERR redete zu Mose und sprach: Laß den Stamm Levi herzunahen und stelle ihn vor Aaron, den Priester, daß sie ihm dienen; und sie sollen seiner Hut warten und der Hut der Kinder Israel, um den Dienst der Wohnung zu verrichten. Und du sollst die Leviten dem Aaron und seinen Söhnen geben; ganz zu eigen sind sie ihm gegeben von seiten der Kinder Israel" (4. Mose 3, 5‑9).

 

Die Leviten stellten die ganze Gemeinde Israel dar und handelten in ihrem Namen. Das geht aus der Tatsache hervor, daß die Kinder Israel ihre Hände auf die Leviten legten, ebenso, wie die Leviten ihre Hände auf die Opfertiere legten (s. Kap. 8, 10). Diese Handlung des Hände­auflegens drückte Einsmachung aus, und deshalb können wir sagen, daß die Leviten das ganze Volk Gottes in der Wüste darstellen, und zwar unter einem besonderen Gesichtspunkt: sie zeigen uns das Volk als eine Gruppe eifriger Arbeiter ‑ und, was zu beachten ist, nicht etwa als Arbeiter ohne bestimmten Plan, die hin und her rennen und von denen jeder das tut, was er für richtig hält. Nichts dergleichen! Wenn die Kriegsleute ihre Abstammung nachweisen mußten und sich um ihr Banner zu sammeln hatten, so hatten sich auch die Leviten um ihren Mittelpunkt zu scharen und die ihnen zugewiesene Arbeit zu tun. Alles war klar, deutlich und bestimmt, von Gott angeordnet und unter der unmittelbaren Autorität und Leitung des Hohenpriesters.

 

Für alle, die wahre Leviten sein wollen, ist es notwendig, das ernsthaft zu erwägen. Der Dienst eines Leviten sollte durch die Anordnung des Priesters geregelt werden. Dieser Dienst ließ dem eigenen Willen ebensowenig Raum wie die Stellung eines Kriegers. Alles war von Gott geregelt. Für jemanden, dessen Wille ungebrochen war, mag es eine große Anstrengung und Unterdrückung und eine sehr ermüdende Aufgabe gewesen sein, immer dasselbe tun zu müssen. Er mag nach etwas Neuem ausgeschaut haben, nach ein wenig Abwechslung in seiner Arbeit. Der aber, dessen Wille Gott unterworfen war, konnte sagen: Mein Weg ist völlig geebnet, ich habe nur zu gehorchen. ‑Und das gerade ist die Aufgabe eines wahren Dieners. In ganz beson­derem Mag traf das für Ihn zu, der der einzige vollkommene Diener war, der jemals über diese Erde ging. Er konnte sagen: "Ich bin vom Himmel herniedergekommen, nicht auf daß ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat" (Joh. 6, 30). Und ein anderes Mal: "Meine Speise ist, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe" (Joh. 4, 34).

 

Aber noch eine andere Tatsache hinsichtlich der Leviten ist beachtens­wert: ihr Dienst bezog sich ausschließlich auf das Zelt und das, was dazu gehörte. Außerhalb dieses Bereiches hatten sie nichts zu tun. Wenn ein Levit erwogen hätte, an irgendeiner anderen Tätigkeit mitzuarbeiten, dann hätte er damit seine Berufung verleugnet, das ihm von Gott angewiesene Werk verlassen und den Anordnungen Gottes widerstanden.

 

Genauso verhält es sich heute mit den Christen. Ihre einzige Pflicht, ihre einzige Arbeit und ihr ausschließlicher Dienst bezieht sich auf Christus. Es geht nur um Ihn und das, was Ihm gehört. Nichts sonst haben sie zu tun. Wenn ein Christ erwägt, irgend etwas anderes zu tun, verleugnet er damit seine Berufung. Ein wirklicher Levit konnte sagen: "Für mich ist das Zelt der Zusammenkunft mein Leben", und ein wirklicher Christ kann jetzt sagen: "Das Leben ist für mich Christus" (Phil. 1, 21). In allem, was einem Christen begegnet, heißt die entscheidende Frage für ihn: "Kann ich das mit Christus in Ver­bindung bringen?" Denn wenn dies nicht möglich ist, habe ich mit der betreffenden Angelegenheit gar nichts zu tun.

 

Es handelt sich also einfach darum, ob und wie weit etwas den Namen und die Ehre Christi berührt. Das vereinfacht alles sehr; es beantwor­tet tausend Fragen, löst tausend Schwierigkeiten und macht den Weg eines ernsten Christen völlig klar. Ein Levit hatte, was seine Arbeit an­ging, keinerlei Schwierigkeiten. Es war alles für ihn göttlich genau bestimmt. Die Last, die jeder zu tragen, und das Werk, das jeder zu tun hatte, waren so klar bezeichnet, daß für zweifelnde Fragen des Herzens kein Raum blieb. Jeder konnte seine Arbeit kennen und tun, Jeder entsprach gewissenhaft seiner eigenen Berufung.

 

Es ist gut, sich das einzuprägen. Wir sind als Christen geneigt, in die Angelegenheiten eines anderen überzugreifen, und wir tun es ganz gewiß, wenn nicht jeder seiner eigenen, ihm von Gott vorgezeichneten Arbeit nachkommt. Es ist wichtig, daß sie wirklich von Gott vorge­zeichnet ist, denn wir haben kein Recht, uns unsere eigene Arbeit zu suchen. Wenn der Herr den einen zum Evangelisten, den anderen zum Lehrer, einen dritten zum Hirten und den vierten zu einem Ermahner gesetzt hat, dann ist die Arbeit sicher nicht so auszuführen, daß der Evangelist zu lehren versucht und der Lehrer zu ermahnen oder daß jemand, der zu keinem von beidem befähigt ist, beides zu tun versucht. Nein, sondern die Arbeit wird getan, indem jeder die ihm von Gott verliehene Gabe gebraucht. Zweifellos kann es auch dem Herrn gefal­len, jemanden mit mehreren Gaben auszurüsten. Aber das berührt überhaupt nicht den Grundsatz, um den es hier geht. Dieser Grund­satz besteht einfach darin, daß jeder von uns verantwortlich ist, seinen eigenen besonderen Weg zu erkennen und zu gehen. Größter Schaden wird der Sache Christi zugefügt und dem Werk Gottes in der Welt, wenn jemand den Weg eines anderen gehen will oder versucht, die Gabe eines anderen nachzuahmen. Das ist ein Fehler, vor dem ich jeden warnen möchte. Außerdem sind derartige Bemühungen völlig sinnlos, denn Gott wiederholt sich niemals. Nicht zwei Gesichter sind einander völlig gleich, ebenso wenig zwei Blätter in einem Wald oder zwei Grashalme. Warum sollte dann jemand es auf die Arbeit eines anderen absehen oder so tun, als habe er genau die Gabe, die ein anderer hat? Jeder mag zufrieden sein, wenn er gerade das ist, zu dem sein Meister ihn gemacht hat. Das ist das Geheimnis wahren Friedens und wirklichen Fortschritts.

 

Alles das veranschaulicht uns der von Gott eingegebene Bericht über den Dienst der drei verschiedenen Gruppen unter den Leviten, der Gersoniter, der Merariter und der Kehathiter.

 

"Und der HERR redete zu Mose in der Wüste Sinai und sprach: Muste­re die Söhne Levis ... und seine Seile zu all seinem Dienst" (4. Mose 3, 14‑26). Und später lesen wir: "Der HERR redete zu Mose und sprach: Nimm auch die Summe der Söhne Gersons auf ... und ihre Hut sei unter der Hand Ithamars, des Sohnes Aarons, des Priesters" (4. Mose 4, 21‑28).

 

Gerson und sein Bruder Merari sollten das Zelt der Zusammenkunft tragen, während Kehath zum Tragen des Heiligtums berufen war, wie wir in Kapitel 10 lesen: "Und die Wohnung wurde abgenommen, und es brachen auf die Söhne Gersons und die Söhne Meraris, welche die Wohnung trugen. . . Und die Kehathiter brachen auf, welche das Heiligtum trugen; und jene richteten die Wohnung auf, bis diese kamen" (Vers 17 und 21.). Gerson und Merari waren in ihrem Dienst durch ein festes geistiges Band verbunden, obwohl sie völlig verschie­dene Arbeiten zu tun hatten. Wir sehen es in Kapitel 4, 29‑33: "Die Söhne Meraris ‑ nach ihren Familien, unter der Hand Ithamars, des Sohnes Aarons, des Priesters."

 

Alles dies war klar und deutlich. Gerson hatte nichts mit den Brettern und Pflöcken zu tun und Merari nichts mit den Vorhängen und Decken. Und doch waren sie sehr eng verbunden, denn sie waren voneinander abhängig. Die Säulen und Füße hätten nichts genützt ohne die Vor­hänge und die Vorhänge nichts ohne die Säulen und Füße. Und was die Pflöcke angeht, die doch so unbedeutend erscheinen mochten ‑ihre Bedeutung lag darin, daß sie alles miteinander verbanden und so die sichtbare Einheit des Ganzen ermöglichten. So arbeitete alles auf ein gemeinsames Ziel hin, und dieses Ziel wurde dann erreicht, wenn jeder seiner eigenen besonderen Arbeit nachging. Wenn es sich ein Gersoniter in den Kopf gesetzt hätte, die Vorhänge liegen zu lassen und sich um die Pflöcke zu kümmern, dann hätte er damit seine eigene Arbeit vernachlässigt und sich in die der Merariter eingemischt. Das hätte alles in Verwirrung gebracht, während doch alles in der besten Ordnung blieb, wenn alle die Anordnungen Gottes befolgten.

 

Es muß sehr schön gewesen sein, Gottes Arbeiter in der Wüste zu beobachten. jeder stand auf seinem Posten, und jeder bewegte sich in dem Wirkungskreis, den Gott ihm zugewiesen hatte. Wenn die Wolke sich erhob und der Befehl zum Abbrechen des Zeltes gegeben wurde, dann wußte jeder, was er zu tun hatte. Niemand hatte irgend­ein Recht, sich seine eigenen Gedanken über das Ganze zu machen. Gottes Gedanken galten für sie alle. Die Leviten hatten von sich selbst erklärt, daß sie auf der Seite des HERRN stünden; sie hatten sich Seiner Autorität unterworfen. Diese Tatsache lag ihrem ganzen Werk und ihrem Dienst in der Wüste zugrunde. In diesem Licht gesehen mußte es völlig belanglos erscheinen, ob jemand einen Pflock, einen Vorhang oder einen goldenen Leuchter zu tragen hatte. Die große Frage für jeden und alle lautete einfach: Ist das meine Arbeit? Hat das der Herr n* zu tun aufgetragen?

 

Es konnte nur eine oberste Autorität geben: der HERR selbst. Er ord­nete für alle an, und alle hatten sich Ihm zu unterwerfen. Für den Willen eines Menschen blieb da kein Platz. Das war eine besondere Gnade, denn dadurch wurde Streit und Verwirrung vorgebeugt. Unter­werfung, ein gebrochener Wille und von Herzen kommende Ergebung in die Autorität Gottes sind unerläßlich ‑ sonst wird es schließlich so sein wie im Buch der Richter: "Ein jeder tat, was recht war in seinen Augen." Ein Merariter hätte vielleicht sagen oder jedenfalls denken können: "Wie ‑ da soll ich den besten Teil meines Lebens auf der Erde, die Jahre meiner Blüte und Kraft, damit zubringen, daß ich mich um ein paar Pflöcke kümmere? Ist das der Sinn meines Lebens? Muß das meine Beschäftigung sein von meinem dreißigsten bis zu meinem fünfzigsten Lebensjahr?"

 

Auf solche Fragen gab es gleich zwei Antworten. Erstens war es für den Merariter genug, zu wissen, daß der HERR ihm seine Arbeit zuge­teilt hatte. Das reichte hin, einer Sache Würde zu verleihen, die man sonst vielleicht als die kleinste und geringste angesehen hätte. Es kommt nicht darauf an, worin unsere Arbeit besteht ‑ es kommt darauf an, daß sie uns von Gott aufgetragen ist. Es mag jemand eine nach außen hin glänzende Karriere machen; er mag seine Energie, seine Zeit, seine Begabung und sein Vermögen zu Zwecken einsetzen, die in dieser Welt als groß und ehrenvoll gelten ‑ während sich doch in Wirklichkeit sein Leben vielleicht bloß als eine schillernde Seifen­blase erweist. Wenn dagegen jemand einfach Gottes Willen tut, was immer dieser Wille auch beinhalten mag, wenn er die Gebote seines Herrn befolgt, so wird der Weg dieses Menschen Gottes Anerkennung finden, und an sein Werk wird gedacht werden, wenn die hochtraben­den Pläne der Kinder dieser Welt in ewiger Vergessenheit versunken sind.

 

Aber außer dem moralischen Wert, der immer damit verbunden ist, wenn wir das tun, wozu wir berufen sind, hatte aber zweitens das Werk eines Merariters noch eine besondere Würde, auch, wenn dieses Werk nur darin bestand, daß er sich um ein paar Pflöcke und Säulen­füße zu kümmern hatte. Alles, was mit der Stiftshütte in Verbindung stand, war von hohem Wert und verdiente großes Interesse. In der ganzen Welt gab es nichts, was mit diesem Zelt aus Brettern und seinem geheimnisvollen Zubehör verglichen werden konnte. Es war ein heiliges Vorrecht, wenn man den kleinsten Pflock anrühren durfte, der einen Teil dieser wunderbaren Wohnung in der Wildnis ausmachte. Es war viel ehrenvoller, ein Merariter zu sein und sich um die Pflöcke der Wohnung zu kümmern, als das Zepter Ägyptens oder Assyriens zu führen. Dieser Merariter mochte wohl ‑ wie es sein Name sagt ‑seine wie ein armer, trauriger, arbeitender Mensch aussehen, aber Arbeit stand in Verbindung mit der Wohnstätte Gottes, des Aller­höchsten, dessen, der Himmel und Erde besitzt. Seine Hände berührten die Gegenstände, die Bilder der Dinge in den Himmeln waren. jeder Pflock, jeder Fuß, jeder Umhang und jede Decke war ein Schatten besserer Dinge, die kommen würden (vgl. Hebr. 8, 5) ‑ ein voraus­geworfenes Schattenbild Christi.

 

Es soll damit nicht gesagt sein, daß so ein armer arbeitender Merariter oder Gersoniter diese Dinge verstand. Aber darum handelt es sich auch gar nicht. Wir können diese Dinge verstehen. Es ist unser Vor­recht, das Zelt der Zusammenkunft und seine geheimnisvollen Geräte in dem hellen Licht des Neuen Testaments zu sehen, und dann erken­nen wir in allem Christus.

 

Dennoch kann man, ohne damit etwas darüber auszusagen, wie weit die Leviten Einsicht in die Bedeutung ihrer Arbeit hatten, doch behaup­ten, daß es ein wundervolles Vorrecht für die Leviten war, die irdischen Abbilder himmlischer Wirklichkeiten zu berühren und durch die Wüste tragen zu dürfen. Außerdem war es eine besondere Gnade für sie, hinter allem, was sie taten, die Autorität des "So spricht der HERR" zu wissen. Wer kann eine solche Gnade, ein solches Vorrecht ermessen? Jedem Glied dieses erstaunlichen Stammes von Arbeitern war von der Hand Gottes selbst sein Werk genau vorgezeichnet, und Gottes Priester überwachte alles. Alle unterwarfen sich der Autorität Gottes und taten genau das, wozu sie berufen waren. Das war das ganze Geheimnis der Ordnung unter den 8580 Arbeitern (Kap. 4, 48); und wir können mit festem Vertrauen sagen, daß das auch jetzt noch das einzige wahre Geheimnis einer Ordnung ist. Warum sehen wir so viel Verwirrung in der Kirche? Warum diese einander widersprechenden Gedanken, Gefüh­le und Meinungen? Warum so viel Streit untereinander? Es ist ledig­lich die Folge eines Mangels an absoluter Unterwerfung unter Gottes Wort. Unser Wille ist wirksam. Wir wählen unseren eigenen Weg, statt zuzulassen, daß Gott ihn für uns wählt. Es fehlt uns die Haltung der Seele, die alle, aber auch alle menschlichen Gedanken (unsere eige­nen mit einbegriffen) dorthin verweist, wohin sie wirklich gehören, und die Gedanken Gottes zu völliger, unbedingter Herrschaft erhebt.

 

Wir alle fühlen, daß dies das dringende Erfordernis der Tage ist, in denen wir leben. Überall gewinnt der Wille des Menschen immer mehr die Oberhand. Er wächst wie eine mächtige Flutwelle und sucht alle Schranken zu durchbrechen. "Lasset uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihre Seile“ (Ps. 2, 3) ‑ das charakterisiert den Geist unse­rer Zeit. Und worin besteht das Heilmittel? Es besteht in der Unter­werfung unter die Stimme des lebendigen Gottes, unter die Worte der Heiligen Schrift. Es ist das Heilmittel gegen Eigenwillen auf der einen und Unterwerfung unter bloße menschliche Autorität auf der anderen Seite. Die Antwort auf den Eigenwillen lautet: "Wir müssen gehor­chen" ‑ und die Antwort auf das Sich‑Beugen vor bloß menschlicher Autorität: "Wir müssen Gott gehorchen." Diese beiden Elemente sehen wir überall um uns her. Das erstere, der Eigenwille, löst sich immer mehr in Unglauben auf, und das letztere, die Unterwerfung unter den Menschen, in Irrglauben. Beide Strömungen üben eine immer größer werdende Macht auf die ganze zivilisierte Welt aus. Sie werden alle fortreißen außer denen, die von Gott selbst gelehrt wurden, nach dem unveränderlichen Satz zu handeln: "Man muß Gott mehr gehor­chen als Menschen" (Apg. 5, 29).

 

Das war es auch, was den Gersoniter in der Wüste befähigte, Sich Um die rauhen, unansehnlichen Dachsfelle zu kümmern, und den Mera­riter bewog, auf die scheinbar bedeutungslosen Pflöcke zu achten. Das ist es auch, was heute einen Christen befähigen kann, sich selbst der Aufgabe zu widmen, zu der sein Herr ihn beruft. Was tut es, wenn diese Aufgabe für ein menschliches Auge wenig anziehend, mittelmäßig und unbedeutend erscheint ‑ es ist genug, wenn unser Herr uns Platz und Arbeit angewiesen hat und daß unser Dienst in direkter Beziehung steht zu dem, der der Ausgezeichnete unter Zehntausenden ist und an dem alles lieblich ist (Hl. 5, 10 und 16).

 

Auch wir mögen uns vielleicht, bildlich gesprochen, auf ein rauhes, unscheinbares Dachsfell oder einen unbedeutenden Pflock zu beschrän­ken haben. Aber denken wir daran, daß alles, was in dieser Welt mit Christus, mit Seinem Namen, Seiner Person und Seiner Sache in Ver­bindung steht, für Gott unaussprechlich wertvoll ist! Es mag nach dem Urteil der Menschen sehr gering sein, aber was liegt daran? Wir müssen die Dinge von Gottes Standpunkt aus betrachten und sie nach Seinem Maßstab beurteilen, und dieser Maßstab ist Christus. An Christus mißt Gott alles. Was immer auch nur in irgendeiner Weise mit Christus in Verbindung steht, ist nach Gottes Urteil gut und wichtig, während die erstaunlichen Unternehmungen der Menschen die e Weit vergehen wie der Morgennebel.

 

Der Mensch bestimmt sich selbst seinen Mittelpunkt, sein Ziel und seinen Maßstab. Er bewertet die Dinge danach, wie weit sie ihn selber erheben und seine Interessen fördern. Auch die Religion und das, was so genannt wird, wird zu einer Grundlage, auf der man sich selbst entfaltet. Aus allem schlägt man Kapital für das Ich, alles wird wie ein Scheinwerfer benutzt, um Licht auf diesen Gegenstand zu werfen. Zwischen Gottes Gedanken und den Gedanken eines Menschen besteht eine mächtige Kluft und ihre Ränder liegen ebenso weit voneinander entfernt wie Christus und das Ich. Alles, was zu Christus gehört, ist von ewigem Interesse und ewiger Bedeutung, während alles, was zum Ich gehört, vorbeigehen und vergessen sein wird. Deshalb ist es der verhängnisvollste Fehler, den ein Mensch machen kann, wenn er sein Ich zum Hauptinhalt seines Lebens macht ‑ denn das muß in ewiger Enttäuschung enden ‑, während das klügste und beste, das ein Mensch tun kann, darin besteht, Christus zu seinem einzigen und alles bean­spruchenden Ziel zu machen ‑ denn das wird zu ewigem Segen und ewiger Herrlichkeit führen.

 

Prüfen wir unser eigenes Herz und unser Gewissen! Es scheint mir, daß ich hier eine besondere Verantwortung jedem Leser gegenüber habe. Ich schreibe diese Zeilen in der Einsamkeit meines Zimmers in Bristol, und vielleicht liest du sie alleine, in deinem Zimmer, in Neuseeland, Australien oder sonst irgendwo. Es geht mir nicht darum, ein Buch zuschreiben, und es geht mir auch nicht darum, einen Teil der Heiligen Schrift auszulegen. Ich möchte von Gott gebraucht werden, der sich um deine Seele kümmert. Deshalb möchte ich diese ernste Frage stellen: Worum geht es dir in Wirklichkeit? Ist es Christus ‑ oder bist du es selbst? Seien wir uns selber gegenüber ehrlich vor dem allmächtigen und alles erkennenden Erforscher des Herzens! Weichen wir doch diesem strengen Urteil über uns selbst in dem hellen Licht der Gegen­wart Gottes nicht aus! Täuschen wir uns nicht durch irgendwelche Schönfärberei! Gott sieht unter die Oberfläche der Dinge, und Er möchte, daß wir es ebenso tun. Er stellt uns, er stellt dir Christus vor – im Gegensatz zu allem anderen. Hast du Ihn angenommen? Ist Er deine Weisheit, deine Gerechtigkeit, deine Heiligkeit und deine Erlösung? Kannst du ohne zu zögern sagen: "Ich bin meines Geliebten; und mein Geliebter ist mein" (Hl. 6, 3)? Prüfen wir uns doch genau! ist das in der Tiefe unserer Seele völlig gewiß? Und wenn ja ‑ haben wir Christus zum ausschließlichen Ziel und Zweck unseres Lebens gemacht? Beur­teilen wir alles nach Ihm?

 

Das alles sind schwerwiegende Fragen, die man nicht stellen kann, ohne ihre Schärfe und ihr Gewicht selber zu fühlen. Wir können zutiefst davon überzeugt sein, daß nichts bestehen bleiben wird außer dem, was mit Christus in Verbindung steht, und daß andererseits die kleinste Kleinigkeit, die einen (wenn auch geringen) Bezug zu Ihm hat, im Urteil des Himmels von großer Bedeutung ist.

 

Bevor wir dieses Kapitel beenden, müssen wir noch einen Blick auf die Kehathiter und ihre Arbeit werfen.

 

"Und der Herr redete zu Mose und zu Aaron und sprach: Nehmet: ... Das ist es, was die Söhne Kehaths vom Zelte der Zusammenkunft zu tragen haben." (4. Mose 4, 1‑15)

 

Hier sehen wir, welche wertvollen und geheimnisvollen Dinge er Sorge der Kehathiter anvertraut waren. Die Bundeslade, der golden, Tisch, der goldene Leuchter, der goldene Altar und der Brandopfer­altar ‑ alles das waren Schatten zukünftiger Dinge, Abbilder der Dinge im Himmel, Darstellungen des Wahrhaftigen, Gegenbilder Christi in Seiner Person, in Seinem Werk und in Seinen Ämtern, wie ich es in den "Gedanken zum 2. Buch Mose" darzulegen versucht habe (in Kap. 24‑30). Wir sehen diese Dinge hier in der Wüste in ihrem Reisekleid vorgestellt ‑ wenn dieser Ausdruck hier einmal erlaubt ist. Außer der Bundeslade boten diese Dinge alle den gleichen Anblick, nämlich den einer rauhen Decke von Dachsfell. Mit der Lade war es insofern anders, als über dem Dachsfell ein Tuch, ganz von blauem Purpur" lag, das ohne Zweifel den ganz und gar himmlischen Charakter des Herrn Jesus Christus in Seiner göttlichen Person vorstellte. Der himmlische Cha­rakter, der Sein ganzes Wesen kennzeichnete, war in Seinem Leben hier auf Erden sichtbar. Er war der himmlische Mensch, der Herr vom Himmel. Unmittelbar unter dieser Decke von blauem Purpur lagen die Dachsfelle, die als Symbol davon angesehen werden können, was vor dem Bösen bewahrt. ‑ Auf diese besondere Weise wurde, wie gesagt, nur die Bundeslade zugedeckt.

 

Auf dem "Tisch der Schaubrote", ein Abbild unseres Herrn Jesus Christus in Seiner Verbindung mit den zwölf Stämmen Israels, lag zu­erst ein „Tuch von blauem Purpur" und dann ein „Tuch von Karmesin", und darüber wurden die Dachsfelle gedeckt. Mit anderen Worten: zu­erst sehen wir das, was wesenhaft himmlisch ist, dann das, was menschliche Herrlichkeit darstellt, und über allem das, was vor dem Bösen bewahrt. Es ist der Plan Gottes, daß die zwölf Stämme Israels einen hervorragenden Platz auf der Erde einnehmen sollen und daß in ihnen die höchste Form menschlichen Glanzes dargestellt werden soll. Deshalb ist auch die Karmesindecke auf dem Schaubrotetisch so passend. Die zwölf Brote weisen offenbar auf die zwölf Stämme Israels hin; und was die Karmesinfarbe angeht, so braucht man nur die Schrift durchzugehen, um zu sehen, daß sie andeutet, was ein Mensch für prächtig hält.

 

Der goldene Leuchter und der goldene Altar wurden auf die gleiche Weise zugedeckt, nämlich zuerst mit der himmlischen Decke und dann von außen mit dem Dachsfell. In dem Leuchter sehen wir unseren Herrn Christus, wie Er in Verbindung mit dem Werk des Heiligen Geistes Licht und Zeugnis gibt. Der goldene Altar zeigt uns Christus und Seine Mittlerrolle ‑ den Wohlgeruch und Wert dessen, was Er für Gott ist. Beide Gegenstände wurden auf ihrer Reise durch die Wüste mit dem, was himmlisch ist, umhüllt und von außen durch die Dachs­felle geschützt.

 

Schließlich bemerken wir im Hinblick auf den ehernen Altar einen bemerkenswerten Unterschied. Er wurde mit rotem Purpur statt mit blauem Purpur oder mit Karmesin bedeckt. Warum? Zweifellos des­halb, weil der eherne Altar Christus als denjenigen zeigt, der "für Sünden gelitten" hat und der deshalb das Zepter des Königtums tra­gen wird. Roter Purpur ist die königliche Farbe. Dieser Eine, der in der Welt gelitten hat, wird regieren; der Eine, der die Dornenkrone trug, wird die Krone der Herrlichkeit tragen. Daher war der rote Purpur die passende Decke für den ehernen Altar ‑ denn auf diesem Altar wurde das Opfer dargebracht.

 

In der Heiligen Schrift hat alles seine eigene von Gott gegebene Bedeu­tung, und es ist unser Vorrecht und unsere Pflicht zu versuchen, die Bedeutung dieser vielen Einzelheiten zu verstehen, die unser Gott und zu unserer Belehrung hat niederschreiben lassen. Das können wir nur erreichen, wenn wir demütig, geduldig und betend auf Ihn warten. Und nur so wird auch unsere Phantasie kontrolliert. Nur der Geist Gottes kann uns die Schrift öffnen. Gott ist Sein eigener Ausleger, und je mehr wir uns wirklich auf Ihn stützen, ohne die Meinung selbst etwas zu wissen, um so tiefer werden wir Einsicht in Sein Wort und in Seine Wege haben.

 

Aus diesem Grund möchte ich jedem Christen, der diese Zeilen liest, raten, die ersten fünfzehn Verse von 4. Mose 4 in der Gegenwart Gottes zu lesen. Bitte Ihn, dir die Bedeutung jedes Satzes zu zeigen ‑die Bedeutung der Lade und warum nur sie mit einem blauen Purpur­tuch bedeckt wurde usw. Ich habe versucht ‑ und ich sage es voller Demut ‑, Hinweise zu geben; aber von ganzem Herzen wünsche ich, daß jeder Leser die Bedeutung dieser Verse für sich selbst von Gott erbittet und es nicht bloß von irgendeinem Menschen annimmt. Ich be­kenne, daß ich schreckliche Angst vor aller Phantasie habe und über­zeugt bin, daß wirklich nur der Heilige Geist alles erklären kann.

 

Es mag jemand einwenden: warum schreibt der Verfasser dann aber das alles? Nun, ich schreibe es in der Hoffnung, dadurch ein wenig denen, die voller Ernst die Heilige Schrift untersuchen, zu helfen, die Edelsteine zu sehen, die auf jeder Seite zu finden sind, und sich daran zu erfreuen. Tausende lesen vielleicht wieder und wieder 4. Mose 4 und nehmen nicht einmal wahr, daß nur die Lade unter all den Geräten des Heiligtums nicht nach außen hin ein Dachsfell zeigte. Und wenn man diese simple Tatsache schon übersieht, wie kann man dann ihre Bedeutung erkennen? Dasselbe gilt für den ehernen Altar. Wie viele haben nicht einmal wahrgenommen, daß nur er mit rotem Purpur bedeckt war!

 

Nun, wir können sicher sein, daß beides seine geistliche Bedeutung hat. Die Lade war damals die höchste Offenbarung Gottes. Wir können deshalb auch verstehen, warum an ihr für einen ersten Blick das sicht­bar wurde, was nur zum Himmel gehörte. Der eherne Altar war der Platz, an dem die Sünde gerichtet wurde. Er stellte sinnbildlich Christus in Seinem Werk als Sündenträger vor, er zeigte, bis zu weich einem tiefen Platz Er sich für uns erniedrigt hat ‑ und doch war nur der eherne Altar in eine königliche Decke gehüllt. Kann es etwas Vorzüglicheres geben als das, was uns dieses hier lehrt? Welch unendliche Weisheit tut sich in all diesen feinen Unterschieden kund! Die Lade führt uns zum höchsten Platz im Himmel, der eherne Altar zum tief­sten auf der Erde. Sie standen an den beiden äußersten Enden der Stiftshütte. Im ersteren sehen wir den Einen, der das Gesetz verherr­lichte, und im letzteren Ihn, der zur Sünde gemacht wurde. An der Lade erkannte man zunächst das, was himmlisch war, und erst, wenn man tiefer sah, entdeckte man das Dachsfell; und wenn man dann noch tiefer blickte, so begegnete man endlich jenem geheimnisvollen Vor­hang, dem Bild von dem Fleisch Christi (s. Hebr. 10). An dem Altar dagegen sah man als erstes das Dachsfell und dann darunter die könig­liche Decke. Wir erkennen in allem Christus, jedoch von verschiedenen Seiten aus betrachtet. Die Bundeslade zeigt Christus, wie Er die Ehre Gottes bewahrt und im ehernen Altar sehen wir Ihn als Den, der dem Bedürfnis des Sünders begegnet. Welch eine segensvolle Zusammen­stellung für uns!

 

Weiter fällt an dem hier behandelten Abschnitt auf, daß ein Gegen­stand nicht erwähnt wird, von dem wir aus 2. Mose 30 und anderen Stellen wissen, daß er im Zelt der Zusammenkunft einen wichtigen Platz einnahm: das eherne Waschbecken. Warum hat Gott es in 4. Mose 4 fehlen lassen?

 

Der Grund mag sowohl in dem Material, aus dem es gefertigt wurde, als auch in seinem Zweck liegen. Wir haben es bereits im 2. Buch Mose bemerkt. Das Waschbecken war aus den Spiegeln der Frauen, die sich an der Tür des Zeltes der Zusammenkunft versammelt hatten, gemacht worden, (2. Mose 38, 8) und sein Zweck bestand darin, ein Mittel zur Reinigung für die Menschen zu sein. Nun, in allen jenen Dingen, die der besonderen Obhut der Kehathiter anvertraut waren, sehen wir ausschließlich die verschiedenen Offenbarungen Gottes in Christus ‑angefangen von der Lade im Allerheiligsten bis zum ehernen Altar im Vorhof der Stiftshütte. Und weil das Becken keine Offenbarung Gottes darstellte, sondern ein Mittel der Reinigung für den Menschen war, wird es zum Schutz und der Obhut der Kehathiter nicht übertragen.

 

Ich möchte jetzt diesen so tiefen Teil des vierten Buches Mose (Kap. 3 und 4) verlassen und jeden bitten, ihn selber noch einmal genau zu überdenken. Er ist wirklich unausschöpfbar. Man könnte darüber Bände statt Seiten füllen ‑ und würde am Ende doch fühlen, daß man nur wenig weiter als gerade unter die Oberfläche vorgedrungen ist.

 

Kapitel 5

 

DIE HEILIGKEIT DES LAGERS IN DER WÜSTE

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Gebiete den Kindern Israel, daß sie alle Aussätzigen und alle Flüssigen und alle wegen einer Leiche Verunreinigten aus dem Lager hinaustun; Sowohl Mann als Weib sollt ihr hinaustun, vor das Lager sollt ihr sie hinaustun, damit sie nicht ihre Lager verunreinigen, in deren Mitte ich wohne. Und die Kinder Israel taten also und taten sie vor das Lager hinaus; so wie der HERR zu Mose geredet hatte, also taten die Kinder Israel" (Kap. 5, 1‑4).

 

Hier wird der große Grundsatz, auf dem die Zucht der Versammlung beruht, vor uns entfaltet, ein Grundsatz, von dem man wohl sagen kann, daß er von größter Wichtigkeit ist, obwohl er leider so wenig verstanden und beachtet wird. Es war die Gegenwart Gottes in der Mitte Seines Volkes Israel, die von ihnen Heiligkeit verlangte. "Damit sie nicht ihre Lager verunreinigen, in deren Mitte ich wohne." Der Ort, wo der Heilige wohnt, muß heilig sein. Diese Wahrheit ist einfach und nicht zu umgehen.

 

Wir haben bereits bemerkt, daß die Erlösung die Grundlage für das Wohnen Gottes in der Mitte Seines Volkes war; aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Zucht für Sein Bleiben unter ihnen notwendig war. Er konnte nicht da wohnen, wo das Böse offen anerkannt wurde. Er kann ‑ gepriesen sei Sein Name dafür! ‑ Schwachheit und Unwissen­heit ertragen, und Er erträgt sie; aber Seine Augen sind zu rein, als daß Er Böses sehen oder Ungerechtigkeit anschauen könnte. Das Böse kann nicht bei Gott sein, noch kann Gott mit dem Bösen Gemeinschaft ha­ben. Das wäre eine Verleugnung Seiner Natur, und Er kann sich selbst nicht verleugnen.

 

Man könnte jedoch entgegnen: "Wohnt denn nicht der Heilige Geist in dem einzelnen Gläubigen? Und dennoch gibt es so viel Böses in ihm?" Allerdings wohnt der Heilige Geist aufgrund der vollbrachten Erlösung in dem Gläubigen. Er ist da, aber nicht als die Bestätigung dessen, was von der Natur ist, sondern als das Siegel dessen, was von Christus ist, und Seine Gegenwart und Gemeinschaft genießt man genau in dem Maß, wie man das Böse in sich selbst richtet. Unmöglich können wir das Wohnen des Geistes in uns praktisch wahr machen und uns darüber freuen, wenn wir das Böse in uns dulden und die Wünsche des Fleisches und der Sinne befriedigen. Wir müssen uns selbst richten und alles verwerfen, was mit der Heiligkeit dessen, der in uns wohnt, nicht vereinbart ist. Unser "alter Mensch" wird nicht anerkannt. Er besteht nicht mehr vor Gott. Er ist am Kreuz Christi völlig verurteilt worden. Wir fühlen leider seinen Einfluß, und wir haben darüber zu trauern und uns deswegen zu richten; aber Gott sieht uns in Christus, im Geist, in der neuen Schöpfung. Überdies wohnt der Heilige Geist in dem Leibe des Gläubigen aufgrund des Blutes Christi, und diese Tat­sache verlangt das Gericht über jede Form des Bösen. (Vgl. 1. Kor. 6, 19.20).

 

So ist es auch in bezug auf die Versammlung. Ohne Zweifel gibt es Böses in ihr, Böses in jedem einzelnen Glied und folglich Böses in dem Körper als einem Ganzen. Aber dieses Böse muß gerichtet werden, und wenn es gerichtet wird, so wird ihm nicht erlaubt, wirksam zu sein; es wird zunichte gemacht. Was würden wir von einem Christen sagen, der behauptet, er sei nicht verantwortlich, das Böse in sich selbst und in seinem Leben zu richten? Und wenn solch ein Grundsatz für den einzelnen schlecht ist, sollte er dann für eine Versammlung nicht noch weit schlechter sein?

 

Was wäre dann die Folge gewesen, wenn Israel sich geweigert hätte, dem bestimmten Befehl zu gehorchen, der im Anfang des 5. Kapitels gegeben wird? Angenommen, sie hätten gesagt: "Wir sind nicht ver­antwortlich, das Böse zu richten, und wir glauben nicht, daß es so armen, schwachen und fehlbaren Sterblichen wie wir es sind zusteht, irgend jemand zu richten. Diese Aussätzigen, Flüssigen und auf andere Weise Verunreinigten sind ebensogut Israeliten wie wir und haben dasselbe Anrecht auf alle Segnungen und Vorrechte des Lagers wie wir. Darum halten wir es nicht für recht, sie hinauszutun." Was würde Gott auf einen solchen Einwurf entgegnet haben? Jos. 7 gibt auf diese Frage eine Antwort, die so ernst wie nur möglich ist. Was bedeutet der "große Steinhaufen" im Tal Achor? "Er ist ein Gott, gar erschrecklich in der Versammlung der Heiligen, und furchtbar über alle, die rings um ihn her sind" (Ps. 89, 7). "Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer" (Hebr. 12, 29). Die Lust hatte im Herzen nur eines Gliedes der Ver­sammlung Israels empfangen und die Sünde geboren. Aber ging das denn die ganze Versammlung etwas an? Hören wir die ernsten Worte: "Israel [nicht nur Achan] hat gesündigt, und auch haben sie meinen Bund übertreten, den ich ihnen geboten habe; und auch haben sie von dem Verbannten genommen, und auch gestohlen, und es auch verheim­licht, und es auch unter ihre Geräte gelegt! Und die Kinder Israel wer­den vor ihren Feinden nicht zu bestehen vermögen; sie werden vor ihren Feinden den Rücken kehren, denn sie sind zum Banne geworden. Ich werde nicht mehr mit euch sein, wenn ihr nicht den Bann aus eurer Mitte vertilget" (Jos. 7, 1‑1. 12).

 

Das ist sehr ernst und eindringlich. Es redet unüberhörbar zu uns und gibt unserem Herzen eine wichtige Belehrung. Es gab, soweit wir wissen, im Lager Israel viele Hunderttausende, die von der Sünde Achans ebensowenig wußten wie Josua; und dennoch wurde gesagt: "Israel hat gesündigt, übertreten, von dem Verbannten genommen, gestohlen, verheimlicht". Wie konnte das sein?

 

Die ganze Versammlung war eins. Gottes Gegenwart in ihrer Mitte machte sie zu einer Einheit ‑ und zwar so vollständig, daß die Sünde des einzelnen zur Sünde aller wurde. "Ein wenig Sauerteig durchsäuert den ganzen Teig." Die Tatsache der Gegenwart Gottes verlangt Heilig­keit, Reinheit und Gericht über das Böse. Denken wir doch immer daran! Es geht dabei nicht etwa um den Grundsatz: "Bleibe für dich und nahe mir nicht, denn ich bin dir heilig!" (Jes. 65, 5), ‑ ein Grund­satz, den jeder Demütige von sich weisen würde ‑ sondern die Zucht muß in Übereinstimmung mit dem, was Gott ist, ausgeübt werden, und Er sagt: "Seid heilig, denn ich bin heilig". Gott konnte nicht ungerich­tetes Böses durch Seine heilige Gegenwart anerkennen, so, als sei es eben nichts Böses. Unmöglich konnte Er bei Ai einen Sieg schenken, so­lange Achan im Lager war! Unter solchen Umständen wäre ein Sieg eine Unehre für Gott gewesen ‑ und gleichzeitig auch für Israel das ärgste, was ihm widerfahren konnte. Nein, Israel mußte gezüchtigt und gedemütigt werden; sie mußten in das Tal Achor hinabsteigen an den Ort der Trübsal; denn nur hier kann "eine Tür der Hoffnung" geöffnet werden, wenn Böses Eingang gefunden hat (vgl. Hos. 2, 15).

 

Dieser Grundsatz hat große praktische Bedeutung, aber er wird von vielen aus dem Volk Gottes vermutlich nicht verstanden. Es gibt viele, die zu glauben scheinen, daß es für die, die durch die Gnade errettet wurden und die selber gewissermaßen Denkmäler der Barmherzigkeit sind, nicht angemessen sei, in irgendeiner Form oder nach irgendeinem Grundsatz Zucht auszuüben. Sie glauben, daß Matth. 7,1 den Gedanken an Zucht unbedingt verurteilt. Sagt uns der Herr nicht ausdrücklich, so fragen sie, daß wir nicht richten sollen? Sagt Er nicht selbst: "Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet"? Ohne Zweifel! Aber was wollen diese Worte sagen? Bedeuten sie, daß wir die Lehre und Lebens­weise derer nicht zu richten haben, die christliche Gemeinschaft mit uns haben möchten? Stützen diese Worte irgendwie den Gedanken, daß wir einen Menschen aufnehmen sollen ohne Rücksicht auf das, was er glaubt, lehrt oder tut? Kann das die Absicht und die Bedeutung der Worte unseres Herrn sein? Sicher nicht! Sagt uns unser Herr nicht in demselben Kapitel, daß wir uns "vor den falschen Propheten hüten sollen"? Wie aber können wir uns vor jemandem hüten, den wir nicht zu beurteilen haben?

 

Nein, die Versammlung Gottes ist verpflichtet, die Lehre und die Lebensweise aller derer zu beurteilen, die mit den Gläubigen Gemein­schaft haben möchten. Wir haben nicht die Beweggründe zu prüfen, wohl aber die Handlungen. In 1. Kor. 5 werden wir von dem Apostel deutlich belehrt, daß wir verpflichtet seien, die zu richten, die sagen, daß sie der Versammlung angehören. "Denn was habe ich auch zu rich­ten, die draußen sind? Ihr, richtet ihr nicht die drinnen sind? Die aber draußen sind richtet Gott; tut den Bösen von euch selbst hinaus" (l. Kor. 5, 12. 13).

 

Diese Worte sind sehr klar. Wir haben nicht die zu richten, die "drau­ßen" sind, sondern die, die "drinnen" sind. D. h. alle, die den Platz als Christen, als Glieder der Versammlung Gottes einnehmen, gehören in den Bereich, auf den sich das Gericht erstreckt. In dem Augenblick, in dem ein Mensch in die Versammlung hereinkommt, nimmt er seinen Platz dort ein, wo Zucht ausgeübt wird über alles, was der Heiligkeit dessen, der dort wohnt, widerspricht.

 

Aber meinen wir nicht, die Einheit des Leibes werde angetastet, wenn die Zucht des Hauses aufrechterhalten wird! Das wäre wirklich ein sehr großer Irrtum ‑ und doch ist er leider sehr verbreitet. Denen, die die Zucht des Hauses Gottes in der rechten Weise aufrechterhalten möch­ten, wird häufig vorgeworfen, daß sie den Leib Christi zertrennen. Was für ein Irrtum! Die Zucht des Hauses Gottes muß ausgeübt, aber die Einheit des Leibes Christi kann nie aufgelöst werden.

 

Außerdem hört man manchmal Leute von einem Abschneiden der Glieder des Leibes Christi sprechen. Auch das ist nicht richtig. Nicht ein einziges Glied des Leibes Christi kann je abgeschnitten werden. jedes Glied ist durch den Heiligen Geist in den Leib Christi eingefügt worden, und zwar infolge des ewigen Ratschlusses Gottes und aufgrund des vollbrachten Erlösungswerkes Christi, und keine menschliche und keine teuflische Macht kann je ein einziges Glied von dem Leib trennen. Alle sind in einer vollkommenen Einheit unauflöslich miteinander verbunden und werden in ihr durch Gottes Macht bewahrt. Die Einheit der Kirche Gottes kann mit einem durchhängenden Seil verglichen werden, das über einen Fluß gespannt ist: man sieht es auf jeder der beiden Seiten, aber in der Mitte taucht es ins Wasser. Wenn man nun nach dem urteilen wollte, was man sieht, so könnte man annehmen, daß das Seil in der Mitte gerissen sei. So ist es auch mit der Kirche Gottes: im Anfang sah man, daß sie eins war, und bald wird man wie­der sehen, daß sie eins ist, aber sie ist auch jetzt eins in den Augen Gottes, obwohl diese Einheit sterblichen Augen vielleicht nicht sichtbar ist.

 

Es ist wichtig, in bezug auf diese Frage wirklich klar zu sehen. Der Feind hat durch alle in seiner Macht stehenden Mittel versucht, dem Volk Gottes Sand in die Augen zu streuen, damit es die Wahrheit hierüber nicht erkenne. Wir haben auf der einen Seite die vielgerühmte Einheit des Katholizismus und auf der anderen die traurigen Spaltun­gen des Protestantismus. Rom weist triumphierend auf die zahlreichen Gruppen der Protestanten hin, und die Protestanten deuten gleicher­weise auf die zahlreichen Irrtümer, Verfälschungen und Mißbräuche des Papsttums. So weiß jemand, der ernstlich nach Wahrheit sucht, kaum, wo er sich hinwenden oder was er denken soll, während andrer­seits die Gedankenlosen, Gleichgültigen und weltlich Gesinnten nur zu bereit sind, jeden ernsten Gedanken über das, was Gott angeht, beiseite zu schieben und das mit den Unzulänglichkeiten zu entschuldigen, die sie um sich her sehen.

 

Die wirkliche Lösung der Schwierigkeit, die wahre Hilfe liegt allein in der Wahrheit von der unzertrennbaren Einheit der Kirche Gottes, des Leibes Christi auf der Erde. Diese Wahrheit darf nicht nur als eine Lehre angenommen, sondern sie muß bekannt und praktisch wahrge­macht werden, ganz gleich, was uns das kosten mag. Sie übt einen prä­genden Einfluß auf die Seele aus, und sie enthält die einzige Antwort auf die gerühmte Einheit Roms einerseits und auf die Zersplitterung des Protestantismus andererseits. Sie wird uns befähigen, dem Protestan­tismus zu bezeugen, daß wir Einheit gefunden, und dem römischen Katholizismus, daß wir die Einheit des Geistes gefunden haben.

 

Man könnte jedoch dagegen einwenden, es sei utopisch, bei den gegenwärtigen Zuständen einen solchen Gedanken verwirklichen zu wollen. Alles sei so weit verdorben und so verworren, daß wir jetzt Kindern gleichen, die sich in einem Walde verirrt haben und die sich nun bemühen, den besten Weg nach Hause zu finden ‑ einige in großen Gruppen, andere in Grüppchen von zweien oder dreien, wieder andere ganz allein.

 

Das mag in unserer Zeit viele Kinder Gottes überzeugen. Doch nach dem Urteil des Glaubens ist diese Art der Beweisführung wertlos, und zwar einfach deshalb, weil für den Glauben nur diese eine Frage wichtig ist.‑ Ist die Einheit der Kirche ein menschlicher Lehrsatz, oder ist sie eine göttliche Wirklichkeit? Daß sie eine göttliche Wirklichkeit ist, bezeugen klar und deutlich die Worte: "Da ist ein Leib und ein Geist" (Eph. 4, 4). Wenn wir leugnen, daß es den "einen Leib" gibt, dann können wir mit demselben Recht leugnen, daß da "ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller" ist, weil alle diese Aus­sagen im Wort Gottes nebeneinander stehen. Wenn wir eine infrage stellen, so stellen wir sie alle infrage. Außerdem haben wir zu diesem Thema nicht nur eine einzelne Schriftstelle, obwohl auch eine einzige völlig ausreichen würde. Aber es gibt mehrere. So wird z. B. in 1. Kor. 10, 16. 17 gesagt: "Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir brechen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein Leib sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dem einen Brote." Oder lesen wir 1. Kor. 12, 12‑27, wo das ganze Thema ent­faltet und auf die Praxis angewandt wird.

 

Das Wort Gottes enthält also klar und genau die Wahrheit von der unauflöslichen Einheit des Leibes Christi, aber nicht weniger klar und genau stellt es die Wahrheit von der Zucht im Hause Gottes auf. Und beachten wir, daß die richtige Ausführung der einen Seite der Wahrheit ‑ niemals der anderen ‑ der von ‑ der von der Zucht im Hause Gottes der Einheit des Leibes ‑ Abbruch tut. Beide sind durchaus miteinander vereinbar. Dürfen wir annehmen, die Einheit des Leibes sei angetastet worden, wenn der Apostel der Kirche in Korinth befahl, den "Bösen" aus ihrer Mitte hinwegzutun? Gewiß nicht! Und war dieser Mann nicht dennoch ein Glied des Leibes Christi7 ja, denn wir finden im zweiten Brief, daß er wieder aufgenommen wurde. Die Zucht hatte

an einem Glied des Leibes Christi ihr Werk getan, und der Irrende war zurückgeführt worden. Das war das Ziel der Handlung der Versamm­lung gewesen.

 

Alles das kann helfen, die Wichtigkeit der Zulassung zum Tisch des Herrn und der Ausschließung von ihm klar zu machen. Bei vielen Christen scheint über diese Dinge eine große Verwirrung zu herrschen. Manche meinen, es dürfe einem Christen unter keinen Umständen der Platz am Tisch des Herrn verweigert werden. Der Fall in 1. Kor. 5 genügt völlig, um diese Ansicht zu widerlegen. Offenbar wurde dieser Mann nicht deswegen ausgeschlossen, weil er etwa kein Christ gewesen wäre. Wie wir wissen, war er trotz seiner Sünde ein Kind Gottes‑, und dennoch wurde der Versammlung in Korinth befohlen, ihn hinauszu­tun. Hätten die Korinther es nicht getan, so hätten sie das Gericht Gottes über die ganze Versammlung gebracht. Gott ist in der Ver­sammlung gegenwärtig und deshalb muß Böses gerichtet werden.

 

Wir begegnen also sowohl in 4. Mose 5 als auch in 1. Kor. 5 derselben ernsten Wahrheit, nämlich der, daß dem Hause des HERRN Heiligkeit geziemt auf immerdar (Ps. 93, 5). Ferner lernen wir, daß an dem Volk Gottes die Zucht aufrechterhalten werden muß, nicht etwa bei denen, die draußen sind. Denn aus dem Lager Israels mußten nicht die aus­geschlossen werden, die Nichtisraeliten oder Unbeschnittene waren oder solche, die ihre Abstammung von Abraham nicht nachweisen konnten ‑ nein, sondern: Jeder Aussätzige", d. h. jeder, der der Sünde erlaubte, in ihm zu wirken, der sie duldete, Jeder Flüssige", jeder, von dem ein verderblicher Einfluß ausging, und Jeder wegen einer Leiche Verunreinigte". Diese Leute mußten aus dem Lager in der Wüste entfernt werden, und die, die jetzt ihr Gegenbild sind, müssen von der Versammlung Gottes getrennt werden.

 

Und warum wurde diese Trennung verlangt? Geschah es, um den guten Ruf oder das Ansehen des Volkes zu erhalten? Nein, sondern sie wurde verlangt, "damit sie nicht ihre Lager verunreinigen, in deren Mitte ich wohne". So ist es auch jetzt. Wir richten und verwerfen eine schlechte Lehre oder sittlich Böses nicht, um unsere Rechtgläubigkeit zu bewah­ren und unseren Ruf und unser Ansehen zu schützen. Der einzige Grund zum Richten und Verwerfen ist dieses: "Deinem Hause geziemt Heiligkeit, o HERR, auf immerdar." Gott wohnt inmitten Seines Vol­kes. "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich in ihrer Mitte." "Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid, und der Geist Gottes in euch wohnt" (i. Kor. 3, 16)? Und: "Also seid ihr denn nicht mehr Fremdlinge und ohne Bürgerrecht, sondern ihr seid Mitbür­ger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, aufgebaut auf die Grund­lage der Apostel und Propheten, indem Jesus Christus selbst Eckstein ist, in welchem der ganze Bau, wohl zusammengefügt, wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn, in welchem auch ihr mit aufgebaut werdet zu einer Behausung Gottes im Geiste" (Eph. 2, 19‑22).

 

Aber vielleicht fragt jemand: Wird und muß es nicht in jeder Ver­sammlung Böses geben ‑ trotz größter Wachsamkeit der Hirten und trotz Treue im allgemeinen? Wie kann der erhabene Maßstab der Rein­heit beibehalten werden? Ohne Zweifel gibt es insofern Böses in der Versammlung, als in jedem ihrer Glieder die Sünde wohnt. Aber es darf nicht anerkannt, nicht gutgeheißen, sondern muß gerichtet und unterdrückt werden. Nicht das Vorhandensein von gerichtetem Bösen ist es, was verunreinigt, sondern daß Böses anerkannt, gutgeheißen wird. Es verhält sich mit der Kirche insgesamt genauso wie mit den Gliedern persönlich. "Wenn wir uns selbst beurteilten, so würden wir nicht gerichtet" (l. Kor. 11, 31). Daher sollte sich niemand, soviel Böses es auch geben mag, von der Kirche Gottes trennen. Aber wenn eine Versammlung ihre ernste Verantwortlichkeit, das Böse sowohl in der Lehre wie in den Sitten zu richten, leugnet, so steht sie nicht mehr auf dem Boden der Kirche Gottes, und dann ist es unsere ernste Pflicht, uns von ihr zu trennen. Solange eine Versammlung, wie schwach und klein sie auch sein mag, auf dem Boden der Kirche Gottes steht, ist die Trennung von ihr Spaltung. Aber wenn eine Versamm­lung diesen Boden verläßt ‑ und sie tut dies, sobald sie leugnet, daß es ihre Pflicht sei, das Böse zu richten ‑, dann ist es Spaltung, länger mit ihr in Verbindung zu bleiben.

 

Aber wird das nicht die Trennungen noch vermehren und vertiefen? Gewiß nicht. Es kann wohl dazu führen, daß man sich von menschlichen Verbindungen trennt. Aber das ist nicht Trennung oder Spaltung im geistlichen Sinn, sondern genau das Gegenteil davon; denn alle menschlichen Verbindungen, so groß und nützlich sie auch scheinen mögen, sind der Einheit des Leibes Christi, der Kirche Gottes, entgegen­gesetzt.

 

Wir wollen jedoch die Besprechung unseres Kapitels fortsetzen. "Und der HERR redete zu Mose und sprach. Rede zu den Kindern Israel: Wenn ein Mann oder ein Weib irgendeine von allen Sünden der Men­schen tun, so daß sie eine Untreue gegen den HERRN begehen, und selbige Seele sich verschuldet, so sollen sie ihre Sünde bekennen, die sie getan haben; und der Täter soll seine Schuld erstatten nach ihrer vollen Summe und soll das Fünftel davon hinzufügen und es dem geben, an welchem er sich verschuldet hat. Und wenn der Mann keine Blutsverwandten hat, um diesem die Schuld zu erstatten, so soll die Schuld, welche dem HERRN erstattet wird, dem Priester gehören, außer dem Widder der Versöhnung, womit man Sühnung für ihn tut" (V. 5‑8).

 

Die Lehre von dem Schuldopfer ist in den "Gedanken zum 3. Buch Mose" (Kap. 5) bereits behandelt worden. Ich möchte hier nur einen Augenblick bei der sehr wichtigen Frage des Bekenntnisses und der Wiedererstattung stehenbleiben. Aus der oben angeführten Stelle geht hervor, daß Gott Bekenntnis und Erstattung verlangte, wenn irgendeine Sünde begangen worden war, und die Aufrichtigkeit des Bekenntnisses sollte sich durch die Wiedererstattung beweisen. Es war für einen Juden, der gegen seinen Bruder gesündigt hatte, nicht genug, wenn er zu ihm ging und sagte: "Es tut mir leid." Er hatte nicht nur zu erstatten, was er veruntreut hatte, sondern er mußte darüber hinaus noch ein Fünftel hinzufügen. Obwohl wir nicht unter dem Gesetz stehen, können wir doch aus seinen Anordnungen viel lernen (obwohl wir nicht unter dem Zuchtmeister sind, können wir doch manche gute Lehren von ihm empfangen). Wenn wir gegen irgend jemanden eine Untreue begangen haben, so genügt es also nicht, daß wir unsere Sünde vor Gott und unserem Bruder bekennen, sondern wir müssen auch Ersatz leisten. Wir sind berufen, einen praktischen Beweis dafür zu liefern, daß wir uns wegen unserer Untreue selbst gerichtet haben.

 

Ob diese Pflicht wirklich richtig verstanden und in ihrer ganzen Bedeu­tung begriffen wird? Werden nicht Sünden und Vergehen oft in einer sehr leichtfertigen, oberflächlichen Weise behandelt, die den Geist Gottes tief betrüben muß? Wir geben uns mit einem bloßen Lippen­bekenntnis zufrieden, ohne daß wir das Schlechte der Sünde in den Augen Gottes wirklich und tief empfinden. Die Sache selbst wird nicht in ihren Wurzeln gerichtet, und das dadurch bewirkte Spielen mit der Sünde macht das Herz hart und nimmt dem Gewissen seine Zartheit. Das ist sehr ernst. Es gibt wenige Dinge, die schöner sind als ein zartes Gewissen. Das ist weder ein ängstliches Gewissen, das von seinen eigenen Einfällen und Gefühlen geleitet, noch auch ein krankhaftes Ge­wissen, das durch seine Zweifel tyrannisiert wird. Beides ist sehr be­lastend. Es geht um ein zartes Gewissen, das sich in allen Dingen von dem Worte Gottes leiten läßt und sich allein seiner Autorität unter­wirft. Ein solches gesundes Gewissen ist ein sehr wertvoller Schatz. Es regelt alles. Es bemerkt die kleinsten Dinge in unserem täglichen Leben, unsere Gewohnheiten, unsere Kleider, es beeinflußt die Art, wie unsere Häuser eingerichtet sind, was wir essen, unser Betragen, unseren Geist, unseren Ton, unsere Arbeitsauffassung oder wenn es unser Los ist, anderen zu dienen, die Art und Weise, in der wir unseren Dienst tun, ganz gleich, worin er bestehen mag. Alles ist dem heilsamen Einfluß eines zarten Gewissens unterworfen. "Darum übe ich mich auch , sagt der Apostel, "allezeit ein Gewissen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen" (Apg. 24, 16).

 

Das ist etwas' wonach wir sehr verlangen sollten. Es liegt etwas mora­lisch Schönes und Anziehendes in diesem Streben des Paulus, des größten und begabtesten Dieners Christi. Mit seinen glänzenden Gaben, seiner wunderbaren Kraft, seiner tiefen Einsicht in die Wege und Ratschlüsse Gottes, mit allem, wovon er reden und worin er sich rühmen konnte, mit den wunderbaren Offenbarungen, die ihm im dritten Himmel gegeben worden waren, übte er sich, er, der Angese­henste der Apostel, der Bevorzugteste der Heiligen, allezeit ein Gewis­sen ohne Anstoß zu haben vor Gott und den Menschen. Und wenn er in einem Augenblick der Unwachsamkeit ein unbedachtes Wort äußerte, wie z. B. gegenüber dem Hohenpriester Ananias, so war er im nächsten Augenblick schon bereit, zu bekennen und Genugtuung zu leisten: er nahm die übereilte Äußerung: "Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand!" zurück und setzte das Wort Gottes an diese Stelle: "Von dem Obersten deines Volkes sollst du nicht übel reden."

 

Ich glaube, Paulus hätte sich in jener Nacht nicht mit einem Gewissen ohne Anstoß zur Ruhe legen können, wenn er seine Worte nicht zurückgenommen hätte. Ein Bekenntnis ist notwendig, wenn wir Ver­kehrtes getan oder gesagt haben. Wenn dieses Bekenntnis unterbleibt, so bleibt unsere Gemeinschaft mit dem Vater gewiß unterbrochen. Gemeinschaft ist moralisch unmöglich mit einer nicht bekannten Sünde auf dem Gewissen. Wir können dann vielleicht von Gemeinschaft reden, aber es ist nur eine Täuschung. Wir müssen ein reines Gewissen be­wahren, wenn wir unseren Weg mit Gott gehen wollen. Nichts ist mehr zu fürchten als moralische Gleichgültigkeit, ein nachlässiges Gewissen und ein abgestumpfter Sinn, der Dinge ungerichtet durch­gehen lassen kann; der sündigt, darüber hinweggeht und ganz kühl sagt: "Was habe ich denn Böses getan7"

 

Seien wir mit heiliger Wachsamkeit davor auf der Hut! Bemühen wir uns um ein zartes Gewissen! Das wird bei uns dasselbe erfordern, was es auch bei Paulus erforderte, nämlich "Übung". Doch es ist eine geseg­nete Übung, und sie wird sehr wertvolle Früchte tragen. In der Tat enthalten die schönen Worte des Paulus in gedrängter Form die ganze Praxis des Christen. "Allezeit ein Gewissen ohne Anstoß vor Gott und den Menschen zu haben" schließt alles in sich ein.

 

Aber wie wenig erwägen wir leider gewöhnlich die Ansprüche Gottes oder die Ansprüche unserer Mitmenschen! Wie wenig ist unser Gewissen das, was es sein sollte! Pflichten aller Art werden vernach­lässigt, und wir merken es nicht einmal. Wir beugen uns nicht vor dem Herrn. Wir sündigen in tausend Dingen, und dennoch kennen wir kein Bekenntnis und keine Wiedererstattung. Wir gehen über vieles hin­weg, das gerichtet, bekannt und weggetan werden müßte. Es gibt Sünde in heiligen Dingen; da ist Leichtsinn und Gleichgültigkeit des Geistes in der Versammlung und am Tisch des Herrn; wir berauben Gott auf verschiedene Weise; wir denken unsere eigenen Gedanken, sprechen unsere eigenen Worte, tun, was wir wollen. Und ist das alles etwas anderes als Gott berauben, da wir doch nicht uns selbst gehören, sondern mit einem Preis erkauft sind? Nun, alles das muß unser geist­liches Wachstum in trauriger Weise beeinflussen. Es betrübt den Geist Gottes und hindert den Dienst der Gnade Christi an unserer Seele, durch den allein wir zu Ihm hin wachsen können. Wir wissen aus ver­schiedenen Stellen des Wortes Gottes, wie sehr Er einen demütigen Geist und ein zerschlagenes Herz schätzt. "Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Worte" (Jes. 66, 2). Bei einem solchen kann Gott wohnen; aber mit Härte und Gefühllosigkeit, Kälte und Gleichgültig­keit kann Er keine Gemeinschaft haben. Oben wir uns darum doch, allezeit ein reines, nicht anklagendes Gewissen zu haben, sowohl vor Gott als auch vor unseren Mitmenschen!

 

Der dritte und letzte Abschnitt unseres Kapitels, auf den wir nicht ausführlich einzugehen brauchen, gibt uns eine tiefe und ernste Lehre, mögen wir ihn nun vom Standpunkt der Maßnahmen Gottes oder vom moralischen Standpunkt aus betrachten. Er enthält die Verordnung über die Eifersuchtsprobe. Der Platz, den diese Verordnung hier ein­nimmt, ist bemerkenswert. Der erste Abschnitt behandelt das Gericht der Gesamtheit des Volkes Über das Böse; der zweite das persönliche Selbstgericht, das Bekenntnis und die Erstattung; der dritte aber zeigt, daß Gott nicht einmal den Verdacht des Bösen ertragen kann.

 

Ohne Zweifel hat diese eindrucksvolle Verordnung Bedeutung für das Verhältnis zwischen dem HERRN und dem Volk Israel. Die Propheten vergleichen Israel häufig mit einer Frau, deren Betragen den HERRN zur Eifersucht reizt. Es finden sich viele derartige Stellen bei Jeremia und Hesekiel. Israel konnte die durchdringende Probe des Wassers der Bitterkeit nicht bestehen. Seine Untreue ist offenbar geworden. Es hat sein Gelübde gebrochen. Es hat sich von seinem Ehemann, dem Hei­ligen Israels, abgewandt, dessen brennende Eifersucht über das untreue Volk ausgeschüttet worden ist. Er ist ein eifersüchtiger Gott, und Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß sich das Herz, das Er als Sein Eigentum beansprucht, einem anderen zuwendet.

 

Wir sehen also, daß diese Verordnung sehr deutlich den Charakter Gottes zeigt. Gott bedient sich hier der Form der Gedanken und Ge­fühle eines beleidigten Ehemanns, bzw. eines solchen, der eine Belei­digung sogar nur vermutet. Schon der Argwohn kann nicht geduldet werden, und wo er von einem Herzen Besitz ergreift, da muß die Sache bis auf den Grund erforscht und geprüft werden. Die verdächtigte Per­son muß sich einer solchen Probe unterziehen, wie sie nur jemand, der treu ist, ertragen kann. Wenn da die Spur einer Schuld vorhanden war, so würde das Wasser der Bitterkeit in die Tiefen der Seele eindrin­gen und alles ans Licht bringen. Es gab kein Entrinnen für die Schul­dige, aber gerade das macht die Rechtfertigung der Unschuldigen um so triumphierender. Derselbe Vorgang, der die Schuld der Schuldigen auf­deckte, legte die Unschuld der Treuen offen dar. je strenger die Unter­suchung war, um so willkommener mußte sie dem sein, der sich seiner Lauterkeit bewußt war. Wenn durch einen Mangel in der Art der Probe für die schuldige Frau die Möglichkeit eines Entrinnens gegeben gewe­sen wäre, so wäre das nur zum Nachteil der unschuldigen Frau gewesen. Aber das Verfahren war göttlich und darum vollkommen. Wenn des­halb die Frau, die verdächtigt wurde, sicher durch die Prüfung hin­durch gegangen war, so war ihre Treue vollkommen ans Licht gebracht und das Vertrauen restlos wiederhergestellt.

 

Welche Gnade war es also, einen so vollkommenen Weg zu gehen, auf dem alle zweifelhaften Fälle richtig entschieden werden konnten! Argwohn ist der Todesstoß für jede vertraute Gemeinschaft, und Gott wollte ihn in der Mitte Seiner Versammlung nicht haben. Er wollte nicht nur, daß Sein Volk insgesamt das Böse verurteilte und daß der einzelne sich persönlich richtete, sondern Er verordnete auch da, wo nur der Verdacht des Bösen vorlag, ohne daß ein Beweis dafür erbracht werden konnte, eine Probe, die die Wahrheit vollständig ans Licht bringen mußte. Die Schuldige mußte den Tod trinken und fand darin das Gericht. *) Die Treue trank den Tod und fand darin den Sieg.

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*) Der "Staub vom Fußboden der Wohnung" kann als das Bild des Todes betrachtet werden. "In den Staub des Todes legst du mich" (Ps. 22, 15). Das Wasser ist ein Bild des Wortes, das, nachdem es durch die Kraft des Heiligen Geistes auf das Gewissen angewendet ist, alles offenbar macht. Wenn irgendeine Untreue gegen Christus, den wahren Bräutigam Seines Volkes, vorliegt, so muß sie völlig gerichtet werden. Das galt für das Volk Israel, es gilt für die Kirche Gottes und für den einzelnen Gläubigen. Wenn das Herz dem Herrn nicht treu ist, so ist es für sie um so besser, je mehr sie geprüft und erprobt wird. Wie gesegnet ist es, wenn wir in Wahrheit sagen können: "Er­forsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne meine Gedanken1 Und sieh, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf ewigem Wege!" (Ps. 139, 23. 24.)

 

Kapitel 6

 

DER NASIR

 

Die Verordnungen bezüglich des Nasirs sind interessant und lehrreich. Sie zeigen, wie sich jemand auf besondere Weise absondert, und zwar

von Dingen, die, obwohl sie an und für sich nicht böse sind, dennoch einer von ganzem Herzen praktizierten Absonderung, die in dem Stand des Nasirs ihren Ausdruck findet, schaden konnten.

 

Vor allem sollte der Nasir keinen Wein trinken. Die Frucht des Wein­stocks in jeder Form war ihm verboten. Nun ist der Wein, wie wir wissen, das Sinnbild irdischer Freude, der Ausdruck derjenigen gesell­schaftlichen Genüsse, zu denen wir von Natur aus eine so starke Neigung haben. Der Nasir in der Wüste sollte sich davon enthalten. Er mußte sich buchstäblich nach den Verordnungen richten. Er sollte sich nicht durch starke Getränke aufreizen. Während der ganzen Zeit seiner Absonderung war er berufen, sich streng von Wein zu enthalten. Die Verordnungen bezüglich des Nasirs stehen in Einklang mit dem Charakter des 4. Buches Mose, das, wie schon bemerkt worden ist, alles enthält, was mit dem Wüstenleben in Verbindung steht. Wir wollen deshalb untersuchen, welche Belehrung für uns darin liegt, daß sich der Nasir von allem, was zum Weinstock gehörte, "von den Kernen bis zur Hülse", enthalten sollte.

 

 

Es hat in dieser Welt nur einen wahren und vollkommenen Nasir gege­ben, nur Einen, der vom Anfang bis zum Ende Seines Weges sich vollständig von jeder rein irdischen Freude getrennt hielt. Von dem Augenblick an, da Er Sein öffentliches Werk begann, hielt Er Sich von allem fern, was von dieser Welt war. Sein Herz war mit einer Hingabe, die nichts erschüttern konnte, auf Gott und Sein Werk gerichtet. Nie­mals erlaubte Er irgendwelchen Ansprüchen der Erde oder der Natur, zwischen Sein Herz und das Werk zu treten, das zu vollenden Er gekom­men war Wußtet ihr nicht, daß ich in dem sein muß, was meines Vaters ist7" und: "Was habe ich mit dir zu schaffen, Weib?" Mit solchen Worten wies der wahre Nasir die Ansprüche der Natur zurück an ihren wahren Platz. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und für diese Aufgabe sonderte Er sich vollkommen ab. Sein Auge war einfältig und Sein Herz ungeteilt. Das wird in Seinem ganzen Leben deutlich. Er konnte zu Seinen Jüngern sagen: "Ich habe eine Speise zu essen, die ihr nicht kennet", und als sie dann, weil sie die tiefe Bedeutung Seiner Worte nicht verstanden, fragten: "Hat ihm wohl jemand zu essen gebracht?" antwortete Er: "Meine Speise ist, daß ich den Willen dessen tue, der mich gesandt hat, und sein Werk vollbringe" (Joh. 4). So hören wir ihn auch am Ende Seiner Laufbahn hier auf der Erde, als Er den Kelch, des Passahmahles in Seine Hand nahm, die Worte sprechen: "Nehmet diesen und teilet ihn unter euch. Denn ich sage euch, daß ich nicht von dem Gewächs des Weinstocks trinken werde, bis daß das Reich Gottes komme" (Luk. 22, 17. 18).

 

Wir sehen hier den Verhaltensgrundsatz des vollkommenen Nasirs. Er konnte weder an der Erde noch am Volk Israel Freude haben. Die Zeit dafür war noch nicht gekommen, und darum trennte Er sich von allem, was eine rein menschliche Liebe in der Verbindung mit den Seinen fin­den konnte, um sich dem einen großen Ziel zu widmen, das immer vor Seiner Seele stand. Die Zeit, in der Er sich als der Messias an Seinem Volk und an der Erde erfreuen wird, wird kommen; aber bis zu diesem segensreichen Augenblick bleibt Er als der wahre Nasir abgesondert, und Sein Volk ist mit Ihm verbunden. Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin. Heilige sie durch die Wahrheit: dein Wort ist Wahrheit. Gleichwie du mich in die Welt gesandt hast, habe au ich sie in die Welt gesandt; und ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit" (Joh. 17, 16‑19)

 

Dieser am meisten auffallende Charakterzug des Nasirs ist es wert, daß wir gründlich über ihn nachdenken. Es ist wichtig für uns, daß wir uns in seinem Licht aufrichtig prüfen. Die Frage ist, bis zu welchem Grad wir als Christen die Bedeutung und Kraft der völligen Absonde­rung von den Wünschen der Natur und rein irdischen Freuden verste­hen. Es handelt sich hierbei nicht darum, ob dies oder jenes schaden könnte. Der Wein an sich schadete nichts, und in der Frucht des Wein­stocks war an und für sich nichts Schlechtes. Doch entscheidend war. ­Wenn jemand sich vornahm, ein Nasir zu sein, wenn er nach dieser heiligen Absonderung für den Herrn strebte, dann mußte er gänzlich dem Genuß von Wein und starken Getränken entsagen. Andere moch­ten Wein trinken, aber der Nasir durfte ihn nicht anrühren.

 

Auch uns stellt sich die Frage: Streben wir danach, Nasire zu sein? Seh­nen wir uns nach einer völligen Absonderung und Hingabe unserer ganzen Person, d. h. nach einer Absonderung, nach Leib, Seele und Geist für Gott? Wenn dies der Fall ist, dann müssen wir allem fernblei­ben, was lediglich unserer Natur Freude macht. Das ist der Angelpunkt, um den sich die ganze Frage dreht. Die Frage ist nicht etwa: "Sollen wir Mönche werden?", sondern: "Möchten wir Nasire sein?" Ist es der Wunsch unseres Herzens, uns aller rein irdischen Freuden zu enthalten ‑ wie Christus unser Herr ‑, uns für Gott von all den Dingen zu tren­nen, die, wenn sie auch nicht gerade böse sind, dennoch die völlige Hin­gabe des Herzens, in der das wahre Geheimnis alles geistlichen Nasir­tums besteht, verhindern? Es gibt viele Dinge, die einen zerstreuenden und schwächenden Einfluß auf den Geist des Gläubigen ausüben, die aber, wenn sie nach dem Maßstab der gewöhnlichen Sittenlehre gemes­sen würden, als harmlos bezeichnet werden könnten.

 

Vergessen wir nie, daß die Nasire Gottes die Dinge nicht nach einem solchen Maßstab messen! Sie betrachten die Dinge von einem göttlichen und himmlischen Standpunkt aus, und deshalb können sie nichts als harmlos hinnehmen, was in irgendeiner Weise ihre Hingabe an Gott beeinträchtigt, nach der ihre Seele verlangt.

 

Der Herr gebe uns Gnade, daß wir diese Dinge erwägen und daß wir gegen jeden schädlichen Einfluß wachen. Jeder muß wissen, was in seiner Umwelt auf ihn wie Wein und starkes Getränk wirken würde. Man mag diese Überlegungen für kleinlich halten; aber könnte etwas kleinlich sein, was die innige Gemeinschaft unserer Seele mit Gott unterbricht, die zu kennen unser Vorrecht ist?

 

Aber es gab noch etwas anderes, was den Nasir kennzeichnete: er sollte sein Haupt nicht scheren. "Alle die Tage des Gelübdes seiner Absonde­rung soll kein Schermesser über sein Haupt gehen; bis die Tage erfüllt sind, die er sich für den HERRN absondert, soll er heilig sein; er soll das Haar seines Hauptes frei wachsen lassen" (V. 5).

 

In 1. Kor. 11, 14 erfahren wir, daß es für einen Mann eine Unehre ist, wenn er langes Haar trägt. "Lehrt euch nicht selbst die Natur, daß, wenn ein Mann langes Haar hat, es eine Unehre für ihn ist?" Daraus lernen wir, daß zur Absonderung für Gott die Bereitschaft gehört, unsere natürliche Ehre oder Würde aufzugeben. Unser Herr tat es vollkommen. Er erniedrigte sich. Er entsagte Seinen Rechten in allen Dingen. Er konnte sagen: "Ich bin ein Wurm und kein Mann." Er machte sich selbst zu nichts und nahm den letzten Platz ein. Er ver­nachlässigte sich selbst, während Er für andere sorgte.

 

Gerade dies aber tun wir so ungern. Wer stehen naturgemäß für unsere Ehre ein und suchen unsere Rechte geltend zu machen. Man hält solches Verhalten für männlich. Aber der vollkommene Mensch, Christus Jesus, handelte nicht so, und wenn wir Nasire zu sein wünschen, dann werden wir es auch nicht tun. Wir müssen der Würde der Natur entsagen und auf die Freuden der Erde verzichten, wenn wir in dieser Welt den Weg der völligen Absonderung für Gott gehen wollen.

 

Beachten wir auch hier wieder, daß es sich nicht um die Frage handelt, was recht oder unrecht ist. Für einen Menschen war es an sich recht, sich zu scheren oder Wein zu trinken; aber es war nicht recht, ja es war sogar ganz verkehrt, wenn ein Nasir es tat. Der Nasir war eben kein gewöhnlicher Mensch. Er war von allem, was üblich war, abgesondert, um einen besonderen Weg zu gehen, und er hätte diesen Weg verlas­sen, wenn er ein Schermesser gebraucht oder Wein angerührt hätte. Wenn darum jemand fragt: "ist es nicht recht, die Freuden der Erde zu genießen und die Würde der Natur zu bewahren?", dann ist die Ant­wort: "Es ist recht, falls wir wie alle anderen einfach als Menschen leben wollen; aber es ist ganz und gar verkehrt, wenn wir als Nasire zu leben wünschen."

 

Das macht Sache sehr einfach und antwortet auf tausend Einwände. Die Frage ist lediglich: "Was ist unser wirkliches Ziel?" Möchten wir uns nur wie alle Menschen betragen, oder möchten wir als wirklicher Nasir leben? Nach der Sprache von 1. Kor. 3, 3 sind die Ausdrücke: "nach Menschenweise wandeln" und "fleischlich" gleichbedeutend. Emp­finden wir die Bedeutung, die Kraft einer solchen Schriftstelle, oder werden wir von dem Geist und den Grundsätzen einer Welt regiert, die ohne Gott und ohne Christus ist' Wir ersehen in 4. Mose 6, daß ein Nasir das Haupt seiner Weihe verunreinigte, wenn er Wein trank oder sein Haar schor. Das lehrt uns klar und deutlich, daß wir uns der Freu­den der Erde enthalten und die Ehre und die Rechte der Natur verleug­nen müssen, wenn unsere Seele einen Weg völliger Absonderung für Gott gehen will. Es kann nicht anders sein, weil Gott und Welt, Fleisch und Geist sich nie miteinander vereinigen können. Die Zeit wird kommen, wo es anders sein wird; aber jetzt müssen alle, die für Gott leben und im Geist wandeln wollen, von der Welt getrennt leben und "die Handlungen des Leibes töten". Gott wolle uns in Seiner großen Gnade befähigen, das zu tun!

 

Noch eine letzte Eigenart des Nasirs muß erwähnt werden: Er sollte keinen Toten anrühren. "Alle die Tage, die er sich für den HERRN absondert, soll er zu keiner Leiche kommen. Wegen seines Vaters und wegen seiner Mutter, wegen seines Bruders und wegen seiner Schwe­ster, ihretwegen soll er sich nicht verunreinigen, wenn sie sterben; denn die Weihe seines Gottes ist auf seinem Haupte."

 

Ob es sich um das Trinken von Wein, das Scheren des Haares oder das Anrühren eines Toten handelte, die Wirkung war dieselbe: Durch jede dieser Handlungen wurde die Weihe eines Nasirs in gleicher Weise unrein. Die Weihe stellte einen solchen Menschen auf einen völlig neuen und besonderen Boden und machte es ihm zur Pflicht, alles von einem neuen und besonderen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Er hatte nur zu fragen, was ihm als Nasir angemessen war. Wenn daher sein liebster Freund tot neben ihm lag, sollte er ihn doch nicht anrühren. Er war berufen, sich von dem verunreinigenden Einfluß des Todes fernzu­halten, weil Aie Weihe seines Gottes auf seinem Haupte war".

 

Es ist zu beachten, daß es in dem, was der Nasir darstellt, keinesfalls um die Errettung, das ewige Leben oder die völlige Sicherheit des Gläu­bigen in Christus geht. Es gibt im Christentum zwei wichtige Verbin­dungen, die, obwohl sie eng miteinander verbunden, doch vollkommen verschieden sind: das Band des ewigen Lebens und das Band der per­sönlichen Gemeinschaft. Jenes kann durch nichts, dieses dagegen kann in einem Augenblick durch die geringste Ursache zerrissen werden. Das Bild vom Nasir bezieht sich auf das letztere.

 

Wie gesagt, sahen wir in der Person des Nasirs das Bild eines Men­schen, der eine besondere Hingabe an Christus zeigt. Die Kraft dafür, auf diesem Weg zu bleiben, liegt in der verborgenen Gemeinschaft mit Gott, so daß die Kraft verschwunden ist, wenn diese Gemeinschaft unterbrochen wird. Das macht die Sache so besonders ernst. Es ist sehr gefährlich, einen Weg verfolgen zu wollen ohne die Quelle der hierzu nötigen Kraft. In dieser Beziehung sollten wir äußerst wachsam sein. Nichts ist gefährlicher, als den Schein, man sei ein "Nasir" zu wahren, während die innere Wirklichkeit verschwunden ist. Es ist weit besser, unsere Fehler zu bekennen und unseren wirklichen Platz einzunehmen, als etwas vortäuschen zu wollen, was wir nicht sind. Gott will Wirk­lichkeit haben, und wir können sicher sein, daß früher oder später unsere Schwäche und Torheit allen offenbar werden wird. Es ist traurig und demütigend, wenn die "Nasire", die "reiner als Schnee" waren, ,dunkler als Schwärze" werden; aber noch weit schlimmer ist es, wenn die, die so schwarz und dunkel geworden sind, sich den Schein geben, als seien sie weiß.

 

Werfen wir einen Blick auf den ersten Fall Simsons, wie er uns in Richt. 16 dargestellt wird! In einer bösen Stunde verriet er sein Geheimnis und verlor seine Kraft. Er verlor sie, ohne es zu wissen; aber der Feind wußte es auf der Stelle. Es wurde sofort vor allen offenbar, daß der Nasir das Haupt seiner Weihe verunreinigt hatte. "Und es geschah, als Delila ihn alle Tage mit ihren Worten drängte und ihn plagte, da wurde seine Seele ungeduldig zum Sterben; und er tat ihr sein ganzes Herz kund und sprach zu ihr. Kein Schermesser ist auf mein Haupt gekom­men, denn ein Nasir Gottes bin ich von Mutterleibe an; wenn ich ge­schoren würde, so würde meine Stärke von mir weichen, und ich würde schwach werden und würde sein wie alle Menschen" (V. 16. 17).

 

Er verriet das heilige Geheimnis seiner ganzen Kraft. Bis dahin war sein Weg ein Weg der Kraft und des Sieges gewesen, einfach deshalb, weil es der Weg eines heiligen Nasir gewesen war. Aber das Herz Sim­sons wurde von den Verführungen Delilas besiegt, und was tausend Philister nicht hatten ausrichten können, das gelang dem bestrickenden Einfluß einer einzigen Frau. Simson stürzte von der erhabenen Höhe des Nasirs in den Zustand eines gewöhnlichen Menschen hinab.

 

Damit war seine Kraft von ihm gewichen. Der Herr hatte sich von ihm abgewandt, und der einst so kraftvolle Nasir wurde ein Gefangener, dem man die Augen ausstach. Anstatt über die Philister zu triumphie­ren, mußte er fortan in ihrem Gefängnis mahlen. Das sind die Folgen, wenn man der Natur nachgibt. Simson erlangte seine Freiheit nie wieder. Es wurde ihm durch die Barmherzigkeit Gottes gewährt, noch einen Sieg über die Unbeschnittenen davonzutragen; aber dieser Sieg kostete ihn selbst das Leben. Die Nasire Gottes müssen sich selber rein bewahren, oder sie verlieren ihre Kraft. Bei ihnen sind Kraft und Rein­heit untrennbar. Sie können nicht ohne innere Heiligkeit vorangehen und müssen daher immer sorgfältig auf der Hut sein vor Dingen, die das Herz beschäftigen, den Geist zerstreuen und den Grad der Geist­lichkeit verringern. Halten wir uns diese Worte unseres Kapitels alle­zeit vor Augen: "Alle die Tage seiner Absonderung ist er dem HERRN heilig." Heiligkeit ist das große und unerläßliche Merkmal des Nasirs, und zwar vom ersten bis zum letzten Tage; verschwindet sie, so endet auch der Stand als Nasir.

 

Aber, so möchte man fragen, was soll dann geschehen? Unser Schrift­abschnitt gibt uns die Antwort: "Und wenn jemand unversehens, plötzlich, bei ihm stirbt, und er das Haupt seiner Weihe verunreinigt, so soll er sein Haupt an dem Tage seiner Reinigung scheren; am sieben­ten Tage soll er es scheren. Und am achten Tage soll er zwei Turteltau­ben oder zwei junge Tauben zu dem Priester bringen an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft. Und der Priester soll eine zum Sünd­opfer und eine zum Brandopfer opfern, und Sühnung für ihn tun des­wegen, daß er sich an der Leiche versündigt hat; und er soll sein Haupt an selbigem Tage heiligen. Und er soll die Tage seiner Absonderung nochmals für den HERRN absondern und ein einjähriges Lamm zum Schuldopfer bringen; die vorigen Tage aber sind verfallen, denn seine Weihe ist verunreinigt worden" (Kap. 6, 9‑12).

 

Wir finden hier, daß das Versöhnungswerk in seinen beiden wichtigen Seiten die einzige Grundlage war, auf der der Nasir wieder in die Ge­meinschaft zurückgeführt werden konnte. Er hatte sich verunreinigt, und diese Verunreinigung konnte allein durch das Blut des Opfers weggenommen werden. Wir mögen es als eine sehr geringfügige Sache betrachten, einen Leichnam zu berühren, besonders, wenn es in einer solchen Situation geschieht. Man könnte sagen: "Wie konnte der Nasir das Anrühren verhindern, wenn ein Mensch neben ihm plötzlich tot umfiel?" Die Antwort darauf ist einfach und zugleich ernst: Gottes Nasire müssen die persönliche Reinheit bewahren, und außerdem ist der Maßstab, nach dem ihre Reinheit gemessen wird, nicht menschlich, sondern göttlich. Schon das Berühren eines Toten reichte aus, um das Band der Gemeinschaft zu zerreißen, und hätte der Nasir gewagt, weiterzuleben, als ob nichts geschehen wäre, so hätte er den Geboten Gottes nicht gehorcht und ein schweres Gericht über sich gebracht.

 

Aber Gott in Seiner Gnade hat Vorsorge getroffen. Da war das Brandopfer, das Bild des Todes Christi in seiner Beziehung zu Gott, sowie das Sündopfer, das Bild desselben Todes in seiner Beziehung zu uns. Da war außerdem das Schuldopfer, das Bild des Todes Christi, nicht allein in seiner Anwendung auf die Wurzel oder den Grundsatz der Sünde in der Natur, sondern auch auf die gerade begangene Sünde. Und so war die ganze Kraft und Wirkung des Todes Christi nötig, um die Verunreinigung wegzunehmen, die durch das Berühren eines toten Körpers verursacht worden war. Das ist ganz besonders ernst. Die Sünde ist in den Augen Gottes eine furchtbare Sache. Ein einziger sünd­hafter Gedanke, ein sündiger Blick, ein sündhaftes Wort reichen aus, um über die Seele eine schwere und finstere Wolke zu bringen, die unseren Augen das Licht des Angesichts Gottes verbirgt und uns in Not und Elend stürzt.

 

Hüten wir uns also, die Sünde gleichgültig zu behandeln! Denken wir daran, daß, bevor ein einziger Flecken der Sündenschuld beseitigt wer­den konnte, unser Herr durch die unsagbaren Schrecken Golgathas gehen mußte. Allein der bittere Schrei: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" kann uns vielleicht eine in etwa angemessene Vorstellung von dem geben, was Sünde ist, obwohl kein Sterblicher, kein Engel in die unendlichen Tiefen dieser Leiden je eindringen kann. Aber obwohl wir die Tiefen der Leiden Christi niemals erforschen kön­nen, sollten wir es uns doch wenigstens mehr zur Gewohnheit machen, Sein Kreuz und Seine Leiden zu betrachten, um auf diese Weise eine tiefere Erkenntnis von der Abscheulichkeit der Sünde in den Augen Gottes zu gewinnen. Wenn wirklich die Sünde für einen heiligen Gott so schrecklich, so furchtbar ist, daß Er gezwungen war, Sein Angesicht von diesem Einen abzuwenden, der von Ewigkeit her in Seinem Schoß war, als Er Ihn verlassen mußte, weil Er die Sünde an Seinem eigenen Leib auf das Holz trug ‑ was muß dann Sünde sein?

 

Denken wir ernsthaft über diese Dinge nach! Wie oberflächlich denken wir manchmal über das, was es den Herrn Jesus alles gekostet hat ‑nicht nur das Leben, sondern auch das, was besser und wertvoller ist als das Leben: das Licht des Angesichts Gottes. Möchten wir ein tiefes Gefühl von der Häßlichkeit der Sünde haben! Möchten wir doch sehr aufpassen, daß unser Auge nicht in eine verkehrte Richtung sieht! Denn sehr bald wird das Herz dem Auge folgen und die Füße dem Herzen. Ehe wir es ahnen, entfernen wir uns so von dem Herrn, verlieren das Gefühl Seiner Gegenwart und Seiner Liebe und werden unglücklich oder, was noch viel trauriger ist, gleichgültig, kalt, gefühllos, "verhärtet durch Betrug der Sünde".

 

Gott helfe uns, besser vor allem auf der Hut zu sein, was das "Haupt unserer Weihe" verunreinigen könnte! Es ist eine ernste Sache, die Gemeinschaft zu verlieren, und es ist eine sehr gefährliche Sache, wenn man es wagt, mit einem befleckten Gewissen den Dienst für den Herrn fortzusetzen. Wohl ist es wahr, daß die Gnade vergibt und wiederher­stellt; aber wir erlangen nie wieder, was wir verloren haben. Das wird mit allem Nachdruck in der vor uns liegenden Schriftstelle gesagt. Wir lesen: "Und er soll die Tage seiner Absonderung nochmals für den HERRN absondern und ein einjähriges Lamm zum Schuldopfer brin­gen; die vorigen Tage aber sind verfallen, denn seine Weihe ist verun­reinigt worden."

 

Das ist für uns voller Belehrung und Mahnung. Wenn der Nasir sich durch irgend etwas, und war es nur die Berührung eines Toten, verun­reinigt hatte, so mußte er wieder von vorn anfangen. Nicht nur die Tage seiner Verunreinigung waren verloren und galten nichts, sondern auch die vorausgegangenen Tage seiner Absonderung als Nasir.

 

Was lehrt uns dies? Es bezeugt uns jedenfalls das eine, daß wir, wenn wir uns von dem Herrn entfernt haben, zu dem Punkt zurückkehren müssen, von dem aus wir abgewichen sind. Wir finden viele Beispiele dafür in der Schrift, und wir sind klug, wenn wir sie beachten und über die große praktische Wahrheit nachdenken, die sie ans Licht stellen.

 

Betrachten wir z. B. Abraham, wie er nach Ägypten zog (i. Mose 12)! Er war offensichtlich vom richtigen Weg abgewichen. Und was war die Folge? Diese Zeit war verloren, und Abraham mußte zu dem Punkt zurückkehren' von wo er abgeirrt war, und von neuem beginnen. So lesen wir in 1. Mose 12, 8: "Und er brach auf von dannen nach dem Gebirge ostwärts von Bethel und schlug sein Zelt auf, Bethel gegen Westen und Ai gegen Osten; und er baute daselbst dem HERRN einen Altar und rief den Namen des HERRN an." Dann, nach seiner Rück­kehr aus dem Land Ägypten, heißt es: "Und er ging auf seinen Zügen von Süden bis Bethel, bis zu dem Orte, wo im Anfang sein Zelt gewe­sen war, zwischen Bethel und Ai, zu der Stätte des Altars, den er zuvor daselbst gemacht hatte. Und Abram rief daselbst den Namen des HERRN an" (i. Mose 13, 3. 4). Die ganze in Ägypten verbrachte Zeit galt nichts. Es gab dort keinen Altar, keinen Gottesdienst, keine Ge­meinschaft, und Abraham mußte an den Ort zurückkehren, von dem er ausgegangen war, und mußte von neuem anfangen.

 

So ist es in allen Fällen, und das erklärt, wieso manche von uns in ihrem praktischen Leben so langsam Fortschritte machen. Wir fallen, wenden uns ab, entfernen uns vom Herrn und geraten in geistliche Dunkelheit. Wenn uns dann Seine Stimme der Liebe in wiederherstel­lender Kraft ruft, so führt sie uns an den Punkt zurück , von dem wir abgeirrt waren. Unsere Seele wird wiederhergestellt; aber wir haben Zeit verloren und einen unberechenbaren Verlust erlitten. Wie ernst ist das, und wie sollte uns das dazu bringen, daß wir mit heiliger Wach­samkeit leben, so daß wir unseren Weg nicht zweimal machen müssen und verlieren, was nie wieder gewonnen werden kann! Wohl geben uns unsere Verirrungen, unser Straucheln und unser Fallen einen Einblick in unser Herz; diese Erfahrungen lehren uns, uns selbst zu mißtrauen, und sie zeigen uns die unveränderte Gnade Gottes. Aber wie wahr das auch ist, so gibt es doch ein viel besseres Mittel, uns selbst und Gott kennenzulernen, als dies, daß wir uns verirren und fallen. Das Ich in der ganzen schrecklichen Bedeutung dieses Wortes sollte in dem Licht der Gegenwart Gottes gerichtet werden, und hier sollte auch unsere Seele wachsen in der Erkenntnis Gottes, so wie Er sich durch den Hei­ligen Geist in Jesus Christus und in der Heiligen Schrift offenbart. Das ist gewiß ein besserer Weg, um sowohl uns selbst als auch Gott ken­nenzulernen, und das ist auch die Kraft aller wirklichen nasiräischen Absonderung.

 

Der Abschnitt schließt mit dem "Gesetz des Nasirs" (V. 13‑21). Dieses Gesetz lenkt unseren Blick vorwärts auf etwas Zukünftiges, auf die Zeit, wo das ganze Ergebnis des Werkes Christi ans Licht treten wird und Er am Ende Seiner nasiräischen Absonderung als der Messias Israels wahre Freude an Seinem geliebten Volk und an dieser Erde haben wird. Dann wird für den Nasir die Zeit gekommen sein, Wein zu trinken. Von alledem hielt Er sich getrennt, um das große Werk zu vollbringen, das nach allen seinen Seiten und in allen seinen Bedeutun­gen in dem "Gesetz des Nasirs" dargestellt ist. Er ist von dem Volk getrennt, von dieser Welt getrennt in der Kraft eines vollkommenen Nasirs, so wie Er in jener denkwürdigen Nacht zu Seinen Jüngern sagte: "Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken, bis an jenem Tage, da ich es neu mit euch trinken werde in dem Reiche meines Vaters" (Matth. 26, 29).

 

Doch der strahlende Tag kommt, an dem der HERR und Messias über Jerusalem frohlocken und an Seinem Volk sich erfreuen wird. Die Pro­pheten von Jesaja bis Maleachi sind voll herrlicher Hinweise auf diesen glänzenden und segensreichen Tag. Wenn man z. B. die letzten Kapitel des Propheten Jesaja nachschlägt, findet man eine Probe davon. Aber auch in den anderen prophetischen Büchern gibt es viele ähnliche Stel­len. Nur möge man sich nicht irre machen lassen durch die in manchen Bibelübersetzungen enthaltenen, nicht zum Text gehörenden Ober­schriften, die sich auf die Zukunft Israels beziehen; die Überschriften lauten da z. B. manchmal: "Die Segnungen des Evangeliums", "die Ausbreitung der Kirche" usw. In Wirklichkeit wird vom Anfang bis zum Ende der Propheten nicht eine Silbe von der Kirche gesagt. Daß die Kirche in diesem Teil des inspirierten Wortes wertvolle Belehrun­gen, Trost und Erbauung finden kann, ist wahr, und ebenso wahr ist es, daß in "Mose und den Propheten" überall Dinge sind, die den Herrn selbst betreffen. Das geht aus Luk. 24, 27 klar hervor. Aber es bezieht sich auf Ihn in Seiner Regierung über diese Welt und insbeson­dere über Israel. Wenn wir diese Tatsache nicht begreifen, so werden wir das Alte Testament mit wenig Verständnis und Nutzen lesen.

 

Vielleicht mag es manchem als starke Behauptung erscheinen, wenn man sagt daß sich im ganzen Alten Testament keine Spur von der Kirche findet. Jedoch einige Zeilen, die der Apostel Paulus schrieb, wer­den die Frage für jeden lösen, der sich wirklich der Autorität der Hei­ligen Schrift unterwerfen will. So lesen wir in Röm. 16, 25‑26: "Dem aber, der euch zu befestigen vermag nach meinem Evangelium und der Predigt von Jesus Christus, nach der Offenbarung des Geheimnisses, das in den Zeiten der Zeitalter verschwiegen war, jetzt aber geoffen­bart und durch prophetische Schriften [offenbar des Neuen Testa­ments], nach Befehl des ewigen Gottes, zum Glaubensgehorsam an alle Nationen kundgetan worden ist".

 

Ebenso lesen wir in Eph. 3. Dieserhalb ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Nationen, ‑ wenn ihr anders gehört habt von der Verwaltung der Gnade Gottes, die mir in bezug auf euch gegeben ist, daß mir durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan worden, (wie ich es zuvor in kurzem beschrieben habe, woran ihr im Lesen merken könnt mein Verständnis in dem Geheimnis des Christus,) wel­ches in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kund­getan worden, wie es jetzt geoffenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten im Geiste *): daß die aus den Nationen Mit­erben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber seiner Verheißung in Christo Jesu durch das Evangelium ... Mir, dem Allergeringsten von allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden (unter) den Nationen den unausforschlichen Reichtum des Christus zu verkündigen, und alle zu erleuchten, welches die Verwaltung des Geheimnisses sei, das von den Zeitaltern her verborgen war in Gott, der alle Dinge geschaffen hat; auf daß jetzt den Fürstentümern und den Gewalten in den himmlischen Örtern durch die Versammlung kundgetan werde die gar mannigfaltige Weisheit Gottes" (V. ‑1‑10).

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*) Die Propheten, von denen hier die Rede ist, sind, wie aus der Form des Ausdrucks hervorgeht, diejenigen des Neuen Testaments. Hätte der Apostel alttestamentliche Propheten gemeint, so hätte er gesagt: "Seine heiligen Propheten und Apostel". Aber die Sache, auf die er dringt, ist gerade die, daß das Geheimnis bis zu dieser Zeit nie geoffenbart worden war, daß es den Söhnen der Menschen in anderen Zeitaltern nicht kundgetan worden ist, daß es in Gott ‑ nicht in den Schriften, sondern in den unendlichen Gedanken Gottes ‑ verborgen war.

 

Doch können wir dieses Thema, so interessant es ist, hier nicht weiter verfolgen. Wir haben diese Schriftstellen nur angeführt, um zu zeigen, daß sich die Lehre über die Kirche, wie Paulus sie mitgeteilt hat, im Alten Testament nirgends findet. Wenn man daher in den Büchern der Propheten des Alten Testaments die Wörter "Israel", "Jerusalem".. "Zion" liest, sind diese Ausdrücke nicht auf die Kirche Gottes anzu­wenden; diese Ausdrücke meinen das eigentliche Volk Israel, den Samen Abrahams, das Land Kanaan und die Stadt Jerusalem**)

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**) Dies bezieht sich natürlich nur auf das Alte Testament. Es gibt in den Briefen an die Römer und an die Galater Abschnitte, in denen alle Gläubigen als der Same Abrahams betrachtet werden (vgl. Röm. 4, 9‑17; Gal. 3, 7. 9. 29; 6, 16). Doch ist das augenscheinlich etwas anderes.

 

Hiermit sind wir am Schluß eines deutlichen Abschnittes des vierten Buches Mose angelangt. Das Lager ist in passender Weise eingerichtet.

 

jeder Krieger nimmt seinen besonderen Platz ein (Kap. 1 u. 2). jeder Arbeiter ist an seine eigene Arbeit gestellt (Kap. 3 u. 4). Die Versamm­lung ist von Verunreinigung gereinigt (Kap. 5), und für den erhabenen Charakter der Absonderung für Gott ist Vorsorge getroffen (Kap. 6). Alles das ist sehr genau beschrieben. Die Ordnung ist von beeindruk­kender Schönheit. Wir haben nicht nur ein gereinigtes und wohlgeord­netes Lager vor uns, sondern auch eine Weihe für Gott, die unmöglich höher sein könnte und die in vollkommener Weise allein in dem Leben unseres Herrn Jesus Christus selbst zu sehen ist. Nachdem dieser Punkt erreicht ist, bleibt für den HERRN nur noch eins: Seinen Segen über die ganze Versammlung auszusprechen, und wir finden demzu­folge auch diesen Segen am Ende des 6. Kapitels.

 

"Und er HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu Aaron und zu seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr die Kinder Israel segnen; spre­chet zu ihnen: der HERR segne dich und behüte dich! Der HERR lasse sein Angesicht über dir leuchten und sei dir gnädig! Der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden! ‑ Und so sollen sie mei­nen Namen auf die Kinder Israel legen, und ich werde sie segnen."

 

Dieser reiche Segen strömt durch den Kanal des Priestertums. Aaron und seine Söhne werden beauftragt, den Segen auszusprechen. Die Ge­meinde Gottes muß fortwährend von dem HERRN gesegnet und be­wahrt werden. Immer soll sie sich freuen über das gnadenvolle Ange­sicht des HERRN. Ihr Friede soll fließen wie ein Strom. Der Name des HERRN soll über der Gemeinde angerufen werden. Er ist immer da, um zu segnen.

 

Was für eine Vorsorge! Hätte doch Israel davon wirklich Gebrauch gemacht, hätte es doch in dieser Kraft gelebt! Aber das Volk tat es nicht. Sie wandten sich schnell ab, wie wir sehen werden. Sie ver­tauschten das Licht des Angesichts Gottes mit der Finsternis des Berges Sinai. Sie verließen den Boden der Gnade und stellten sich unter das Gesetz. Anstatt mit dem zufrieden zu sein, was ihnen in dem Gott ihrer Väter zugeteilt worden war, gelüstete es sie nach anderen Dingen (vgl. PS. 105 u. 106). Anstelle der Ordnung, der Reinheit und der Absonde­rung für Gott, womit unser Buch beginnt, sehen wir Unordnung, Un­reinheit und Hingabe an den Götzendienst.

 

Doch es kommt der Augenblick, wo der herrliche Segen von 4. Mose 6 seine volle Verwirklichung finden wird. dann nämlich, wenn die zwölf Stämme Israels um das unvergängliche Banner "Der HERR daselbst" (Hes. 48, 35) versammelt, wenn sie von all ihrer Befleckung gereinigt und in der Kraft wahrer Nasire dem Herrn geweiht sein werden. Diese Dinge werden überall in den Propheten sehr klar dargestellt. Alle diese inspirierten Zeugen geben ohne Ausnahme Zeugnis von der zukünf­tigen Herrlichkeit, die das Volk Israel noch erwartet. Sie alle weisen auf die Zeit hin, wo die schweren Wolken, die sich am Horizont der Völker gesammelt haben, durch die glänzenden Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit aufgelöst werden. Dann wird Israel einen wolkenlosen Tag des Segens und der Herrlichkeit genießen, und zwar unter den Weinstöcken und Feigenbäumen des Landes, das Gott einst Abraham, Isaak und Jakob zum ewigen Besitztum gab.

 

Wollen wir das Gesagte leugnen, so müssen wir einen großen Teil des Alten und einen beträchtlichen Teil des Neuen Testaments aus unserer Bibel herausschneiden; denn in dem einen wie in dem anderen bezeugt der Heilige Geist klar und unwiderleglich die wunderbare Tatsache der Gnade, des Heils und des Segens für den Samen Jakobs. Es gibt für das geliebte, obwohl jetzt verworfene Volk Gottes eine glänzende Zukunft. Achten wir darauf, wie wir diese Tatsache behandeln! Es ist sehr ernst, wenn man versucht, in irgendeiner Weise seine eigenen Ge­danken mit dem Wort Gottes zu vermischen. Wenn Gott sich selbst verpflichtet hat, das Volk Israel zu segnen, so sollten wir uns hüten, den Strom des Segens in eine andere Richtung zwingen zu wollen. Gott hat erklärt, daß es Sein Vorsatz sei, dem Samen Jakobs das Land Kanaan zum ewigen Besitz zu geben. Wenn dies in Frage gestellt

 

wird, dann kann kein Teil des Wortes Gottes mehr mit Sicherheit als unangreifbar betrachtet werden. Wenn wir uns erlauben, einen großen Teil des inspirierten Kanons leichtfertig zu behandeln ‑ und wir tun dies sicherlich, wenn wir das, was er sagt, umzudeuten suchen ‑ welche Sicherheit haben wir dann überhaupt in bezug auf die Anwendung der Schrift? Wenn unterstellt wird, daß Gott nicht meint, was Er sagt, wenn Er von Israel und dem Land Kanaan spricht, wie wissen wir dann, daß Er meint, was Er sagt, wenn Er von der Kirche und von ihrem himmlischen Teil in Christus redet? Wenn Israel seiner herrlichen Zukunft beraubt wird, welche Sicherheit hat dann der Christ für seine Zukunft?

 

Denken wir daran, daß, "so viele der Verheißungen Gottes sind, in ihm das Ja und in ihm das Amen" ist! Wenn wir uns darüber freuen, daß diese wichtige Feststellung im Blick auf uns selbst gilt, laßt uns nicht versuchen, abzustreiten, daß sie auch für andere wahr ist! ja, die Kinder Israel werden noch den vollen Segen genießen, der uns am Ende des 6. Kapitels vorgestellt wird. Bis dahin ist die Kirche berufen, sich über die ihr gehörenden besonderen Segnungen zu freuen. Sie hat das Vorrecht, Gott immer in ihrer Mitte zu wissen, in dem Licht Seines Angesichts zu wohnen, aus dem Strom des Friedens zu trinken und durch ihn, der nie schlummert noch schläft, von Tag zu Tag gesegnet und bewahrt zu werden. Aber beherzigen wir doch auch immer, daß die praktisch erfahrene Freude an diesen unendlichen Segnungen und Vorrechten genau im Verhältnis steht zu dem Maß, in dem die Kirche die Ordnung, die Reinheit und die nasiräische Absonderung zu bewah­ren sucht, wozu sie als die Wohnung Gottes, als der Leib Christi und der Tempel des Heiligen Geistes berufen ist!

 

Möchten diese Dinge unsere Herzen durchdringen und ihren heiligen­den Einfluß auf unser ganzes Leben und auf unser ganzes Wesen ausüben!

 

Kapitel 7

 

DIE ZWÖLF FÜRSTEN UND IHRE OPFERGABE

 

Wir kommen jetzt zu dem längsten Abschnitt des 4. Buches Mose. Er enthält eine ins einzelne gehende Darstellung der Namen der zwölf Fürsten der Versammlung und ihrer Opfergaben im Zusammenhang mit der Aufrichtung der Wohnung (V. 1‑9).

 

Die Betrachtung der Kapitel 3 und 4 hat uns gezeigt, daß die Söhne Kehaths das Vorrecht hatten, diejenigen Werkzeuge und Geräte des Heiligtums zu tragen, die am kostbarsten waren. Darum erhielten sie nichts von den Opfergaben der Fürsten, den "sechs bedeckten Wagen und zwölf Rindern" (V. 9). Es war ihr erhabener und heiliger Dienst, die ihnen anvertrauten Gegenstände auf ihren Schultern zu tragen und auf den Gebrauch von Wagen oder Ochsen zu verzichten. Je genauer wir die Dinge prüfen, die der Sorge und Obhut der Kehathiter anver­traut waren, um so mehr werden wir sehen, daß sie die tieferen und vollkommeneren Offenbarungen Gottes in Christus im voraus bildlich darstellen. Die Gersoniter und Merariter dagegen hatten mit mehr äußerlichen Dingen zu tun. Ihre Arbeit war mühsamer und schwieriger. Deshalb erhielten sie die nötigen Hilfsmittel, die die Fürsten freigebig zu ihrer Verfügung stellten. Ein Kehathiter brauchte in seinem erhabe­nen Dienst die Hilfe eines Wagens oder eines Ochsen nicht. Auf seiner Schulter sollte er die wertvolle Bürde tragen.

 

"Und die Fürsten brachten die Einweihungsgabe des Altars dar an dem Tage, da er gesalbt wurde; und die Fürsten brachten ihre Opfergaben dar vor dem Altar. Und der HERR sprach zu Mose: Je ein Fürst auf einen Tag sollen sie ihre Opfergabe zur Einweihung des Altars dar­bringen" (V. 10. 11).

 

Wenn man das vorliegende, ungewöhnlich lange Kapitel liest, könnte man sich vielleicht die Frage stellen: Warum ist da einer Sache, die in einigen Zeilen mitgeteilt werden könnte, so viel Raum gewidmet? Wenn jemand über diese zwölf Tage einen Bericht gegeben hätte, so hätte er wahrscheinlich alles in eine kurze Angabe zusammengefaßt und uns gesagt, daß jeder der zwölf Fürsten dies oder jenes geopfert habe. Das aber entsprach nicht der Absicht Gottes. Zufriedenstellen konnte Ihn nur der vollständige und ins einzelne gehende Bericht über den Namen jedes Fürsten, den Stamm, den er vertrat, und die Opfergabe, die er dem Heiligtum Gottes darbrachte. Jeder Name wird für sich genannt, jede Opfergabe bis ins kleinste beschrieben und beachtet. Der Mensch mag flüchtig oder achtlos über Gaben und Opfer hinweggehen, Gott aber tut es nie und will es nie. Es ist Seine Freude, jeden kleinen Dienst, selbst jede kleine Liebesgabe zu erwähnen. Er vergißt auch das Ge­ringste nicht. Aber außerdem achtet Er auch mit besonderer Sorgfalt darauf, daß unzählige Menschen den Bericht lesen können. Wie wenig dachten jene zwölf Fürsten daran, daß ihre Namen und Opfergaben so der Nachwelt überliefert werden würden! Dennoch war es der Fall; denn Gott wollte es so. Nicht den Namen eines einzigen Seiner Knechte und nicht einen einzigen Teil ihres Werkes läßt Er aus.

 

So erhält in unserem Kapitel jeder Fürst einen bestimmten Tag für die Darbringung seiner Opfergabe und seinen bestimmten Raum in den Blättern der Heiligen Schrift, wo seine Gaben von dem Heiligen Geist vollständig aufgezählt werden. Das ist göttlich. Dieses 7. Kapitel ist wie ein Probeblatt aus dem Buch der Ewigkeit, in das der Finger Gottes die Namen Seiner Diener und die Aufzählung ihrer Werke eingegraben hat. In 2. Sam. 23 und Röm. 16 findet man zwei ähnliche "Blätter". Auf dem ersten sind die Namen und Taten der Helden Davids verzeichnet, auf dem zweiten die Namen und Taten der Freunde des Apostels Paulus in Rom. Beide sind ein Beispiel für das, was für alle Heiligen Gottes und für alle Diener Christi zu jeder Zeit wahr ist. jeder hat seinen besonderen Platz in der Liste und jeder seinen Platz in dem Herzen des Meisters, und alle werden sie bald offenbar werden. Unter den Helden Davids finden wir "die ersten Drei", "die Drei" und "die Dreißig". Keiner der "Dreißig" erlangte je einen Platz unter den "Dreien", noch kam einer der "Drei" je "den drei Ersten" gleich.

 

Doch nicht nur jeder Name, sondern auch jede Tat ist nach ihrem Wesen und der Art ihrer Ausführung aufgezeichnet. Neben dem Namen des Mannes steht, was er tat und wie er es tat. Der Heilige Geist berichtet alles mit Sorgfalt und Genauigkeit.

 

Dasselbe finden wir in Röm 16. Da ist Phöbe. Wir lesen alles, was sie angeht; was sie war, was sie tat, welch feste Grundlage ihr Anrecht auf die Liebe und Unterstützung der Versammlung hatte. Dann begegnen wir Priscilla und Aquila (die Frau wird zuerst genannt), und es wird uns gesagt, daß sie ihren Hals für das Leben des Apostels dargelegt und damit seinen Dank und den Dank aller Versammlungen der Nationen verdient hatten. Darauf hören wir von "Epänetus, dem Geliebten", und von Maria, die für die Gläubigen nicht nur "gearbeitet", sondern "sehr gearbeitet“ hatte. Es wäre nicht nach dem Sinn des Geistes oder nach dem Herzen Christi gewesen, wenn bloß gesagt worden wäre, Epänetus sei "der Erstling Asiens" gewesen oder Maria habe "gearbei­tet". Nein, die Wörtchen der "Geliebte" und "sehr" waren nötig, um den Zustand eines jeden genau darzustellen.

 

Noch ein Hinweis auf Vers 12. Warum stellt der Schreiber Tryphäna, Tryphosa und Persis, die "Geliebte“, nicht auf gleiche Linie? Warum gibt er ihnen nicht dieselbe Stellung? Der Grund ist wichtig. Er konnte von den beiden ersteren nur sagen, daß "sie im Herrn arbeiteten", während bei der letzteren hinzuzufügen war, daß sie "viel gearbeitet" hatte im Herrn. Auch hier begegnen wir wieder demselben Unterschied wie dem zwischen den "Drei", den "ersten Drei" und den "Dreißig". Es gibt weder eine planlose Aufzählung von Namen und Diensten noch irgendeine Übereilung oder Ungenauigkeit. Es wird uns gesagt, was jeder war und was er tat. Jeder erhält seinen Platz und empfängt sei­nen Lohn, sein Lob.

 

Und dies ist, beachten wir es wohl, nur ein Probeblatt aus dem Buch der Ewigkeit. Wie ernst und doch wie ermutigend ist dies! Es gibt im Dienst für unseren Herrn keine einzige Tat, die nicht in Sein Buch eingetragen wird, und zwar nicht nur ihrem Inhalt, sondern auch der Art ihrer Aus­führung nach; denn Gott nimmt beides wahr. Er hat einen fröhlichen Geber und einen fröhlichen Arbeiter lieb, weil das gerade dem ent­spricht, was Er Selbst ist. Es war Seinem Herzen angenehm, die Frei­gebigkeit zu sehen, die die Vertreter der zwölf Stämme Seinem Heilig­tum gegenüber bewiesen; Er wollte die Taten, die die Helden Davids während seiner Verwerfung vollbrachten, niedergeschrieben und später die Hingebung der Priscilla, des Aquila und der Phöbe aufgezeichnet wissen. Und wir können sicher hinzufügen, daß es Seinem Herzen angenehm ist, in diesen Tagen der Lauheit und des leblosen Bekennt­nisses hier und da ein Herz zu entdecken, das den Herrn Jesus aufrich­tig liebt, und Arbeiter, die mit Hingabe ihr Werk in Seinem Weinberg tun.

 

Kapitel 8

 

DER SIEBENARMIGE LEUCHTER

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu Aaron und sprich zu ihm: Wenn du die Lampen anzündest, so sollen die sieben Lampen vor dem Leuchter hinscheinen. Und Aaron tat also. er zündete seine Lampen an, so daß sie gerade vor dem Leuchter hinschienen, so wie der HERR dem Mose geboten hatte. Und dies war die Arbeit des Leuchters: getriebene Arbeit von Gold; von seinem Fuße bis zu seinen Blumen, alles war getriebene Arbeit; nach dem Bilde, das der HERR dem Mose gezeigt, also hatte man den Leuchter gemacht" (V. 1‑4).

 

Es ist bemerkenswert, daß von den Geräten der Wohnung hier nur der Leuchter erwähnt wird. Wir hören nichts von dem goldenen Altar und nichts von dem goldenen Tisch. Der Leuchter allein steht vor uns, und zwar nicht eingehüllt in seine Decke von blauem Purpur und Dachsfell wie in Kap. 4, wo er wie alles andere in seinem Reisekleid gesehen wird. Hier ist er angezündet und nicht zugedeckt. Er wird nach der Opfergabe der Fürsten und vor der Weihung der Leviten erwähnt; er verbreitet sein geheimnisvolles Licht nach dem Gebot des Herrn. Auf das Licht kann in der Wüste nicht verzichtet werden, und daher muß die Decke von dem goldenen Leuchter gestreift werden, da­mit er als Zeugnis für Gott leuchten kann. Mag es sich nun um die Opfergabe unseres Vermögens handeln, wie es bei den Fürsten der Fall war, oder um die Hingabe unserer Person wie bei den Leviten ‑ laßt uns nie vergessen, daß nur im Licht des Heiligtums der wahre Wert irgendeiner Person oder einer Sache erkannt werden kann.

 

Daher ist die moralische Seite der Ordnung dieses Teils unseres Buches so beeindruckend und schön. Anstatt die Freigebigkeit der Fürsten unmittelbar mit der Weihung der Leviten zu verbinden, wie wir es sicherlich getan hätten, um "unsere Person und unsere Opfergaben" in ununterbrochener Folge zu zeigen, läßt der Geist Gottes das Licht des Heiligtums dazwischentreten, damit wir in diesem Licht den wah­ren Beweggrund aller Freigebigkeit und alles Dienstes in der Wüste kennenlernen.

 

Ist das nicht in moralischer Hinsicht wunderbar angemessen? Warum finden wir hier nicht den goldenen Altar mit seiner Rauchwolke und nicht den reinen Tisch mit seinen zwölf Broten? Weil weder der eine noch der andere die geringste innere Verbindung mit dem Vorher­gehenden und dem Nachfolgenden hat. Der goldene Leuchter aber steht mit beidem in Zusammenhang, indem er uns zeigt, daß alle Frei­gebigkeit und alle Arbeit im Licht des Heiligtums betrachtet werden müssen, wenn man ihren wahren Wert feststellen will.

 

wir haben hier eines der zahlreichen Beispiele, die durch die ganze Schrift verstreut sind und die die göttliche Vollkommenheit des Buches zeigen sollen. Es ist klar, daß das Buch, das unser Vater in Seiner Gnade für uns hat schreiben lassen, unser dürftiges Zeugnis nicht braucht. Aber dennoch möchte ich wegen der vielen Angriffe, die der Feind auf die Wahrheit von der göttlichen Eingebung des Wortes macht, dieses Zeugnis gern geben. Die wahre Quelle und den wahren Charakter aller dieser Angriffe werden wir um so deutlicher erkennen, je mehr wir die unendlichen Tiefen und die göttliche Vollkommenheit des Buches erkennen lernen. Und daher sind die Beweise für ihre Inspiration, die die Heilige Schrift selbst liefert, die durchschlagendsten. Ein Buch, das mir zeigt, wer ich bin, das mir alles sagt, was in meinem Herzen ist, das selbst die tiefsten Triebfedern meiner Natur bloßlegt, mich durch und durch richtet und mir zugleich den offenbart, der mir alles gibt, was ich brauche ‑ ein solches Buch trägt seine Beglaubigung in sich selbst. Es verlangt keine Empfehlungen von Menschen und hat sie auch nicht nötig.

 

Trotzdem aber freuen wir uns über die nach außen sichtbaren Beweise. Wir schätzen alles, was dazu dient, das Vertrauen darauf, daß die Hei­lige Schrift von Gott eingegeben ist, zu stärken. Gewiß, wir haben eine Menge solcher Beweise und Zeugnisse. Die Zusammenstellung des Buches, seine Erhaltung, seine Übersetzung von Sprache zu Sprache, seine Verbreitung über die ganze Erde, seine ganze Geschichte ist ein mächtiger Hinweis auf seinen göttlichen Ursprung. Schon die eine Tatsache, daß es mehr als tausend Jahre erhalten geblieben ist unter der Hand derer, die es, wenn möglich, am liebsten der ewigen Vergessen­heit übergeben hätten, redet eine überzeugende Sprache. Und es gibt viele solcher Tatsachen in der wunderbaren Geschichte dieses unver­gleichlichen Buches.

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu Aaron und sprich zu ihm: Wenn du die Lampen anzündest, so sollen die sieben Lampen gerade vor dem Leuchter hinscheinen." Die sieben Lampen stellen das Licht des Geistes in dem Zeugnis dar. Sie waren mit dem getriebenen Schaft des Leuchters verbunden, der Christus vorstellt, der in Seiner Person und in Seinem Werk die Grundlage für das Werk des Geistes in der Kirche bildet. Alles hängt von Christus ab. Jeder Lichtstrahl in der Kirche, in dem einzelnen Gläubigen oder später in Israel geht von Christus aus.

 

Doch wir lernen noch mehr aus diesem Bild. "Die sieben Lampen sollen gerade vor dem Leuchter hinscheinen.‑ Wenn wir das in die Sprache des Neuen Testaments Übersetzen sollten, würden wir vielleicht die Worte unseres Herrn in Matth. 5, 16 anführen: "Lasset euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen." Wo immer das wahre Licht des Geistes leuchtet, da wird es ein helles Zeugnis für Christus bringen. Es wird die Aufmerksamkeit nicht auf die eigene Per­son, sondern auf Ihn lenken, und das ist das Mittel, Gott zu verherr­lichen. "Die sieben Lampen sollen gerade vor dem Leuchter hinschei­nen."

 

Das ist eine wichtige praktische Wahrheit für alle Christen. Das schön­ste Zeugnis, das von wirklich geistlicher Arbeit gegeben werden kann, ist, daß sie es unmittelbar zum Ziel hat, Christus zu erheben. Wenn die Aufmerksamkeit auf das Werk oder den Arbeiter gelenkt wird, dann ist das Licht düster geworden, und der Diener des Heiligtums muß die Lichtschneuzen gebrauchen. Aarons Amt war es, die Lampen anzuzün­den, und er war es auch, der sie reinigte und in Ordnung brachte. Mit anderen Worten: das Licht, das wir als Christen leuchten lassen sollen, ist nicht nur auf Christus gegründet, sondern wird auch von Ihm wäh­rend der ganzen Nacht unterhalten. Getrennt von Ihm können wir nichts tun. Der goldene Schaft trug die Lampen. Die Hand des Priesters lieferte das Öl und gebrauchte die Lichtschneuzen. Alles ist in Christus, von Christus und durch Christus.

 

ja, noch mehr: alles ist für Christus. Wo immer auch das Licht des Geistes ‑ das wahre Licht des Heiligtums ‑ in der Wüste dieser Welt geleuchtet hat, bestand der Zweck dieses Lichts darin, den Namen Jesu zu erheben. Was durch den Heiligen Geist auch je getan, geredet und geschrieben worden ist, hatte die Verherrlichung dieses hochgelobten Herrn zum Ziel. Wir können ruhig sagen: Alles, was einen anderen Zweck und ein anderes Ziel hat, ist nicht von dem Heiligen Geist, sei es auch, was es wolle. Es gibt manches, was die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen und den menschlichen Beifall wecken kann oder soll, und doch ist vielleicht kein einziger Strahl des Lichts von dem goldenen Leuchter dabei. Warum nicht? Weil Aufmerksamkeit für das Werk oder für die, die damit beschäftigt sind, beansprucht wird. Der Mensch, seine Taten und seine Worte werden erhoben statt Christus. Das Licht wird nicht vom Öl gespeist, das die Hand des großen Hohenpriesters darreicht, und infolgedessen ist es ein falsches Licht. Es ist ein Licht, das nicht "gerade vor dem Leuchter hinscheint", sondern das den Namen oder die Taten irgendeines Sterblichen be­scheint.

 

Alles das ist ernst und fordert, daß wir es genau beachten. Es ist immer gefährlich, wenn ein Mensch oder sein Werk in den Vordergrund treten. Wir dürfen sicher sein, daß Satan seinen Zweck erreicht, sobald die Aufmerksamkeit nicht auf den Herrn Jesus selbst, sondern auf irgend­eine andere Sache oder Person gelenkt wird. Ein Werk kann in größter Einfalt begonnen werden, aber aus Mangel an Wachsamkeit und Geist­lichkeit seitens des Arbeiters kann es sein, daß sich die allgemeine Auf­merksamkeit auf ihn selbst oder auf die Erfolge seines Werkes gerich­tet, und dann stets in großer Gefahr, in den Fallstrick des Teufels zu fallen. Das ständige Ziel Satans ist, den Herrn Jesus zu verunehren, und wenn er das durch etwas erreichen kann was wie ein christlicher Dienst aussieht, so hat er für den Augenblick einen um so größeren Sieg errungen. Gegen ein Werk hat er an und für sich nichts einzuwen­den, vorausgesetzt, daß er es von dem Namen Jesu trennen kann. Er wird sich, wenn er kann, immer in das Werk einmischen. Er erscheint unter den Dienern Christi, wie er einst unter den Söhnen Gottes er­schienen ist, aber sein Ziel bleibt immer dasselbe: den Herrn zu verun­ehren. Er erlaubte der Magd in Apg. 16, für die Knechte Christi Zeug­nis abzulegen und zu sagen: "Diese Menschen sind Knechte Gottes, des Höchsten, die euch den Weg des Heils verkündigen." Aber er tat dies nur in der Absicht, jene Knechte wie in einer Schlinge zu fangen und ihr Werk zu verderben. Es gelang ihm jedoch nicht, weil das Licht, das von Paulus und Silas ausging, das Licht des Heiligtums war, das einzig und allein für Christus leuchtete. Sie suchten sich keinen Namen zu machen, und da die Magd für sie und nicht für ihren Meister Zeugnis ablegte, wiesen sie dieses Zeugnis ab und wählten lieber, für ihren Meister zu leiden, als auf Seine Kosten erhoben zu werden.

 

Das ist ein schönes Vorbild für alle Arbeiter des Herrn. Ein anderes treffendes Beispiel finden wir in Apg. 3. Dort strahlte das "Licht des Heiligtums" in der Heilung des Lahmen, und als die Aufmerksamkeit auf die Arbeiter gelenkt wurde, obwohl sie diese Aufmerksamkeit nicht suchten, sehen wir die Apostel sich sogleich hinter ihren herrlichen Meister zurückziehen und Ihm allein die Ehre geben. "Während er aber den Petrus und Johannes festhielt, lief das ganze Volk voll Erstaunen zu ihnen zusammen in der Säulenhalle, die Salomonshalle genannt wird. Als aber Petrus es sah, antwortete er dem Volke: Männer von Israel, was verwundert ihr euch hierüber, oder was sehet ihr unver­wandt auf uns, als hätten wir aus eigener Kraft oder Frömmigkeit ihn wandeln gemacht? Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht" (V. 11‑13).

 

Hier haben wir wirklich "die sieben Lampen, die gerade vor dem Leuchter hinscheinen", d. h. den siebenfachen oder vollkommenen Schein des Lichtes des Geistes in einem deutlichen Zeugnis für den Na­men Jesu. "Was sehet ihr unverwandt auf uns?" sagten die treuen Träger dieses Lichts. Hier waren, bildlich gesprochen, keine Lichtschneu­zen erforderlich. Das Licht war ungetrübt. Es war zweifellos eine Gele­genheit, die die Apostel für sich hätten ausnutzen können, wenn es ihnen darum gegangen wäre. Es war ein Augenblick, in dem sie ihren Namen mit einem Glorienschein hätten umgeben können. Sie hätten leicht viel Ruhm einstecken und die Achtung und Verehrung, wenn nicht gar die Anbetung von Tausenden auf sich ziehen können. Aber wenn sie es getan hätten, dann hätten sie ihren Meister beraubt, das Zeugnis gefälscht, den Heiligen Geist betrübt und das gerechte Gericht dessen auf sich herabgezogen, der Seine Ehre keinem anderen geben will.

 

Doch die sieben Lampen leuchteten in diesem Augenblick hell in Jeru­salem. Der wahre Leuchter stand in der Säulenhalle Salomons und nicht im Tempel. Wenigstens waren die sieben Lampen dort und taten ihr Werk in segensreicher Weise. Anstatt ihre eigene Ehre zu suchen, setzten die treuen Knechte ihre ganze Energie darein, die bewundernden Blicke der Menge von sich wegzulenken und auf den zu richten, der allein würdig ist, und der, obwohl Er in den Himmel gegangen war, durch Seinen Geist noch auf Erden wirkte.

 

Kapitel 9

 

DAS PASSAH IN DER WÜSTE. DIE "WOLKE“

 

Noch manche andere Beispiele könnten aus der Apostelgeschichte ange­führt werden, aber die erwähnten werden genügen, um uns die wichtige Lehre klarzumachen, die uns der goldene Leuchter mit seinen sieben Lampen gibt. Es besteht immer die Gefahr, daß das Werk und der Arbeiter mehr im Mittelpunkt stehen als der Meister. Laßt uns davor auf der Hut sein! Es ist ein trauriges Übel. Es betrübt den Heiligen Geist, der immer damit beschäftigt ist, den Namen Jesu zu erheben. Es kränkt den Vater, der will, daß die Worte, die auf dem Berge der Ver­klärung aus dem geöffneten Himmel gehört wurden, immer in uns widerklingen und tief in unseren Herzen wohnen möchten: "Dieser ist mein geliebter Sohn, an welchem ich Wohlgefallen gefunden habe; ihn höret" (Matth. 17,5)! Es steht auch in unmittelbarem Gegensatz zu dem, was im Himmel ist, wo jedes Auge auf Jesus gerichtet, jedes Herz mit Ihm beschäftigt ist und wo der ewige und einmütige Ruf heißen wird: "Du bist würdig!"

 

Der Rest des 8. Kapitels enthält den Bericht über die Weihung der Leviten, mit der wir uns schon bei der Betrachtung des 3. und 4. Kapi­tels beschäftigt haben.

 

Es gibt drei verschiedene Orte, an denen wir das Passah, dieses große Erlösungsfest, gefeiert sehen: in Ägypten (2. Mose 12), in der Wüste (4. Mose 9) und im Lande Kanaan (Jos. 5). Die Erlösung bildet die Grundlage von allem, was mit der Geschichte des Volkes Gottes in Verbindung steht. Soll es aus der Knechtschaft, vom Tode und aus der Finsternis Ägyptens befreit werden ‑ es geschieht durch die Er­lösung. Soll es durch alle Schwierigkeiten und Gefahren der Wüste hindurchgetragen werden ‑ es geschieht aufgrund der Erlösung. Soll es durch die Trümmer der drohenden Mauern Jerichos gehen und sei­nen Fuß auf den Nacken der Könige Kanaans setzen ‑ es geschieht kraft der Erlösung.

 

               

 

So begegnete das Blut des Passahlammes dem Gottesvolk Israel in der tiefen Erniedrigung in Ägypten und befreite es daraus. Es begegnete ihm in der öden Wüste und führte es hindurch. Es begegnete ihm bei der Ankunft in Kanaan und ließ es dort festen Fuß fassen. Es bildete also die Grundlage aller Taten Gottes in dem Volk, mit dem Volk und für das Volk. Handelte es sich um das Gericht Gottes über Ägypten ‑ das Blut des Lammes bewahrte sie davor. Handelte es sich um die zahllosen Bedürfnisse in der Wüste ‑ das Blut des Lammes sicherte ihnen völlige Vorsorge. Handelte es sich um die furchtbare Macht der sieben Nationen Kanaans ‑ das Blut des Lammes war das sichere Unter­pfand eines vollständigen und herrlichen Sieges. Von dem Augenblick an, da wir den HERRN erscheinen sehen, um aufgrund des Blutes des Lammes für Sein Volk zu handeln, ist sein Weg von Anfang bis Ende unfehlbar gesichert. Die ganze geheimnisvolle, wunderbare Reise von den Ziegelhütten Ägyptens bis zu den Rebenhügeln und honigreichen Ebenen Palästinas diente nur dazu, die Kraft und den Wert des Blutes des Lammes zu beweisen und ans Licht zu bringen.

 

Das vorliegende Kapitel stellt uns das Passah ganz und gar vom Stand­punkt der Wüste aus dar, und das erklärt, warum der folgende Um­stand erwähnt wird: "Und es waren Männer da, die unrein waren wegen der Leiche eines Menschen und an jenem Tage das Passah nicht feiern konnten; und sie traten an jenem Tage vor Mose und vor Aaron."

 

Hier trat eine Schwierigkeit auf, etwas Regelwidriges, etwas Unvor­hergesehenes, und daher wurde die Frage vor Mose und Aaron ge­bracht. "Und sie traten vor Mose", den Vertreter der Ansprüche Gottes, "und vor Aaron", den Vertreter der Hilfsquellen, die in der Gnade Gottes sind. Es scheint etwas Besonderes und Nachdrückliches in der Art zu liegen, in der diese Männer sich an Mose und Aaron wandten. Die beiden Bereiche, die Mose und Aaron vertraten, wurden für die Lösung einer Schwierigkeit, wie sie hier auftrat, für wesentlich ge­halten.

 

"Und diese Männer sprachen zu ihm: Wir sind unrein wegen der Leiche eines Menschen; warum sollen wir verkürzt werden, daß wir die Opfer­gabe des HERRN nicht zur bestimmten Zeit in der Mitte der Kinder Israel darbringen" (V. 7)? Das war ein offenes Bekenntnis ihrer Verunreinigung. Die Frage, um die es sich jetzt handelte, war: Sollten sie von dem heiligen Vorrecht, auf die von Gott verordnete Weise vor Ihn zu treten, ausgeschlossen werden? Gab es für einen solchen Fall keine Vorsorge, keinen Ausweg?

 

Das war durchaus eine wichtige Frage, auf die bis dahin noch keine Antwort gegeben worden war. Bei der ursprünglichen Einsetzung in 2. Mose 12 war ein solcher Fall nicht vorgesehen worden, obwohl wir dort an sich eine vollständige Darstellung aller Gebräuche und Zeremo­nien des Festes finden. Diese neue Sache wurde jedoch erst in der Wüste klar gemacht. Erst im praktischen Wandel des Volkes, in den Einzelheiten des Wüstenlebens ergab sich diese Schwierigkeit, für die eine Lösung bereitgestellt werden mußte. So finden wir den Bericht über diese ganze Angelegenheit auch erst im vierten Buch Mose, dem Buch der Wüste.

 

"Und Mose sprach zu ihnen: Bleibet stehen, und ich will hören, was der HERR eurethalben gebieten wird" (V. 8). Welch eine schöne Hal­tung! Mose wußte keine Antwort zu geben; aber er wußte, wer es tun konnte, und er wartete auf Ihn. Er maßte sich nicht an, selbst eine Ant­wort zu geben. Er schämte sich nicht, zu sagen: "Ich weiß es nicht." Trotz seiner Weisheit und Erkenntnis zögerte er nicht, seine Unwissen­heit einzugestehen. Das ist wahre Erkenntnis, wahre Weisheit. Für jemanden in der Stellung Moses könnte es demütigend sein, vor der Versammlung oder vor einigen ihrer Glieder hinsichtlich irgendeiner Frage als unwissend zu erscheinen. Er, der das Volk aus Ägypten ge­führt, der es durch das Rote Meer geleitet, der mit dem HERRN ge­sprochen und seine Sendung von dem großen "Ich bin" empfangen hatte ‑ sollte ein solcher Mann unfähig sein, eine Schwierigkeit zu lösen, die aus einem so einfachen Fall wie dem vorliegenden entstanden war? War es wirklich wahr, daß ein Mann wie Mose nicht wußte, was zu tun sei hinsichtlich von Leuten, die durch einen Toten verunreinigt waren?

 

Wie manche, die nicht eine so hohe Stellung innehaben wie Mose, hät­ten versucht, ihnen irgendeine Antwort auf diese Frage zu geben! Aber Mose war der sanftmütigste Mann auf der Erde. Er kannte etwas Besseres als die Anmaßung, zu reden, wenn er nichts zu sagen hatte. Möchten wir in dieser Hinsicht seinem Beispiel treuer folgen! Es würde uns vor mancher betrübenden Erfahrung, vor manchem Fehler und vor manchem falschen Versuch bewahren. Außerdem würde es uns wahr­heitsgetreuer, einfacher, natürlicher machen. Wir sind oft so töricht, daß wir uns schämen, unsere Unwissenheit zu zeigen. Wir bilden uns ein, der Ruf unserer Einsicht und Erkenntnis werde leiden, wenn wir die Worte aussprechen, die doch so viel sittliche Größe ausdrücken: "Ich weiß es nicht." Das ist ein großer Irrtum. Wir legen den Worten eines Mannes, der sich niemals ein Wissen anmaßt, das er nicht hat, in der Regel viel Gewicht und Bedeutung bei, während wir kaum bereit sind, auf einen Mann zu hören, der immer in leichtfertigem Selbstvertrauen seine Meinung von sich gibt.

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich: Wenn irgend jemand von euch oder von euren Ge­schlechtern unrein ist wegen einer Leiche oder ist auf einem fernen Wege, so soll er dem HERRN Passah feiern; im zweiten Monat, am vierzehnten Tage, zwischen den zwei Abenden, sollen sie es feiern; mit Ungesäuertem und bittern Kräutern sollen sie es essen" (V. 9‑11).

 

Es gibt zwei große Grundwahrheiten, die in dem Passah dargestellt werden: die Erlösung und die Einheit des Volkes Gottes. Diese Wahr­heiten sind unveränderlich. Nichts kann sie jemals ungültig machen. Darum war die eindrucksvolle Verordnung, die diese Wahrheiten so deutlich lebhaft abbildete, immer verbindlich. Die Umstände durften nicht stören. Todesfälle oder große Entfernungen sollten sie nicht un­terbrechen. jedes Glied der Versammlung hatte die Feier dieses Festes so dringend nötig, daß eine besondere Vorsorge für die getroffen wurde, die nicht imstande waren, es nach der vorgeschriebenen Ord­nung zu halten. Solche Personen sollten es feiern "am vierzehnten Tage des zweiten Monats". Das war die Vorsorge der Gnade für alle Fälle unvermeidlicher Verunreinigung oder für den Fall großer Entfernung.

 

In 2. Chron. 30 lesen wir, daß Hiskia und die Gemeinde von dieser gnadenreichen Vorsorge Gebrauch machten. „Und eine Menge Volks versammelte sich nach Jerusalem, um das Fest der ungesäuerten Brote im zweiten Monat zu feiern, eine sehr große Versammlung ... Und man schlachtete das Passah am vierzehnten des zweiten Monats" (V. 13. 15).

 

Die Gnade Gottes kann uns in unserer größten Schwachheit begegnen, wenn diese Schwachheit nur gefühlt und bekannt wird.* Aber möge diese wertvolle und trostreiche Wahrheit uns nicht verleiten, mit Sünde oder Verunreinigung zu spielen! Obwohl die Gnade statt des ersten Monats den zweiten gestattete, erlaubte sie deswegen doch keinerlei Leichtfertigkeit hinsichtlich der Gebräuche und Zeremonien des Festes. "Das ungesäuerte Brot und die bittern Kräuter" mußten immer da sein; von dem Opferlamm durfte nichts übriggelassen werden bis an den Morgen, noch durfte ein Bein an ihm zerbrochen werden. Gott kann nicht zulassen, daß der Maßstab der Wahrheit oder der Heiligkeit irgendwie herabgesetzt wird. Aus Schwachheit, aus Mangel oder infolge

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*) Der Gegensatz zwischen der Handlungsweise Hiskias in 2. Chron. 30 und Jerobeams in 1. Kön. 12, 32 ist bemerkenswert. Der eine bediente sich der Vorsorge der Gnade Gottes, der andere folgte seinen eigenen Einfällen. Der zweite Monat wurde von Gott erlaubt der achte wurde vom Menschen erfunden. Die Vorsorge Gottes, die den Bedürfnissen des Menschen entspricht, und menschliche Erfindungen, die sich dein Wort Gottes entgegen­ stellen, sind zwei gänzlich verschiedene Dinge.

 

der Macht der Umstände mag der Mensch, was die Zeit angeht, zurück­geblieben sein; aber er darf nicht hinter dem göttlichen Maßstab zu­rückbleiben. Die Gnade gestattete das erste, die Heiligkeit verbietet das zweite; und wenn irgend jemand sich angemaßt hätte, auf Grund der Gnade mit der Heiligkeit nach Belieben zu schalten, so wäre er aus der Gemeinde ausgerottet worden.

 

Doch was können wir aus den Verordnungen über die Feier des Passah im zweiten Monat lernen? Warum wurde Israel so ausdrücklich einge­schärft, bei dieser Feier nichts, keine einzige Zeremonie, wegzulassen? Warum gehen in 4. Mose 9 die Anweisungen für den zweiten Monat viel mehr ins einzelne als die für den ersten? Gewiß nicht deshalb, weil die Verordnung in dem einen Fall wichtiger gewesen wäre als in dem anderen, und auch nicht, weil die Ordnung in beiden Fällen irgendwie verschieden gewesen wäre! Vielmehr lehrt diese Tatsache uns ganz deutlich daß wir in den Dingen Gottes niemals wegen der Fehler und Schwachheiten des Volkes Gottes einen geringeren Maßstab anlegen dürfen, daß wir vielmehr ‑ gerade wegen dieser Fehler und Schwach­heiten ‑ besondere Sorge zu tragen haben, den Maßstab in seiner ganzen göttlichen Vollkommenheit zu wahren. Zweifellos sollte ein tiefes Empfinden für den Mangel da sein ‑ je tiefer, um so besser; aber die Wahrheit Gottes darf nicht aufgegeben werden. Wir können immer zuversichtlich auf die Hilfsmittel der Gnade Gottes rechnen, so­lange wir mit unerschütterlicher Festigkeit den Maßstab der Wahrheit Gottes zu wahren suchen.

 

Laßt uns dies immer beherzigen! Wir sind einerseits in Gefahr, die Tatsache zu vergessen, daß der Verfall eingetreten, ja, daß große Un­treue, daß Sünde vorhanden ist, und andererseits sind wir geneigt, angesichts des Verfalls die unfehlbare Treue Gottes zu vergessen, die trotz allem bleibt. Die Kirche hat gefehlt und befindet sich in vollständi­gem Verfall, und wir haben persönlich gefehlt und zu dem Verfall bei­getragen. Wir sollten vor unserem Gott immer das tiefe Bewußtsein davon haben, wie traurig und schändlich wir uns in dem Hause Gottes betragen haben. Wir würden unser Versagen noch weit verschlimmern, wenn wir je vergessen würden, daß wir gefehlt haben. Tiefe Demut und ein völlig gebrochener Geist geziemen uns, wenn wir hieran den­ken. Solche inneren Gefühle und übungen werden in einem bescheide­nen und demütigen Betragen ihren Ausdruck finden.

 

"Der feste Grund Gottes steht und hat dieses Siegel: Der Herr kennt die sein sind; und: jeder, der den Namen des Herrn nennt, stehe ab von der Ungerechtigkeit" (2. Tim. 2, 19). Hier ist die Hilfsquelle des Gläu­bigen mitten im Verfall der Christenheit. Gott macht nie einen Fehler, verändert sich nie; wir aber haben einfach von der Ungerechtigkeit abzustehen und uns an Ihn zu klammern. Wir sollen tun, was recht ist, und die Folgen Ihm überlassen.

 

Das sind in erster Linie Belehrungen für die Wüste, Belehrungen für die heutigen Tage, Belehrungen für uns. In der Wüste tritt die Schwachheit des Menschen so besonders deutlich zutage; hier aber werden auch die unendlichen Hilfsquellen der Gnade Gottes entfaltet. Wiederholen wir es jedoch noch einmal ‑ und möchte es sich tief und unauslöschlich in unsere Herzen einprägen1 ‑: die reiche Vorsorge der Gnade und Barmherzigkeit Gottes gibt durchaus keinerlei Befugnis, den Maßstab der göttlichen Wahrheit herabzusetzen. Hätte ein Israelit eine Verunreinigung oder zu große räumliche Entfernung als Entschuldigung dafür vorgebracht , das Passah nicht oder anders zu feiern, als Gott es verordnet hatte, dann wäre er sicherlich aus der Gemeinde ausgerottet worden. Und so ist es auch mit uns. Wenn wir irgendeine Wahrheit Gottes vernachlässigen, weil der Verfall eingetreten ist, wenn wir aus lauter Unglauben des Herzens den Maßstab Gottes aufgeben und den göttlichen Boden verlassen, wenn wir den Zustand der Dinge um uns her zum Vorwand nehmen, um uns der Autorität der göttlichen Wahr­heit über das Gewissen oder ihres bildenden Einflusses auf unser Be­tragen und unseren Charakter zu entziehen, so ist es offensichtlich, daß unsere Gemeinschaft unterbrochen sein muß.*

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*) Es sei hier bemerkt, daß das Ausrotten eines Gliedes aus der Versammlung Israels der zeitweiligen Aufhebung der Gemeinschaft mit einem Gläubigen infolge nicht gerichteter Sünde entspricht.

 

Zum Schluß noch ein Wort über den 13. und 14. Vers unseres Kapitels. "Der Mann aber, der rein und nicht auf dem Wege ist, und es unter­läßt, das Passah zu feiern, selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihren Völkern; denn er hat die Opfergabe des HERRN nicht zur be­stimmten Zeit dargebracht; selbiger Mann soll seine Sünde tragen. Und wenn ein Fremdling bei euch weilt und dem HERRN Passah feiern will, so soll er es feiern nach der Satzung des Passah und nach seiner Vorschrift. Eine Satzung soll für euch sein, sowohl für den Fremdling als auch für den Eingeborenen des Landes" (V. 13. 14).

 

Wenn jemand willentlich das Passah vernachlässigt hätte, dann hätte diese Tatsache bewiesen, daß dem betreffenden Israeliten die Wohl­taten und Segnungen, die aus seiner Erlösung und Befreiung aus Ägypten folgten, überhaupt nichts wert waren. Je tiefer jemand in die göttliche Wirklichkeit dessen eindrang, was in jener denkwürdigen Nacht geschehen war, als die Versammlung Israels unter dem Schutz des Blutes Zuflucht und Ruhe fand, um so mehr mußte er sich nach der Wiederkehr "des vierzehnten Tages des ersten Monats" sehnen, wo er Gelegenheit erhielt, das Gedächtnis jenes großen Ereignisses zu feiern; und wenn ihn irgend etwas hinderte, der Verordnung "im ersten Mo­nat" mit Freuden zu entsprechen, so hätte er um so froher und dank­barer die Gelegenheit im "zweiten Monat" wahrnehmen müssen. Ein Mensch aber, der von Jahr zu Jahr zufrieden dahinleben konnte, ohne das Passah zu feiern, bewies nur, daß sein Herz von dem Gott Israels weit entfernt war. Es wäre mehr als eitles Geschwätz gewesen, wenn jemand davon gesprochen hätte, er liebe den Gott seiner Väter und genieße die Segnungen der Erlösung, während er ausgerechnet diejenige Verordnung Jahr für Jahr vernachlässigte, die Gott gegeben hatte, um die Erlösung darzustellen.

 

Können wir nicht diese Erwägungen bis zu einem gewissen Grade im Hinblick auf das Abendmahl des Herrn auf uns selbst anwenden? Ohne Zweifel, und zwar mit großem Nutzen für unsere Seelen! Zwischen dem Passah und dem Abendmahl des Herrn besteht folgender Zu­sammenhang.‑ Das erste war ein Bild, das letztere ist das Gedächtnis­mahl des Todes des Herrn. So lesen wir in 1. Kor. 5: "Unser Passah, Christus, ist geschlachtet." Dieser Ausspruch zeigt die Verbindung. Das Passah war das Gedächtnismahl an die Erlösung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens; das Abendmahl des Herrn ist das Gedächtnis­mahl an die Erlösung der Kirche aus der weit schwereren und finsteren Knechtschaft der Sünde und Satans. Wie daher jeder wahre und gläu­bige Israelit das Passah zur bestimmten Zeit entsprechend all den Satzungen und Vorschriften feierte, so wird auch jeder wahre und gläubige Christ das Abendmahl des Herrn an seinem bestimmten Tage und nach den Grundsätzen des Neuen Testaments feiern. Wenn ein Israelit nur bei einer einzigen Gelegenheit das Passah vernachlässigt hätte, so wäre er aus der Versammlung ausgestoßen worden.

 

Sollten wir angesichts dieser ernsten Tatsache nicht fragen: Ist es heute eine bedeutungslose Sache für einen Christen, von Woche zu Woche, von Monat zu Monat das Abendmahl seines Herrn zu vernach­lässigen? Dürfen wir annehmen, daß der Gott, der in 4. Mose 9 Sein ernstes Urteil über jeden Israeliten aussprach, der das Passah ver­nachlässigt, es nicht beachtet, wenn jemand den Tisch des Herrn ver­nachlässigt? Ganz gewiß nicht! Dürfen wir in dieser Hinsicht nachlässig sein ‑ wenn es sich auch nicht darum handelt, von der Kirche Gottes, dem Leibe Christi abgeschnitten zu werden? Fern sei uns ein solcher Gedanke! Vielmehr sollte es uns zu größerer Sorgfalt in der Feier dieses Festes ermuntern, in welchem wir "den Tod des Herrn verkündi­gen, bis er kommt".

 

Für einen frommen Israeliten gab es nichts, was dein Passah gleich­gekommen wäre; denn es erinnerte ihn an seine Erlösung. Und für einen frommen Christen kommt nichts dem Abendmahl des Herrn gleich, weil es das Gedächtnismahl seiner Erlösung und des Todes sei­nes Herrn ist. Für einen Christen gibt es nichts Kostbareres, nichts Ausdrucksvolleres, nichts, das Christum mehr vor sein Herz stellt als das Abendmahl des Herrn. Er kann den Tod des Herrn besingen, er kann im Blick auf Ihn wegen Seines Todes Ihm danken und über diesen Tod lesen oder hören; aber nur im Abendmahl "verkündigt" er diesen Tod.

 

"Und er nahm Brot, dankte, brach und gab es ihnen und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch gegeben wird; dieses tut zu meinem Ge­dächtnis! Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahle und sagte: Die­ser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute, das für euch vergossen wird“ (Luk. 22, 19. 20). Hier finden wir die Einsetzung des Festes. Wei­ter lesen wir dann in der Apostelgeschichte, daß am ersten Tage der Woche die jünger "versammelt waren, um Brot zu brechen" (Kap. 20, 7). Das ist die Feier des Festes. Und wenn wir uns endlich zu den Briefen wenden, so lesen wir: "Der Kelch der Segnung, den wir segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes des Christus? Das Brot, das wir bre­chen, ist es nicht die Gemeinschaft des Leibes des Christus? Denn ein Brot, ein Leib, sind wir, die Vielen, denn wir alle nehmen teil an dein einen Brote" (i. Kor. 10, 16. 17). Und ferner: "Denn ich habe von dem Herrn empfangen, was ich auch euch überliefert habe, daß der Herr Jesus in der Nacht, in welcher er überliefert wurde, Brot nahm, und als er gedankt hatte, es brach und sprach: Dies ist mein Leib, der für euch ist; dies tut zu meinem Gedächtnis. Desgleichen auch den Kelch nach dem Mahle und sprach: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute; dies tut, so oft ihr trinket, zu meinem Gedächtnis. Denn So oft ihr dieses Brot esset und den Kelch trinket, verkündiget ihr den Tod des Herrn, bis er kommt" (l. Kor. 11, 23‑26).

 

Hier haben wir die Erklärung des Festes. Können wir nicht sagen, daß wir in der Einsetzung, in der Feier und in der Erklärung gleichsam ein dreifaches Band haben, das unsere Seelen an dieses wunderbare Fest bindet?

 

Wie kommt es nun, daß trotz dieser heiligen Gebote so mancher Christ den Tisch des Herrn vernachlässigt? Wie kommt es, daß so man­che Glieder Christi Wochen und Monate ‑ manche sogar ihr ganzes Leben ‑ verstreichen lassen können, ohne daß sie sich je ihres Herrn in der Weise erinnern, wie es doch Sein bestimmtes und ausdrückliches Gebot ist? Wir wissen, daß es sogar solche gibt, die sich Christen nen­nen und die die Feier des Abendmahls als ein Zurückkehren zu jüdi­schen Verordnungen und als ein Herabsteigen von der hohen Stellung der Kirche betrachten. Sie halten das Abendmahl und die Taufe für geistliche Geheimnisse und meinen, daß man von wahrer Geistlichkeit abweicht, wenn man auf der buchstäblichen Befolgung dieser Verord­nungen besteht.

 

Auf all das kann man nur erwidern, daß Gott weiser ist als wir. Wenn der Herr Jesus das Abendmahl einsetzte; wenn der Heilige Geist die Kirche in der ersten Zeit anleitete, es zu feiern; und wenn Er auch uns es erklärt hat: wer sind dann wir, daß wir unsere Gedanken Gott ent­gegensetzen? Ohne Zweifel soll das Abendmahl des Herrn für alle, die daran teilnehmen, ein inneres geistliches Geheimnis sein, aber es ist auch eine äußerliche, buchstäbliche, greifbare Sache. Es ist wirkliches Brot, wirklicher Wein ‑ ein wirkliches Essen und Trinken.

 

Hierbei handelt es sich jedoch nicht nur um eine Frage der Unterwer­fung unter die Autorität der Schrift ‑ wenn es das auch ganz gewiß ist. Aber es handelt sich um mehr als das. Es gibt in dem Herzen des Christen so etwas wie eine Antwort der Liebe, die der Liebe des Her­zens Christi entspricht. Sollten wir nicht ‑ wenn es auch nur in Schwachheit geschehen kann ‑ der Liebe eines solchen Herzens zu ent­sprechen suchen? Wenn unser Herr im Abendmahl tatsächlich Brot und Wein als die Erinnerungszeichen Seines für uns gegebenen Leibes und Seines vergossenen Blutes einsetzte, wenn Er befohlen hat, daß wir zu Seinem Gedächtnis von diesem Brot essen und von diesem Kelch trinken sollen ‑ sollten wir dann nicht in der Kraft einer Zunei­gung, die Seiner Liebe antwortet, dem Wunsch Seines Herzens ent­sprechen? Gewiß wird kein ernster Christ das in Frage stellen! Es sollte immer die Freude unserer Herzen sein, uns um den Tisch unseres lie­benden Herrn zu versammeln und nach Seiner Anordnung uns Seiner zu erinnern, Seinen Tod zu verkündigen, bis Er kommt. Ist es nicht ein wunderbarer Gedanke, daß Er im Gedächtnis unserer Herzen einen Platz gesucht hat? Und wäre es nicht traurig, wenn wir aus irgendeinem Grund dieses Fest vernachlässigen, mit dem Er Seinen kostbaren Namen verbunden hat?

 

Doch wir müssen jetzt das Passah in der Wüste mit seinen Belehrungen verlassen, um uns noch kurz dem letzten Abschnitt unseres Kapitels zuzuwenden. Wir sehen da ein zahlreiches Heer von Männern, Frauen und Kindern, das durch eine Wüste zog, "wo es keinen Weg gab", ein Volk, das ohne Kompaß und ohne menschlichen Führer eine traurige, öde, ungeheure Wüste durchwanderte. Da waren Millionen von Men­schen, die ohne Kenntnis des Weges, den sie einzuschlagen hatten, vor­wärts gingen und die im Blick auf ihre Leitung, ihre Nahrung und alles andere völlig von Gott abhängig waren ‑ ein hilfloses Heer von Pil­gern. Sie konnten für den nächsten Tag keine Pläne machen. Wenn sie lagerten, wußten sie nicht, wann sie wieder aufbrechen sollten, und wenn sie wanderten, wußten sie nicht, wann oder wo sie Halt machen sollten. Ihr Leben trug das Kennzeichen täglicher und stündlicher Ab­hängigkeit. Leitung und Führung mußten sie von oben erwarten.

 

Die Wolke regelte alle ihre Bewegungen. (V. 15‑23)

 

Es wäre unmöglich, sich ein schöneres Bild völliger Abhängigkeit von der göttlichen Leitung und von der Unterwerfung unter diese Leitung zu denken als das, was uns in diesen Versen vor Augen gestellt wird. Es gab keine Fußspuren, keinen Grenzstein in dieser "großen und schrecklichen Wüste". Es war daher unnütz, eine Leitung bei denen zu suchen, die die Wüste früher schon durchzogen hatten. Für jeden Schritt des Weges waren sie auf Gott angewiesen. Sie mußten beständig auf Ihn warten. Für ein nicht unterworfenes Gemüt, für einen unge­brochenen Willen ist so etwas unerträglich; für eine Seele aber, die Gott kennt, die Ihn liebt, Ihm vertraut, in Ihm sich freut, kann nichts segens­reicher sein.

 

Hier liegt der Kern der ganzen Sache. Wenn Gott gekannt und geliebt wird, wenn man Ihm vertraut, dann hat das Herz an der völligen Ab­hängigkeit von Ihm seine Freude; wenn aber nicht, so wird diese Ab­hängigkeit unerträglich sein. Der nicht wiedergeborene Mensch hält sich gern für unabhängig und frei. Er glaubt gern, er könnte tun, was er wolle, gehen, wohin er wolle, und sagen, was er wolle. Aber welche Täuschung! Der Mensch ist nicht frei. Er ist der Sklave Satans, der den natürlichen Menschen, den unbekehrten, unbußfertigen Menschen, in schrecklicher Knechtschaft hält. Er hat ihm Hände und Füße mit Ketten und Fesseln gebunden, die allerdings wegen der Vergoldung, mit der er sie so kunstvoll zu bedecken versteht, nicht in ihrem eigenen Charakter erkannt werden. Satan regiert den Menschen durch seine Lüste, Leiden­schaften und Vergnügungen. Er erzeugt in dem Herzen Wünsche, die er dann durch die Dinge dieser Welt befriedigt, und der Mensch bildet sich ein, er sei frei, weil er seine Wünsche befriedigen kann. Welch eine traurige Täuschung! Früher oder später wird sie sich als solche erwei­sen. Es gibt keine Freiheit außer derjenigen, mit der Christus Seine Erlösten frei macht. Er konnte sagen: Ihr werdet die Wahrheit erken­nen, und die Wahrheit wird euch frei machen." Und weiter: "Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein" (Joh. 8).

 

Das ist wahre Freiheit. Es ist die Freiheit, die die neue Natur findet, indem sie im Geist wandelt und das tut, was Gott wohlgefällig ist. Der Dienst des Herrn ist vollkommene Freiheit; aber dieser Dienst schließt einfältige Abhängigkeit von dem lebendigen Gott ein. So war es mit dem einzigen wahren und vollkommenen Diener, der auf dieser Erde gelebt hat. Er war immer abhängig. jede Bewegung, jedes Wort, alles, was Er tat, und alles, was Er unterließ, war die Frucht völliger Abhän­gigkeit von Gott und unbedingter Unterwerfung unter Gott. Er ging, wenn Gott Ihn gehen hieß, und Er stand still, wenn Gott es so wollte. Er sprach oder schwieg, je nachdem es der Wille Gottes erforderte.

 

So war Jesus, als Er in dieser Welt lebte; und wir als Teilhaber Seiner Natur und Seines Lebens, als solche, die Seinen Geist in sich tragen, sind berufen, zu leben, wie Er gelebt hat, von Tag zu Tag ein Leben einfacher Abhängigkeit von Gott zu führen. Von einer ganz bestimmten Seite dieses Lebens der Abhängigkeit finden wir ein schönes Bild am Schluß unseres Kapitels: das Gottesvolk Israel, das Lager in der Wüste, das Heer von Pilgern, folgte treu den Bewegungen der Wolke. Um sich leiten lassen zu können, hatten sie nur nach oben zu blicken. Und ge­rade das ist es, was der Mensch zu tun hat. Er wurde so gebildet, daß er sein Angesicht aufwärts wenden kann ‑ im Gegensatz zum Tiere, das so geschaffen ist, daß es nach unten sieht. *) Israel konnte sich nichts selber vornehmen. Nie konnten sie sagen: "Morgen wollen wir an diesen oder jenen Ort gehen." Sie waren völlig von der Bewegung der Wolke abhängig.

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*) Das griechische Wort für Mensch (anthropos) ist von einem Zeitwort abgeleitet, das bedeutet: aufblicken, das Gesicht aufwärts wenden.

 

Ebenso sollte es mit uns sein. Wir gehen durch eine öde Wüste, durch eine Wildnis in geistlichem Sinn. Es ist kein einziger Weg da. Wir wüß­ten nicht, wie wir leben oder wohin wir gehen sollten, wenn wir nicht den wichtigen und weitgreifenden Ausspruch unseres Herrn hätten: "Ich bin der Weg." Das ist die göttliche, unfehlbare Leitung. Wir haben Ihm nachzufolgen. "Ich bin das Licht der Welt; wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln, sondern wird das Licht des Lebens haben" (Joh. 8, 12). Das ist eine lebendige Leitung. Es geht nicht darum, nach gewissen Regeln und Verordnungen zu handeln. Es geht darum, einem lebendigen Christus nachzufolgen, zu wandeln, wie Er gewandelt hat, zu tun, was Er tat, Sein Beispiel in allen Dingen nachzuahmen. Das ist christliches Leben, christliches Handeln. Es be­steht darin, daß wir unsere Augen fest auf Jesus gerichtet halten, daß die Züge Seines Charakters unserer neuen Natur aufgedrückt sind und daß wir sie in unserem täglichen Leben widerspiegeln.

 

Das schließt allerdings die vollständige Aufgabe unseres eigenen Wil­lens und unserer eigenen Pläne ein. Wir müssen der Wolke folgen. Wir müssen immer warten, allein auf Gott warten. Wir können nicht sagen: "Morgen oder in der nächsten Woche werden wir da ‑ oder dorthin gehen, dies oder das tun." Alle unsere Handlungen müssen unter die ordnende Kraft dieses einen gebietenden Ausspruchs gestellt werden, der leider von uns oft so leichtfertig geschrieben oder ausgesprochen wird: "Wenn der Herr will."

 

Möchten wir dies alles besser verstehen! Wie oft bilden wir uns ein und behaupten zuversichtlich, daß die Wolke sich gerade in der Rich­tung bewege, die unserer Neigung entspricht! Wir wünschen etwas zu tun oder einen bestimmten Weg einzuschlagen und suchen uns dann zu überzeugen, daß unser Wille der Wille Gottes sei. Anstatt von Gott geleitet zu werden, verführen wir uns auf diese Weise selbst. Unser Wille ist ungebrochen, und daher können wir nicht geleitet werden; denn das wahre Geheimnis, recht geführt, von Gott geführt zu werden; besteht darin, daß wir Ihm unseren Willen vollständig unterwerfen. "Er leitet die Sanftmütigen im Recht, und lehrt die Sanftmütigen seinen Weg" (Ps. 25, 9). Und ferner: "Mein Auge auf dich richtend, will ich dir raten." Möchten wir besonders über die Ermahnung nachdenken ­"Seid nicht wie ein Roß, wie ein Maultier, das keinen Verstand hat; mit Zaum und Zügel, ihrem Schmucke, mußt du sie bändigen, sonst nahen sie dir nicht" (Ps. 32, 9). Wenn wir nach oben sehen, um auf das "Auge Gottes" zu achten, so werden wir "Zaum und Zügel" nicht nötig haben. Aber hier liegt der entscheidende Grund dafür, daß wir so trau­rig versagen. Wir leben nicht genug in der Nähe Gottes, um den Wink Seiner Augen zu erkennen. Unser eigener Wille handelt. Wir wünschen, unsere eigenen Wege zu gehen, und darum müssen wir die bitteren Früchte davon ernten.

 

Aber unser Gott ist so gnädig und so geduldig. Er will Seine schwachen, irrenden Kinder lehren und führen. Ihm wird die Sorge für uns nicht zu viel. Er beschäftigt sich ständig mit uns, damit wir vor unseren eigenen Wegen, die voller Dornen und Disteln sind, bewahrt werden, und damit wir Seine Wege gehen, die voll Lieblichkeit und Frieden sind (Spr. 3, 17).

 

Es gibt in dieser ganzen Welt nichts Gesegneteres als ein Leben in stän­diger Abhängigkeit von Gott, nichts Gesegneteres, als in allem auf Ihn zu warten und sich an Ihn zu halten. Alle unsere Quellen in Ihm zu haben ist das wahre Geheimnis des Friedens und einer wirklichen, hei­ligen Unabhängigkeit von jedem Geschöpf. Die Seele, die wirklich sagen kann: "Alle meine Quellen sind in dir", ist über alles Vertrauen auf das Geschaffene, über menschliche Hoffnungen und irdische Erwartun­gen erhaben. Wir wollen damit nicht sagen, daß Gott sich nicht Seiner Geschöpfe bedient, um uns beizustehen. Aber wenn wir uns auf das Geschöpf und nicht auf Ihn stützen, dann werden wir sehr schnell Dürre und Mangel spüren. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob Gott ein Geschöpf gebraucht, um uns zu segnen, oder ob wir uns auf das Geschöpf stützen und somit Gott ausschließen. In dem einen Fall wer­den wir gesegnet, und Er wird verherrlicht, in dem anderen Fall werden wir enttäuscht, und Er wird verunehrt.

 

Es ist gut, wenn wir diesen Unterschied tief und ernst erwägen. Wir bilden uns oft ein, daß wir uns auf Gott stützen und auf Ihn sehen, während wir in Wirklichkeit, wenn wir den Dingen nur auf den Grund gehen und uns in der Gegenwart Gottes richten, in uns erschreckend viel von dem "Sauerteig" des Vertrauens auf das Geschöpf finden wür­den. Wir reden oft davon, daß wir durch den Glauben leben und einzig auf Gott vertrauen, während wir gleichzeitig ‑ wenn wir uns aufrichtig prüfen würden ‑ ein großes Maß an Abhängigkeit von bestimmten Umständen, von Rücksicht auf in Wirklichkeit unwichtige Dinge bei uns finden würden.

 

Seien wir da sehr aufmerksam! Achten wir darauf, daß wir allein auf den lebendigen Gott sehen, und nicht auf Menschen! Warten wir ge­duldig und beständig auf Ihn! Sind wir wegen irgend etwas in Verle­genheit, dann laßt uns einfach auf Ihn blicken! Wenn wir nicht wissen, welchen Weg wir einschlagen sollen, dann laßt uns daran denken, daß Er gesagt hat: "Ich bin der Weg." Laßt uns Ihm folgen1 Er wird alles klar und gewiß machen. Es kann keine Finsternis, keine Verwirrung, keine Ungewißheit geben, wenn wir Ihm nachfolgen; denn Er hat ge­sagt: "Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis wandeln." Wenn wir daher in Finsternis sind, so ist das nur ein Beweis, daß wir Ihm nicht nachfolgen.

 

Doch könnte jemand, der diese Zeilen liest, sagen: "Ganz gut! Aber dennoch weiß ich nicht, welchen Weg ich zu gehen habe. Ich weiß wirk­lich nicht, wohin ich mich wenden oder welchen Schritt ich tun soll." Den, der so redet, möchte ich fragen: „folgst du Jesu nach?" Wenn du es tust, kannst du nicht unsicher und verwirrt sein. Folgst du der Wolke nach? Dann ist dein Weg so klar, wie Gott ihn nur machen kann. Ver­legenheit oder Ungewißheit ist sehr oft das Ergebnis der Wirksamkeit des eigenen Willens. Wir sind geneigt, etwas zu tun, was durchaus nicht nach dem Willen Gottes ist, irgendwohin zu gehen, wohin wir nach dem Willen Gottes nicht gehen sollten. Wir beten deswegen und erhalten keine Antwort. Woher kommt das? Einfach daher, weil Gott will, daß wir still sein und da bleiben sollen, wo wir gerade sind. Anstatt uns über das, was wir tun sollen, den Kopf zu zerbrechen und unsere Seele zu quälen, laßt uns nichts tun und einfach auf Gott warten. Das ist das Geheimnis des Friedens und der ruhigen Erhabenheit. Wenn ein Israelit in der Wüste es sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, einen Schritt unabhängig von dem HERRN zu tun, wenn er sich vorgenom­men hätte, aufzubrechen, solange die Wolke ruhte, oder Stillzustehen, während die Wolke sich bewegte ‑ wir können uns die Folgen leicht denken. Aber so wird es auch immer mit uns sein. Wenn wir gehen, während wir ruhen sollten, dann werden wir Gottes Gegenwart nicht haben. "Nach dem Befehl des HERRN lagerten sie sich, und nach dem Befehl des HERRN brachen sie auf." Sie mußten fortwährend auf Gott warten ‑ und das ist die gesegnetste Stellung, die ein Mensch einneh­men kann; aber diese muß eingenommen werden, bevor man ihren Se­gen genießen kann. Es ist eine Wirklichkeit, die man kennen muß, nicht nur eine Theorie, über die man spricht.

 

Kapitel 10

 

DIE ZWEI SILBERNEN TROMPETEN

 

Die schöne Verordnung über die silbernen Trompeten (V. 1‑10) wird auf bemerkenswerte Weise mit der ganzen vergangenen und zukünftigen Geschichte Israels verbunden. Der Ton der Trompete war jedem Israe­liten bekannt. Er war sozusagen die Mitteilung der Gedanken Gottes in einer so deutlichen und einfachen Form, daß er von jedem Glied der Gemeinde verstanden werden konnte, wie weit es auch von dem Ort entfernt sein mochte, von dem das Zeugnis ausging. Gott sorgte dafür, daß jeder einzelne in dieser großen Versammlung die Töne der silber­nen Trompete des Zeugnisses hören konnte.

 

Jede Trompete mußte aus einem Stück gemacht werden, und sie diente einem zweifachen Zweck. Mit anderen Worten, es gab nur eine Quelle des Zeugnisses, obwohl der Zweck und das praktische Ergebnis ver­schiedenartig sein mochten. Jede Bewegung im Lager sollte allein durch den Ton der Trompete ausgelöst werden. Mochte die Gemeinde zu fest­licher Freude und zur Anbetung zusammengerufen, mochten die Stäm­me in Schlachtreihen aufgestellt werden, immer geschah es durch den Ton der Trompete. Die feierliche Versammlung und das zum Krieg ausziehende Heer, der Gebrauch der Musikinstrumente und der Griff zu den Waffen ‑ alles wurde durch die silberne Trompete geregelt. jede Handlung, ob festlich, religiös oder kriegerisch, die nicht durch den be­kannten Ton hervorgerufen wurde, konnte deshalb nur die Frucht eines unruhigen und nicht unterworfenen Willens sein, die der HERR in keiner Weise anerkennen konnte. Das Volk Israel in der Wüste war von dem Ton der Trompete ebenso abhängig wie von der Wolke. Der Wille Gottes, der in dieser besonderen Weise mitgeteilt wurde, hatte jede Bewegung der Tausende Israels zu leiten und zu beherrschen.

 

Es war Aufgabe der Söhne Aarons, der Priester, die Trompeten zu bla­sen; denn es war die Nähe Gottes und Gemeinschaft mit Ihm erforder­lich, um Seine Gedanken erkennen und mitteilen zu können. Es war das hohe Vorrecht der priesterlichen Familie, sich um das Heiligtum Gottes zu scharen, dort die erste Bewegung der Wolke zu beobachten und sie dann den entferntesten Teilen des Lagers bekanntzumachen. Die Prie­ster waren verantwortlich, mit den Trompeten einen ganz bestimmten, unverwechselbaren Ton erschallen zu lassen, und jedes Glied des Volkes war verantwortlich, sofort und bedingungslos zu gehorchen. Es wäre Empörung gewesen, wenn jemand es gewagt hätte, ohne Befehl aufzu­brechen oder wenn er sich geweigert hätte, aufzubrechen, nachdem die Anweisung einmal gegeben war. Alle hatten auf das Zeichen Gottes zu warten, und wenn es gegeben wurde, mußten sie sich augenblicklich danach richten. Wenn sie ohne das Zeichen aufgebrochen wären, so wären sie in der Finsternis gewesen, und hätten sie sich, nachdem das Zeichen gegeben war, geweigert, aufzubrechen, so wären sie in der Finsternis geblieben.

 

Das ist sehr einfach und für die Praxis sehr wertvoll. Es ist nicht schwer, die Bedeutung dieser Wahrheit für die Gemeinde in der Wüste zu er­kennen. Aber laßt uns bedenken, daß alle diese Dinge zu unserer Beleh­rung geschrieben sind! Wir sind berufen, die Belehrung, die in dieser schönen Verordnung über die silbernen Trompeten enthalten ist, auf­zunehmen und zu bewahren. Diese Verordnung ist gerade für unsere Zeit wichtig. Sie stellt in klarer Weise dar, daß das Volk Gottes in allem, was es tut, gänzlich von dem Zeugnis Gottes abhängig und ihm vollkommen unterworfen sein muß. Es handelte sich nicht darum, was die einzelnen gern hatten oder nicht, es ging nicht um ihre Gedanken, Meinungen und Urteile, sondern einfach und allein um einen entschie­denen Gehorsam. Der Gesang des Anbeters und das Kampfgeschrei des Kriegers waren beide nur die Frucht des Zeugnisses Gottes.

 

Wie gut und wie lehrreich, wie praktisch gerade für diese Zeit, in der wir leben! Wenn es einen Zug gibt, der mehr als irgendein anderer die gegenwärtige Zeit kennzeichnet, so ist es der Mangel an Unterwerfung unter die Autorität Gottes und der Widerstand gegen die Wahrheit, wenn sie Gehorsam und Selbstverleugnung verlangt. Es geht alles gut, so lange es sich um Wahrheiten handelt, die unsere Vergebung, unsere Annahme, unser Leben, unsere Gerechtigkeit, unsere ewige Sicherheit in Christus betreffen. Man hört sie gern und freut sich darüber. Aber sobald man die Rechte und die Autorität dessen hervorhebt, der Sein Leben hingab, um uns vor der Hölle zu retten und uns die ewige Freude des Himmels zu geben, so entstehen viele Schwierigkeiten, es werden allerlei Schlüsse gezogen, alle Arten von Fragen erhoben. Der Wahrheit wird ihre Schärfe genommen, oder man schiebt sie ganz beiseite. Man wartet nicht auf den Ton der Trompete. Selbst wenn sie in einem Ton erklingt, der so klar ist, wie nur Gott ihn geben kann, erfolgt keine Antwort auf den Ruf. Wir gehen, wenn wir stillstehen sollten, und wir stehen Still, wenn wir gehen sollten.

 

Was muß die Folge davon sein? Entweder gar kein Fortschritt oder ein Schritt in die verkehrte Richtung ‑ was noch schlimmer ist als gar kei­ner. Wir können unmöglich im göttlichen Leben Fortschritte machen, wenn wir uns nicht rückhaltlos dem Wort des Herrn unterwerfen. Wir mögen durch die Gnade Gottes und die Sühnungskraft des Blutes Jesu errettet sein. Aber sollten wir uns damit begnügen? Sollten wir nicht danach streben, nun auch mit Ihm und für Ihn zu leben? Sollten wir das Heil annehmen, das Sein Werk für uns erworben hat, und uns nicht nach einer völligen Unterwerfung unter Seine Autorität in allen Dingen sehnen?

 

Ein Christ hat nicht das Recht, ohne einen göttlichen Befehl etwas zu tun. Er hat auf das Wort seines Herrn zu warten. Bis er es kennt, muß er stillstehen, und wenn er es erhalten hat, muß er vorwärtsgehen. Gott kann heute Seinem streitenden Volk Seine Gedanken ebenso bestimmt mitteilen wie früher Seinem irdischen Volk. Allerdings geschieht es jetzt nicht durch den Ton einer Trompete oder durch die Bewegung einer Wolke, sondern durch Sein Wort und Seinen Geist. Unser Vater leitet uns nicht durch Einwirkungen auf die Sinne, durch äußere Gegebenhei­ten, sondern durch das, was das Herz, das Gewissen und das Ver­ständnis berührt. Er teilt uns Seine Gedanken und Seinen Willen nicht durch das, was natürlich ist mit, sondern durch das, was geistlich ist.

 

Sollten wir annehmen, der Kirche Gottes sei eine Leitung, die ebenso klar ist wie die Leitung des Lagers in der Wüste, versagt? Unmöglich! Woher kommt es aber, daß man so oft Christen trifft, die überhaupt nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen? Es muß daher kommen, daß das "beschnittene Ohr" fehlt, das den Ton der silbernen Trompete ver­nimmt, und der unterwürfige Wille, der gleich gehorcht. Wer ein offe­nes Ohr und ein unterwürfiges Herz besitzt, wird gewiß auch über alles, was er zu tun hat, all die Sicherheit erlangen, die Gott uns geben kann. Unser gnädiger Gott kann und will uns in allen Dingen Klarheit und Entschiedenheit geben. Wenn Er sie nicht gibt, dann kann es nie­mand. Wenn Er sie gibt, so haben wir niemanden sonst nötig.

 

Wir sind in unseren Betrachtungen jetzt bei dem Zeitpunkt angelangt, wo das Lager den Befehl zum Aufbruch erhält. Alles ist vollkommen geordnet nach dieser großen Richtschnur, dem "Befehl des HERRN". jeder Israelit steht nach seiner Abstammung und jeder Stamm nach seinem Panier an dem ihm von Gott angewiesenen Platz. Die Leviten sind auf ihrem Posten. Jeder hat sein genau bestimmtes Werk. Für die Reinigung des Lagers von jeder Art von Unreinigkeit ist reichlich Vor­sorge getroffen. Wir sehen hier außerdem den goldenen Leuchter mit seinen sieben Lampen, die ihr reines Licht geben, die Feuer‑ und Wol­kensäule und endlich das zweifache Zeugnis der silbernen Trompeten. Nichts fehlt dem wandernden Volk. Ein wachsames Auge, eine mäch­tige Hand und ein liebendes Herz hatten für alle Vorkommnisse Sorge getragen, und so war die Versammlung in der Wüste insgesamt und jedes Glied für sich reichlich versorgt.

 

So ist denn das Lager zum Aufbruch bereit. Aber merkwürdigerweise begegnen wir gleich einer Abweichung von der am Anfang des Buches vorgeschriebenen Ordnung. Die Lade des Zeugnisses bleibt nicht in der Mitte des Lagers, sondern sie zieht an der Spitze. Mit anderen Worten: Statt in der Mitte der Gemeinde zu bleiben, um dort bedient zu werden, läßt sich der HERR in Seiner wunderbaren, unbegrenzten Gnade herab für Sein Volk den Dienst eines "Vorpostens" zu übernehmen.

 

Doch hören wir, was diesen Beweis der Gnade veranlaßt hatte: "Und Mose sprach zu Hobab, dem Sohne Reghuels, des Midianiters, des Schwiegervaters Moses: Wir brechen auf nach dem Orte, von welchem der HERR gesagt hat: Ich will ihn euch geben. Ziehe mit uns, so wer­den wir dir Gutes tun; denn der HERR hat Gutes über Israel geredet. Und er sprach zu ihm: Ich will nicht mitziehen, sondern in mein Land und zu meiner Verwandtschaft will ich gehen. Und er sprach: Verlaß uns doch nicht! denn du weißt ja, wo wir in der Wüste lagern sollen; und du wirst unser Auge sein" (V. 29‑31).

 

Wenn wir nicht die Neigung unserer eigenen Herzen kennen würden, sich lieber auf das Geschöpf zu stützen als auf den lebendigen Gott, so könnten wir uns über diese Begebenheit wohl wundern. Wir würden fragen: Wozu brauchte Mose die Augen Hobabs? War der HERR nicht genug? Kannte Er die Wüste nicht? Hätte Er je zugelassen, daß sie sich verirrten? Wozu waren die Wolke und die silbernen Trompeten da? Waren sie nicht weit besser als Hobabs Augen? Warum also suchte Mose menschliche Hilfe? Wir können den Grund leider nur zu gut ver­stehen. Wir alle kennen die Veranlagung unseres Herzens, sich auf etwas Sichtbares zu stützen. Wir sind nicht gern für jeden Schritt der Reise völlig von Gott abhängig. Es fällt uns schwer, uns auf eine un­sichtbare Kraft zu stützen. Ein Hobab, den wir sehen können, flößt uns mehr Vertrauen ein als der lebendige Gott, den wir nicht sehen können. Wir sind beruhigt, wenn irgendein armseliger Sterblicher uns seine Hilfe zusichert; aber wir zögern und verzagen leicht, wenn wir berufen werden, in einfachem Glauben an Gott zu leben. Wir alle sind so sehr geneigt, uns auf einen "fleischlichen Arm" zu stützen ‑ trotz der tau­send Beispiele, die uns zeigen, wie dumm das ist. Wir haben oft genug erfahren, daß alles Vertrauen auf das Geschöpf enttäuscht, aber wir wollen es dennoch nicht aufgeben. Andererseits haben wir wieder und wieder erlebt, daß man auf das Wort und die Hilfe des lebendigen Gottes fest vertrauen kann. Wir haben erfahren, daß Er uns nie ver­säumt, nie enttäuscht hat, daß Er im Gegenteil weit mehr getan hat als wir erbitten oder erdenken können, und dennoch sind wir immer bereit, Ihm zu mißtrauen, uns auf zerbrochenes Schilfrohr zu stützen und uns zu löcherigen Brunnen zu wenden.

 

So ist es mit uns ‑ aber gepriesen sei Gott, daß Seine Gnade für uns so überströmend ist, wie sie es für Israel bei der oben erwähnten Gelegenheit war. Wenn Mose auf Hobab sah, um von ihm geführt zu werden, so belehrte der HERR Seinen Knecht, daß Er selbst als Führer vollkommen genügte. "Und sie brachen auf von dem Berge des HERRN, drei Tagereisen weit, und die Lade des Bundes des HERRN zog drei Tagereisen vor ihnen her, um ihnen einen Ruheort zu er­kunden" (Vers 33).

 

So ist unser Gott, immer geduldig, barmherzig, mächtig und treu. In der Majestät Seiner Gnade stellt Er sich immer über unseren Unglauben und unsere Fehltritte und zeigt sich in Seiner Liebe über alle Schranken erhaben, die unsere Untreue aufstellen möchte. Er zeigte Mose und dem ganzen Volk Israel, daß Er als Führer weit besser war als zehn­tausend Hobabs. Wir wissen nicht, ob Hobab mitging oder nicht. Er schlug die erste Einladung aus und vielleicht auch die zweite; aber es wird uns gesagt, daß der Herr mit ihnen ging. "Und die Wolke des HERRN war über ihnen des Tages, wenn sie aus dem Lager zogen" (V. 34). Was für ein Schutz in der Wüste! Unerschöpfliche Quelle der Hilfe in allen Dingen! Er ging vor Seinem Volk her, um ihm einen Ruheplatz zu suchen. Wenn Er eine Stelle gefunden hatte, die dem entsprach, was sie brauchten, so machte Er Halt mit ihnen und breitete Seine schützenden Hände über sie aus, um sie vor jedem Feind zu bewahren. "Er fand ihn im Lande der Wüste und in der Öde, dem Geheul der Wildnis; er umgab ihn, gab acht auf ihn, er behütete ihn wie seinen Augapfel. Wie der Adler sein Nest aufstört, über seinen jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet, sie aufnimmt, sie trägt auf seinen Schwingen; so leitete ihn der HERR allein, und kein fremder Gott war mit ihm" (5. Mo. 32, 10‑12). "Er breitete eine Wolke aus zur Decke, und ein Feuer, die Nacht zu erleuchten" (Ps. 105, 39).

 

So war denn für alles Vorsorge getroffen nach der Weisheit, Macht und Güte Gottes. Nichts mangelte ‑ nichts konnte mangeln, da Gott selbst da war. "Und es geschah, wenn die Lade aufbrach, so sprach Mose: Stehe auf, HERR, daß deine Feinde sich zerstreuen, und deine Hasser vor dir fliehen! Und wenn sie ruhte, so sprach er: Kehre wieder, HERR, zu den Myriaden der Tausende Israels!"

 

Kapitel 11

 

DIE ERWÄHLUNG DER SIEBZIG ÄLTESTEN

 

Bis jetzt haben wir uns beim überdenken dieses Buches damit beschäf­tigt, wie Gott Sein Volk in der Wüste leitete und versorgte. Wir haben in den ersten zehn Kapiteln die Beweise der Wahrheit, Güte und Vor­sorge des HERRN, des Gottes Israels, gesehen. Doch jetzt kommen wir an einen Punkt, wo düstere Wolken sich um uns sammeln. Bis jetzt haben Gott und Seine Taten vor uns gestanden; aber nun haben wir Gelegenheit, den Menschen und seine traurigen Wege zu betrachten. Das ist immer demütigend. Der Mensch ist überall derselbe. In Eden, auf der wiederhergestellten Erde, in der Wüste, im Lande Kanaan, in der Kirche, im Tausendjährigen Reich ‑ überall zeigt es sich, daß der Mensch völlig versagt. Sobald er sich anschickt zu gehen, fällt er. In den beiden ersten Kapiteln des 1. Buches Mose sehen wir Gott als Schöpfer handeln. Alles wird in göttlicher Vollkommenheit getan und geordnet, und der Mensch wird hineingestellt, um die Frucht der Weisheit, Güte und Macht Gottes zu genießen. Aber schon im dritten Kapitel ist es verändert. Sobald der Mensch anfängt zu wirken, erweist er sich als ungehorsam und führt Verfall und Zerstörung herbei. Ebenso ist es nach der Sündflut. Nachdem die Erde durch diese furchtbare Taufe hindurchgegangen war und der Mensch seinen Platz wieder ein­genommen hatte, stellt er sich wieder als das dar, was er ist. Er beweist, daß er, weit entfernt, die Erde sich unterwerfen und beherrschen zu können, nicht einmal sich selbst beherrschen kann (i. Mose 9). Kaum war dann später Israel aus Ägypten geführt, als es sich das goldene Kalb machte. Kaum war das Priestertum aufgerichtet, da brachten die Söhne Aarons fremdes Feuer. Kaum war endlich Saul zum König ge­salbt, da erwies er sich als eigenwillig und ungehorsam.

 

Das gleiche finden wir im Neuen Testament. Kaum ist die Kirche er­richtet und mit Pfingstgaben ausgestattet, schon hören wir von Murren und Unzufriedenheit. Die Geschichte des Menschen ist von Anfang bis Ende, zu jeder Zeit und an jedem Ort durch Fall und Verderben ge­kennzeichnet. Es gibt nicht eine einzige Ausnahme.

 

Es ist gut, wenn wir diese ernste und wichtige Tatsache beachten. Sie stellt alle falschen Vorstellungen über den Charakter und den Zustand des Menschen richtig. Vergessen wir nicht, daß der schreckliche Urteils­spruch, der das Herz des ausschweifenden Königs von Babel mit Ent­setzen erfüllte, tatsächlich über das ganze menschliche Geschlecht aus­gesprochen wurde: "Du bist auf der Waage gewogen und zu leicht erfunden worden."

 

Beginnen wir jetzt die Betrachtung unseres Kapitels!

 

"Und es geschah, als das Volk sich beklagte, daß es übel war in den Ohren des HERRN; und als der HERR es hörte, da erglühte sein Zorn, und ein Feuer des HERRN brannte unter ihnen und fraß am Ende des Lagers. Und das Volk schrie zu Mose; und Mose betete zu dem HERRN, da legte sich das Feuer. Und man gab selbigem Orte den Namen Tabhera, weil ein Feuer des HERRN unter ihnen gebrannt hatte. Und das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum und sprachen: Wer wird uns Fleisch zu essen geben? Wir gedenken der Fische, die wir in Ägypten umsonst aßen, der Gurken und der Melonen und des Lauchs und der Zwiebeln und des Knoblauchs; und nun ist unsere Seele dürre; gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen" (V. 1‑6).

 

Hier offenbart sich das armselige Herz des Menschen ganz und gar. Seine Wünsche und Neigungen treten offen zutage. Das Volk trauerte de T Land Ägypten nach und warf sehnsüchtige Blicke zurück auf seine Früchte und Fleischtöpfe. Die Peitsche der Treiber und die Mühsal der Ziegelöfen waren vergessen. Das Volk erinnerte sich nur noch an die Dinge, mit denen Ägypten den Wünschen der Natur gedient hatte.

 

Wie oft ist dies bei uns der Fall! Wenn das Herz einmal seine Frische im göttlichen Leben verliert, wenn die himmlischen Dinge anfangen, ihren Geschmack einzubüßen, wenn die erste Liebe abnimmt, wenn Christus aufhört, für die Seele genug und kostbar zu sein, wenn das Wort Gottes und das Gebet ihren Reiz verlieren und langweilig und mechanisch werden ‑ dann sieht man zurück in die Welt, das Herz folgt dem Auge und die Füße folgen dem Herzen. In solchen Zeiten vergessen wir, was die Welt für uns war, als wir noch in ihr waren und zu ihr gehörten. Wir vergessen, welche Mühe und Knechtschaft, welches Elend und welche Erniedrigung wir im Dienst der Sünde und Satans erlebten, und wir denken nur an die Befriedigung und das Wohlsein des Fleisches, nur daran, daß wir die schmerzlichen Übungen, Kämpfe und Unruhen nicht hatten, die auf das Volk Gottes auf seinem Wege durch die Wüste warten.

 

Alles das ist sehr traurig und sollte die Seele zu ernstem Selbstgericht führen. Es ist eine böse Sache, wenn diejenigen, die angefangen haben, dem Herrn nachzufolgen, des Weges und der Vorsorge Gottes müde werden. Wie schrecklich müssen die Worte in den Ohren des HERRN geklungen haben: "Nun ist unsere Seele dürre; gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen!" Ach! Israel, was brauchtest du mehr? War diese himmlische Speise nicht genug für dich? Konntest du nicht leben von dem, was die Hand deines Gottes dir darreichte?

 

Doch ist uns unser himmlisches Manna immer genug? Was bedeutet es, wenn Christen die Frage erheben, ob dieses und jenes weltliche Streben und weltliche Vergnügen gut oder böse sei? Haben wir nicht selbst schon von solchen, die das höchste Bekenntnis abgelegt hatten, Worte wie diese gehört: "Wir können doch nicht immer an Christus und an himmlische Dinge denken. Wir müssen auch kleine Erholungen haben." Ist das nicht etwas ganz Ähnliches wie die Sprache Israels in 4. Mose 11? Und wie die Sprache, so ist das Betragen. Durch die Tatsache, daß wir uns zu anderen Dingen wenden, beweisen wir, daß Christus unseren Herzen nicht mehr genug ist. Wie oft liegt z. B. die Bibel stundenlang vernachlässigt da, während die leichte und wertlose Literatur der Welt zur Hand genommen wird! Reden die zerlesenen Zeitungsblätter und die fast mit Staub bedeckte Bibel nicht eine nur zu deutliche Sprache? Heißt das nicht das Manna verachten und nach dem "Lauch und den Zwiebeln" zu seufzen, ja sich danach zu sehnen?

 

Der Herr gebe uns Gnade, über diese Dinge ernstlich nachzudenken! Möchten wir so im Geiste leben, daß Christus immer genug ist für unsere Herzen! Hätte Israel in der Wüste mit Gott gelebt, so hätte es niemals sagen können: "Unsere Seele ist dürre; gar nichts ist da, nur auf das Man sehen unsere Augen." Dieses Man wäre vollkommen genug für das Volk gewesen. So ist es auch mit uns. Wenn wir in dieser Welt, die eine Wüste ist, wirklich mit Gott leben, so werden wir mit dein Teil zufrieden sein, was Er gibt ‑ und dieses Teil ist ein himm­lischer Christus. Könnte Er jemals nicht völlig genug sein? Ist Er nicht genug für das Herz Gottes? Erfüllt Er nicht alle Himmel mit Seiner Herrlichkeit? Ist Er nicht der Gegenstand des Gesanges der Engel, ihrer Anbetung, ihrer Bewunderung und ihres Dienstes? Ist Er nicht das eine große Ziel der ewigen Ratschlüsse und Pläne Gottes? Reicht nicht die Geschichte Seiner Wege bis in die Ewigkeit?

 

Und weiter: Ist dieser hochgelobte Herr in dem tiefen Geheimnis Seiner Person, in der moralischen Herrlichkeit Seiner Wege, in dem Glanz und der Schönheit Seines Wesens nicht genug für unser Herz? Brauchen wir noch irgend etwas anderes? Haben wir z. B. Zeitungen oder irgend­welches weltliche Schrifttum nötig, um die Leere in unseren Herzen auszufüllen?

 

Und hier möchten wir den Leser fragen: Findest du wirklich, daß Christus nicht genügt, dein Herz zu befriedigen? Gibt es eine Sehn­sucht, der Er nicht vollkommen entspricht? Wenn es so ist, so bist du in einem sehr bedenklichen Seelenzustand, und du solltest nicht zögern, diese ernste Sache aufmerksam zu prüfen. Wirf dich in aufrichtigem Selbstgericht vor Gott nieder! Schütte Ihm dein Herz aus! Sage Ihm alles! Bekenne Ihm, wie du gefallen und verirrt bist; denn das muß geschehen sein, da der Christus Gottes dir nicht mehr genügt! Gönne dir keine Ruhe, bis du völlig und freudig in die Gemeinschaft mit dem Vater zurückgeführt bist ‑ in die Gemeinschaft mit Ihm hinsichtlich des Sohnes Seiner Liebe.

 

"Und das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum." Es gibt nichts Nachteiligeres für die Sache Christi oder für Sein Volk als die Verbindung mit Menschen, die gemischte Grundsätze haben. Das ist weit gefährlicher, als es mit offenen und anerkannten Feinden zu tun zu haben. Satan weiß das wohl, und daher rührt seine fortwährende Anstrengung, das Volk des Herrn mit Leuten in Verbindung zu bringen, die nur halb entschie­den, nur halb für den Herrn sind, oder sogar "unechte Bestandteile" ‑falsche Bekenner ‑ zwischen diejenigen zu bringen, die, wenn auch in Schwachheit, den Weg der Trennung von der Welt zu gehen versuchen.

 

Wir finden im Neuen Testament öfters Anspielungen auf diese beson­dere Eigenart des Bösen, sowohl prophetisch in den Evangelien als auch geschichtlich in der Apostelgeschichte und in den Briefen. So hören wir z. B. von dem Unkraut und dem Sauerteig in Matth. 13. Dann finden wir in der Apostelgeschichte Personen, die sich der Versammlung an­geschlossen hatten und die dem "Mischvolk" in 4. Mose 11 sehr ähnlich waren. Und endlich erwähnen die Apostel nicht wirklich Gläubige, die der Feind zu dem Zweck hereinbrachte, das Zeugnis zu verderben und die Seelen des Volkes Gottes zu verwirren. So spricht der Apostel Paulus von "nebeneingeführten falschen Brüdern" (Gal. 2, 4), und Judas schreibt von gewissen Menschen, die sich nebeneingeschlichen haben" (V. 4).

 

Wir lernen hieraus, wie wichtig es für das Volk Gottes ist, zu wachen und vollkommen abhängig zu sein von dem Herrn, der allein Sein Volk vor falschen Bestandteilen bewahren und es frei von aller Berührung mit Menschen von gemischten Grundsätzen erhalten kann. Das Mischvolk" wird immer "lüstern" sein, und das Volk Gottes steht in großer Gefahr, durch die Verbindung mit ihm seine Klarheit aufzu­geben und des himmlischen Mannas, seiner wahren Nahrung, über­drüssig gemacht zu werden. Was wir brauchen, ist eine einfältige Ent­schiedenheit für Christus, eine gänzliche Hingabe an Ihn und Seine Sache. Wo eine Gemeinschaft von Gläubigen mit ungeteiltem Herzen mit Christus und in entschiedener Trennung von der Welt lebt, da ist die Gefahr nicht so groß, daß Personen mit zweideutigem Wesen einen Platz unter ihnen suchen werden ‑ obwohl Satan ohne Zweifel auch hier durch die Hereinbringung von Heuchlern das Zeugnis zu zerstören suchen wird. Wenn solche Leute einmal da sind, so bringen sie durch ihre bösen Wege Schmach auf den Namen des Herrn. Satan wußte ganz gut, was er tat, als er das Mischvolk veranlaßte, sich der Gemeinde Israel anzuschließen. Die Wirkung dieser Tatsache wurde nicht gleich offenbar. Das Volk war aus Ägypten herausgeführt worden, war durch das Rote Meer geschritten und hatte am Ufer das Siegeslied gesungen. Alles schien glänzend und hoffnungsvoll zu sein; doch das Mischvolk war da, und die Wirkung machte sich sehr bald bemerkbar.

 

So ist es immer in der Geschichte des Volkes Gottes. Wir können in den großen geistlichen Bewegungen, die es von Zeit zu Zeit gab, ge­wisse Elemente des Verfalls bemerken, die durch den reichfließenden Strom der Gnade und Kraft anfangs verborgen blieben, die aber an den Tag traten, sobald der Strom abzunehmen begann. Wie ernst sind diese Dinge! Sie erfordern heilige Wachsamkeit. Das Gesagte läßt sich ebenso bestimmt auf einzelne Personen anwenden wie auf das Volk Gottes im ganzen. Daraus folgt, daß sowohl Versammlungen von Chri­sten als auch einzelne Gläubige immer auf der Hut sein, immer eifrig wachen müssen, damit nicht der Feind in dieser Beziehung einen Vorteil erringt.

 

Doch es gibt in diesem wichtigen Abschnitt noch mehr für uns zu lernen. Nicht nur die ernste Verfehlung Israels haben wir zu betrachten, nein, wir sehen sogar Mose wanken und unter der Last seiner Ver­antwortung beinahe zu Boden sinken. "Und als Mose das Volk nach seinen Geschlechtern, einen jeden am Eingang seines Zeltes, weinen hörte, und der Zorn des HERRN heftig entbrannte, da war es übel in den Augen Moses. Und Mose sprach zu dem HERRN: Warum hast du an deinem Knechte übel getan, und warum habe ich nicht Gnade ge­funden in deinen Augen, daß du die Last dieses ganzen Volkes auf mich legst? . . . Woher soll ich Fleisch haben, um es diesem ganzen Volk zu geben? ... Ich allein vermag nicht dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer. Und wenn du also mit mir tust, so bringe mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe" (V. 10‑15).

 

Das ist wirklich eine erstaunliche Sprache. Nicht, daß wir uns einen Augenblick über die Fehltritte und Schwachheiten eines so teuren und aufopfernden Dieners, wie Mose es war, aufhalten wollen. Ein solcher Gedanke liegt uns fern! Es würde uns schlecht anstehen, über die Taten oder die Reden eines Mannes abfällige Bemerkungen zu machen, von dem der Heilige Geist sagt, daß "er treu war in seinem ganzen Hause" (Hebr. 3, 5).

 

Dennoch sollen wir über den vor uns liegenden Bericht, den Mose selbst niedergeschrieben hat, nachdenken. Im Neuen Testament wird von den Fehlern und Schwachheiten des Volkes Gottes im Alten Bund nicht geredet; in den Schriften des Alten Testaments aber werden sie mit großer Genauigkeit berichtet, und zwar deshalb, weil es zu unserer Belehrung dient. "Denn alles, was zuvor geschrieben ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, auf daß wir durch das Ausharren und durch die Ermunterung der Schriften die Hoffnung haben" (Röm. 15, 4).

 

Was haben wir denn aus dem merkwürdigen Ausbruch der Gefühle Moses zu lernen? jedenfalls das eine, daß die Wüste ans Licht bringt, was selbst in dem Besten von uns wohnt. Hier zeigen wir, was in unserem Herzen ist. Und da das 4. Buch Mose in besonderer Weise das Buch der Wüste ist, können wir erwarten, gerade hier alle Arten von Fehltritten und Schwachheiten aufgedeckt zu finden. Der Geist Gottes zeigt uns die Menschen, wie sie sind; und wenn selbst Mose mit seinen Lippen unbedacht redet (Ps. 106, 33), so wird uns gerade dieses unbe­dachte Reden zur Ermahnung und Belehrung mitgeteilt. Mose war "ein Mensch von gleichen Gemütsbewegungen wie wir", und es wird offen­bar, daß in dem vorliegenden Teil seiner Geschichte sein Herz dem schweren Gewicht seiner Verantwortung erlag.

 

Man wird vielleicht sagen: "Kein Wunder, daß er unterlag, denn die Last war für die Schultern eines Menschen schwer." Aber die Frage ist: War sie für die Schultern Gottes zu schwer? War Mose wirklich be­rufen, die Last allein zu tragen? War nicht der lebendige Gott mit ihm? Und war Er nicht genug? Alle Kraft, alle Weisheit, alle Gnade war in Ihm! Er ist die Quelle alles Segens, und nach dem Urteil des Glaubens macht es durchaus keinen Unterschied, ob dieser Segen durch einen Kanal oder durch tausend Kanäle fließt.

 

Das ist ein schöner Grundsatz für alle Diener Christi. Unablässig haben sie sich daran zu erinnern, daß der Herr einen Menschen, den Er auf einen verantwortungsvollen Posten stellt, für sein Amt befähigt und ihn dort auch erhält, Etwas ganz anderes ist es, wenn ein Mensch sich unberufen in ein Arbeitsfeld oder auf einen schwierigen oder gefährlichen Platz stellen will. In einem solchen Fall wird er gewiß früher oder später zusammenbrechen. Doch wenn Gott einen Menschen in eine Stellung beruft, so rüstet Er ihn auch mit der nötigen Gnade aus. Er sendet nie jemanden auf eigenen Sold in den Krieg. Darum besteht das, was wir zu tun haben allein darin, in allem, was wir benötigen, auf Ihn zu warten. Wir können nie zu Fall kommen, wenn wir uns nur an den lebendigen Gott klammern. Wir erleben keine Dürre, wenn wir nur aus der Quelle schöpfen. Unsere eigenen winzigen Quellen und Bäch­lein werden bald austrocknen; aber unser Herr Jesus Christus erklärt: "Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen" (Joh. 7, 38).

 

Das ist eine wichtige Lehre für die Wüste. Wir können nicht vorwärts­kommen, wenn wir sie nicht verstehen. Hätte Mose sie völlig verstanden, so wären niemals die Worte über seine Lippen gekommen: "Woher soll ich Fleisch haben, um es diesem ganzen Volke zu geben?" Er hätte allein auf den Herrn gesehen. Er hätte verstanden, daß er nur ein Werkzeug in den Händen Gottes war, dessen Hilfsmittel unbe­grenzt sind. Natürlich hätte Mose diese gewaltige Versammlung nicht für einen einzigen Tag mit Nahrung versorgen können, aber der HERR konnte den Bedürfnissen jedes lebenden Wesens entsprechen.

 

Glauben wir das wirklich? Scheint es nicht oft, als ob wir daran zwei­felten? Kommt es uns nicht manchmal so vor, als hätten wir und nicht Gott für das zu sorgen, was wir brauchen? Und ist es dann ein Wun­der, wenn wir verzagen und unterliegen? Ja, Mose mochte wohl sagen: "Ich allein vermag nicht, dieses ganze Volk zu tragen, denn es ist mir zu schwer." Es gab nur ein Herz, das eine solche Menge zu tragen vermochte, nämlich das Herz dessen, der sie befreit hatte, als sie sich in den Ziegelöfen Ägyptens abmühten, und der, nachdem sie aus der Hand ihrer Feinde erlöst waren, Seine Wohnung unter ihnen aufgerich­tet hatte. Er konnte sie tragen und nur Er. Sein liebendes Herz und Seine mächtige Hand allein waren dieser Aufgabe gewachsen. Hätte Mose in der vollen Kraft dieser Wahrheit gestanden, so wäre er nie­mals zu dem bitteren Ausspruch gekommen: Und wenn du also mit mir tust, so bringe mich doch um, wenn ich Gnade gefunden habe in deinen Augen, damit ich mein Unglück nicht ansehe."

 

Das war ein dunkler Augenblick in der Geschichte dieses ausgezeich­neten Knechtes Gottes. Es erinnert uns an den Propheten Elia, der sich unter einen Ginsterstrauch setzte und den Herrn bat, Er möchte seine Seele von ihm nehmen. Wie wunderbar, daß wir diese beiden Männer miteinander auf dem Berg der Verklärung sehen! Welch ein schlagender Beweis dafür, daß die Gedanken Gottes nicht unsere Gedanken und Seine Wege nicht unsere Wege sind! Er hatte für Mose und Elia etwas Besseres vorgesehen als alles, was sie erdenken konnten. Gepriesen sei Sein Name! Er bringt unsere Befürchtungen durch den Reichtum Seiner Gnade zum Schweigen, und wenn unsere armen Herzen sich auf Tod und Unglück gefaßt machen, so gibt Er Leben, Sieg und Herr­lichkeit.

 

Dennoch sehen wir, daß Mose, als er vor der Last der Verantwortung zurückschrak, in Wirklichkeit einen Platz voller Würde und Vorrechte aufgab. Das scheint aus der folgenden Stelle klar hervorzugehen: "Und der HERR sprach zu Mose: Versammle mir siebzig Männer aus den Ältesten Israels, von denen du weißt, daß sie die Ältesten des Volkes und seine Vorsteher sind, und führe sie zu dem Zelte der Zusammen­kunft, daß sie sich daselbst mit dir hinstellen. Und ich werde hernieder­kommen und daselbst mit dir reden, und ich werde von dem Geist nehmen, der auf dir ist, und auf sie legen, daß sie mit dir an der Last des Volkes tragen, und du sie nicht allein tragest" (V. 16. 17).

 

War durch die Einführung der siebzig Männer mehr Kraft gewonnen worden? Gewiß nicht mehr geistliche Kraft; denn da war nach wie vor derselbe Geist, der bis dahin auf Mose geruht hatte. Wohl gab es jetzt einundsiebzig Männer statt eines einzigen; aber die größere Zahl von Männern bedeutete keine Zunahme an geistlicher Kraft. Die neue Regelung ersparte Mose Mühe; aber sie nahm ihm einen Teil seiner Würde. Anstatt das einzige Werkzeug zu sein war er von jetzt an eines neben anderen. Man mag sagen, daß ein so gesegneter Diener wie Mose keine Ehre für sich verlangte, daß er vielmehr einen zurück­gezogenen, niedrigen Platz suchte. Ohne Zweifel tat er das, aber das berührt die vorliegende Frage nicht. Mose war der sanftmütigste Mann auf der Erde, und wir können nicht annehmen, daß irgendein anderer Mensch unter solch schwierigen Umständen besser gehandelt hätte als er. Dennoch gibt uns dieses Kapitel eine bedeutsame Lehre für die Praxis. Selbst die besten Menschen machen Fehler, und es scheint, daß Mose in dieser Situation nicht auf der erhabenen Höhe des Glaubens stand. Er scheint für einen Augenblick das ruhige Gleichgewicht der Seele verloren zu haben, das daher rührte, daß man das Zentrum seines Seins in dem lebendigen Gott findet. Wir erkennen das nicht nur aus der Tatsache, daß er unter der Last seiner Verantwortung zusammen­bricht, sondern auch aus seinen Worten (V. 18‑23).

 

In diesen Worten sehen wir, wie der Geist des Unglaubens wirkt, der Gott immer nur wenig zutraut. Konnte der allmächtige Gott, der Besit­zer des Himmels und der Erde, der Schöpfer des Kosmos, nicht für "sechshunderttausend Mann zu Fuß" Fleisch liefern? Leider versagen wir gerade in diesem Punkt oft in so trauriger Weise. Wir machen uns die Wahrheit, daß wir es mit dem lebendigen Gott zu tun haben, nicht so klar, wie wir sollten. Der Glaube rechnet mit Gott, und darum kennt er keine Schwierigkeiten. Nach dem Urteil des Glaubens ist Gott die Antwort auf jede Frage, die Lösung jeder Schwierigkeit. Der Glaube bezieht alles auf Ihn, und darum macht es ihn nicht ratlos, wenn es sich um die Versorgung von sechshunderttausend Menschen oder mehr handelt. Er weiß, daß Gottes Macht völlig genügt. Er findet alle Quellen seiner Hilfe in Ihm. Der Unglaube fragt: "Wie kann dies oder das geschehen?" Er wird beherrscht von der Frage: "Wie?", aber der Glaube hat eine einzige große Antwort auf tausend "Wie", und diese Antwort ist: Gott.

 

"Da ging Mose hinaus und redete zu dem Volke die Worte des HERRN; und er versammelte siebzig Männer aus den Ältesten des Volkes und stellte sie rings um das Zelt. Und der HERR kam in der Wolke hernieder und redete zu ihm und nahm von dem Geiste, der auf ihm war, und legte ihn auf die siebzig Männer, die Ältesten. Und es geschah, sobald der Geist auf sie kam, weissagten sie; aber sie fuhren nicht fort" (V. 24. 25).

 

Das wahre Geheimnis alles Dienstes ist geistliche Kraft. Es besteht nicht in den Fähigkeiten, dem Verstand und der Kraft des Menschen, sondern einfach in der Kraft des Geistes Gottes. Das war in den Tagen Moses wahr, und es gilt noch heute. "Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist, spricht der HERR der Heer­scharen" (Sach. 4, 6). Es wäre gut, wenn alle Diener des Herrn sich dessen immer bewußt wären. Es wäre für ihr Herz eine Stütze und würde ihrem Dienst eine beständige Frische verleihen. Ein Dienst, der aus einer fortwährenden Abhängigkeit von dem Heiligen Geist er­wächst, kann nie unfruchtbar werden. Wenn ein Mensch sich auf seine eigenen Hilfsquellen verläßt, wird er bald mit leeren Händen dastehen. Es macht nichts aus, welche Gaben er besitzt, wie belesen er ist und welche Erkenntnis oder Beredsamkeit er hat: wenn der Heilige Geist nicht die Quelle und die Kraft seines Dienstes bleibt, muß dieser Dienst früher oder später seine Frische und Wirksamkeit verlieren.

 

Wie wichtig ist es also, daß alle, die dienen, sei es am Evangelium oder in der Kirche Gottes, sich beständig und ausschließlich auf die Kraft des Heiligen Geistes stützen! Er weiß, was die Seelen nötig haben, und Er kann allem Mangel abhelfen. Aber man muß Ihm vertrauen und Ihn in Anspruch nehmen. Es genügt nicht, sich teilweise auf sich selbst und teilweise auf den Geist Gottes zu stützen. Wenn Selbstvertrauen da ist, so wird das schnell deutlich werden. Wir müssen dem, was zu unserem eigenen Ich gehört, wirklich auf den Grund gehen, wenn wir Gefäße des Heiligen Geistes sein wollen.

 

Das bedeutet nicht, daß Fleiß> und Ernst in der Erforschung des Wor­tes Gottes wie auch ein Nachdenken über Versuchungen, Übungen, Kämpfe und mancherlei Schwierigkeiten der Seelen nicht nötig seien. Gerade das Gegenteil ist wahr. je mehr wir leer sind von uns selbst und uns auf die mächtige Kraft des Heiligen Geistes stützen, um so fleißiger und ernster werden wir sowohl die Bibel als auch unsere Seele erforschen. Es wäre ein verhängnisvoller Irrtum, wenn ein Mensch das Bekenntnis der Abhängigkeit vom Geist Gottes als einen Vorwand be­nutzen wollte, das mit Gebet verbundene Forschen zu vernachlässigen. "Bedenke dieses sorgfältig; lebe darin, auf daß deine Fortschritte allen offenbar sein" (l. Tim. 4, 15). Doch vergessen wir nie, daß der Hei­lige Geist die immer lebendige, unversiegbare Quelle des Dienstes ist!

 

Er allein kann in göttlicher Frische und Fülle die Schätze des Wortes Gottes aufdecken und sie in himmlischer Kraft auf die jeweiligen Be­dürfnisse der Seele anwenden. Es handelt sich nicht darum, neue Wahr­heiten zu enthüllen, sondern einfach darum, das Wort selbst auszu­legen und es auf den inneren, geistlichen Zustand des Volkes Gottes anzuwenden. Das ist wahrer Dienst.

 

Das gilt sowohl für den Evangelisten als auch für den Hirten und Lehrer. Es kann jemand berufen sein, das Evangelium jahrelang an dem gleichen Orte zu predigen, obwohl ihn manchmal der Gedanke be­drücken mag, daß er immer wieder über dasselbe Thema zu der gleichen Zuhörerschaft sprechen muß. Er mag wünschen, an einen anderen Ort zu gehen, wo die Gedanken, mit denen er vertraut ist, den Zuhörern neu sind. Ein solcher Evangelist sei daran erinnert, daß Christus das eine große Thema seiner Verkündigung ist. Die Kraft zur Behandlung dieses Themas ist der Heilige Geist, und derjenige, dem Christus vor­zustellen ist, ist der verlorene Sünder. Nun ist Christus zwar immer neu, die Kraft des Geistes immer frisch, aber der Zustand der Seele ist häufig dem Wechsel unterworfen. Außerdem ist es gut, wenn sich der Evangelist bei jeder neuen Gelegenheit daran erinnert, daß diejenigen, zu denen er spricht, das Evangelium in Wirklichkeit nicht kennen. Er sollte daher so reden, als vernehme seine Zuhörerschaft die Botschaft zum erstenmal. Denn die Verkündigung des Evangeliums ist im gött­lichen Sinn des Wortes nicht eine unfruchtbare Darstellung bloßer Lehrsätze oder eine bestimmte Form von Worten, die immer wieder in ermüdender Gleichmäßigkeit wiederholt werden. Im Gegenteil. Das Evangelium predigen heißt: das Herz Gottes, die Person und das Werk Christi vorstellen, und zwar durch die gegenwärtige Kraft des Heiligen Geistes und aus dem unerschöpflichen Schatz der Heiligen Schrift.

 

Möchten alle Diener des Wortes diese Dinge beherzigen; dann wird es kaum darauf ankommen, ob es einen Diener gibt oder siebzig und es wird auch keine Rolle spielen, ob jemand an demselben Ort fünfzig Jahre lang predigt oder an fünfzig verschiedenen Orten in einem Jahr. Es handelt sich durchaus nicht um andere Menschen oder andere Orte, sondern einfach und allein um die Kraft des Heiligen Geistes, der den Seelen Christus vorstellt. So gab es auch in diesem Fall bei Mose keine Zunahme an Kraft; sondern von dem Geist, den er besaß, wurde den siebzig Ältesten gegeben. Gott kann durch einen Menschen ebensogut wie durch siebzig wirken, und wenn Er nicht wirkt, sind auch siebzig nicht mehr als einer. Entscheidend ist das Bewußtsein von der Gegen­wart Gottes. Das ist das wahre Geheimnis der Kraft und der Frische, sowohl für den Evangelisten als auch für den Lehrer und für jeden anderen. Wenn ein Mensch sagen kann: "Alle meine Quellen sind in Gott", so braucht er sich wegen seines Wirkungskreises und der Fähig­keit ' ihn auszufüllen, nicht zu beunruhigen. Aber wenn das nicht der Fall ist, dann ist es begreiflich, daß ein Mensch sich nach Verringerung seiner Arbeit und seiner Verantwortung sehnt. Erinnern wir uns, wie wenig geneigt Mose war, in einfacher Abhängigkeit von Gott nach Ägypten zu gehen ‑ und wie bereitwillig er in Gemeinschaft mit Aaron ging. So ist es immer. Wir lieben etwas Greifbares, etwas, was das Auge sehen und die Hand fassen kann. Es fällt uns schwer, standhaft auszuhalten, als sähen wir den Unsichtbaren. Und dennoch erweisen sich die Stützen, auf die wir uns verlassen, so oft als zerbrochene Rohr­stäbe, die uns die Hand durchbohren. Aaron wurde für Mose eine Ursache des Kummers, und diejenigen, die wir in unserer Torheit für unentbehrliche Mitarbeiter halten, werden häufig gerade das Gegenteil davon. Wenn wir doch alle lernen möchten, uns mit ungeteiltem Herzen und unerschütterlichem Vertrauen auf den lebendigen Gott zu stützen!

 

Bevor wir dieses Kapitel schließen, müssen wir uns noch einen Augen­blick den wirklich vorzüglichen Geist ansehen, mit dem Mose den neuen Umständen, in die er sich selbst gebracht hatte, begegnet. Vor der Last der Verantwortung und der Mühe zurückzuschrecken, ist etwas ganz anderes als sich dann gegenüber denjenigen, die berufen sind, diese Last mit uns zu teilen, in Gnade und in echter Demut zu betragen. Im folgenden offenbart Mose die große Sanftmut, die ihn so besonders auszeichnete. "Und zwei Männer [von den siebzig] blieben im Lager zurück, der Name des einen war Eldad, und der Name des anderen Medad; und auch auf sie kam der Geist, (sie waren nämlich unter den Aufgeschriebenen, waren aber nicht zum Zelte hinausgegangen) und sie weissagten im Lager. Da lief ein Jüngling hin und berichtete es Mose und sprach: Eldad und Medad weissagen im Lager. Und Josua, der Sohn Nuns, der Diener Moses, einer von seinen Jünglingen, antwortete und sprach: Mein Herr Mose, wehre ihnen! Aber Mose sprach zu ihm: Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk des HERRN Propheten sein, daß der HERR seinen Geist auf sie legte" (V. 26‑29).

 

Das ist wirklich schön. Mose war weit entfernt von dem traurigen Geist des Neides, der keinen anderen sprechen lassen möchte als sich selbst. Er war durch die Gnade fähig, sich über jede Offenbarung wahrer geistlicher Kraft zu freuen, ganz gleich, wo oder durch wen sie sich zeigte. Er wußte sehr wohl, daß die zwei Männer einzig und allein durch die Macht des Geistes Gottes weissagen konnten, und wer war er, daß er diese Macht, wo sie sich auch offenbarte, zu ersticken oder zu hemmen suchen sollte?

 

Wollte Gott, dieser vortreffliche Geist wäre mehr unter uns vorhanden! Möchte jeder von uns ihn pflegen! Möchten wir Gnade haben, uns über das Zeugnis und den Dienst aller Kinder Gottes von Herzen zu freuen, selbst wenn wir nicht alles mit denselben Augen ansehen wie sie und obwohl die Art und Weise und das Maß der Gabe verschieden sein mögen! Nichts ist verächtlicher als der kleinliche Geist des Neides und der Eifersucht, der einen Menschen hindert, an irgend etwas, das nicht sein eigenes Werk ist, Interesse zu haben. Wenn der Geist Christi in unseren Herzen wirksam ist, können wir das weite Feld unseres Meisters übersehen und alle Seine geliebten Arbeiter anerkennen. Wir werden uns dann von Herzen freuen, wenn das Werk getan wird, ganz gleich, wer es tut. Ein Mensch, dessen Herz von Christus erfüllt ist, wird ungezwungen sagen können: "Wenn nur das Werk getan und Christus verherrlicht wird, ist es mir einerlei, wer das Werk tut."

 

Das ist der Geist, den wir pflegen sollten. Er steht in krassem Gegen­satz zu der Engherzigkeit und Selbstliebe, die sich nur an einem Werk freuen können, in dem das eigene Ich einen hervorragenden Platz hat. Möge der Herr uns von alledem befreien und uns befähigen, den Seelenzustand zu bewahren, den Mose offenbarte in den Worten:

 

"Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk des HERRN Propheten sein, daß der HERR seinen Geist auf sie legte!"

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels zeigt uns das Volk in dem un­glücklichen und verhängnisvollen Genuß dessen, wonach ihr Herz ge­lüstet hatte. "Da gab er ihnen ihr Begehr, aber er sandte Magerkeit in ihre Seelen" (Ps. 106, 15). Sie bekamen, wonach sie so dringend ver­langt hatten; aber sie fanden darin den Tod. Sie wollten Fleisch haben, und mit dem Fleisch kam das Gericht Gottes. Wie ernst ist das! Möch­ten wir diese Warnung beachten! Das arme Herz ist voll eitler Wünsche und hassenswerter Lüste. Es ist nicht mit dem himmlischen Man zu­frieden. Es will etwas anderes haben. Gott erlaubt, daß wir es bekom­men. Aber was folgt? Magerkeit, Dürre, Gericht!

 

0 Herr, bewahre unsere Herzen, daß sie immer auf Dich allein gerichtet sind! Sei Du, solange wir durch diese Welt gehen, das immer genü­gende Teil unserer Seele, bis wir Dein Angesicht in Herrlichkeit sehen!

 

Kapitel 12

 

MOSE UND DAS KUSCHITISCHE WEIB

 

Der anschließende kurze Abschnitt unseres Buches kann unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden: zunächst unter dem seiner bildlichen, dann aber auch unter dem seiner moralischen bzw. praktischen Bedeutung.

 

In der Verbindung Moses mit dem "kuschitischen Weib" wird das große und wunderbare Geheimnis von der Vereinigung der Kirche mit Christus, ihrem Haupt, bildhaft dargestellt. Dieses Thema hat uns schon bei der Betrachtung des 2. Buches Mose beschäftigt. Hier aber sehen wir es in einem besonderen Licht: der Anlaß ist die Feindschaft Aarons und Mirjams. Das unumschränkte Handeln der Gnade ruft den Wider­stand derer hervor, die irgendwelche fleischlichen Vorrechte haben. Wir wissen aus dem Neuen Testament, daß gerade die Tatsache, daß sich die Gnade auch auf die Heiden ausdehnte, bei den Juden wilden und schrecklichen Haß hervorrief. Sie wollten diese Ausdehnung der Gnade nicht, sie wollten sie nicht wahrhaben; sie wollten sogar nichts davon hören. Römer 11 enthält eine sehr bemerkenswerte Anspielung hierauf, wenn der Apostel dort im Blick auf die Heiden sagt: "Denn gleichwie auch ihr einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadi­gung gekommen seid durch den Unglauben dieser, also haben auch jetzt diese [die Juden] an eure Begnadigung nicht geglaubt, auf daß auch sie unter die Begnadigung kommen" (V. 30. 31).

 

Das ist genau das, was wir in der Geschichte Moses bildlich vorgestellt finden. Mose stellte sich zuerst Israel dar, seinen Brüdern nach dem Fleische; aber sie verwarfen ihn im Unglauben. Sie stießen ihn von sich und wollten ihn nicht. Das wurde in der Unumschränktheit Gottes der Anlaß, dem Fremdling Gnade zu erweisen; denn während der Zeit seiner Verwerfung durch Israel schloß Mose die Verbindung mit einer heidnischen Braut, eine Verbindung, die eine bildliche Bedeutung hat. Gegen diese Verbindung reden Aaron und Mirjam in diesem Kapitel, und ihr Widerstand bringt das Gericht Gottes auf sie. Mirjam wird aussätzig, eine elende, unreine Person, ein passender Gegenstand für die Barmherzigkeit, die sie gerade durch die Fürbitte dessen erfährt, gegen den sie geredet hatte.

 

Das Bild ist vollständig und sehr treffend. Die Juden haben nicht an die herrliche Wahrheit der Begnadigung der Heiden geglaubt, und daher ist der Zorn völlig über sie gekommen. Aber sie werden später wieder ‑und zwar ebenso wie die Heiden ‑ auf den Boden der Gnade zurück­geführt werden. Das ist sehr demütigend für sie, die ja auf dem Boden der Verheißung und der nationalen Vorrechte zu stehen suchten. Aber so ist es nach dem Walten der Weisheit Gottes, und gerade der Ge­danke daran bewirkt in dem Apostel den herrlichen Lobpreis am Ende von Röm. 11: "0 Tiefe des Reichtums, sowohl der Weisheit als auch der Erkenntnis Gottes! Wie unausforschlich sind seine Gerichte und unausspürbar seine Wege! Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Mitberater gewesen? Oder wer hat ihm zuvorgegeben, und es wird ihm vergolten werden? Denn von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge; ihm sei die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen" (V. 33‑36).

 

So viel über die bildliche Bedeutung dieses Kapitels. Sehen wir uns jetzt seine moralische und praktische Seite an!

 

Es ist eine sehr ernste Sache, wider einen Knecht des Herrn zu reden. Wir können sicher sein, daß Gott früher oder später darauf zurück­kommen wird. In dem Fall Mirjams kam das Gericht Gottes plötzlich und ernst. Gegen den zu sprechen, den Gott so deutlich erhoben und mit einem großen Auftrag betraut hatte, war ein schweres Unrecht, ja war in Wirklichkeit Empörung. Überdies hatte Mose gerade in der Sache, über die sie sich beklagten, in völliger Übereinstimmung mit den Ratschlüssen Gottes gehandelt, indem er von dem herrlichen Geheim­nis, das von den Zeitaltern her in Gott verborgen war, d. h. von der Einheit Christi mit der Kirche, ein Bild gab.

 

In jedem Fall aber ist es ein verhängnisvoller Fehler, gegen einen Knecht Gottes ‑ und sei es der schwächste und niedrigste ‑ zu reden.

 

Wenn der Knecht Böses tut, wenn er im Irrtum ist, wenn er in einer Sache versagt hat, so wird der Herr selbst sich mit ihm beschäftigen. Doch seine Mitknechte sollten sich hüten, die Sache in ihre Hände zu nehmen, damit sie nicht wir Mirjam sich selbst schaden.

 

Es ist manchmal schrecklich, zu hören, in welcher Weise man sich erlaubt, über Diener Christi zu reden und zu schreiben. Wohl mögen sie Anlaß dazu geben. Sie können durchaus Fehler gemacht und einen verkehrten Geist, eine gereizte Stimmung geoffenbart haben. Aber dennoch ist es eine große Sünde gegen Christus, wenn man von Seinen Knechten übel redet. Sicher sollten wir die Bedeutung und den Ernst der Worte fühlen: "Warum habt ihr euch nicht gefürchtet, wider meinen Knecht zu reden?"

 

Gott gebe uns Gnade, daß wir uns vor diesem schlimmen übel hüten! In jedem Kind Gottes können wir etwas Gutes finden, vorausgesetzt, daß wir es auf die rechte Weise suchen. Beschäftigen wir uns doch nur mit dem Guten! Bestehen wir darauf und versuchen wir, das Gute auf alle mögliche Weise zu stärken und zu entwickeln! Wenn wir anderer­seits aber in unserem Bruder oder Mitknecht nichts Gutes haben ent­decken können, wenn wir nur Verkehrtes gesehen haben, wenn es uns nicht gelungen ist, den glühenden Funken in der Asche, den kost­baren Edelstein in dem ihn umgebenden Schutt zu finden, wenn alles, was wir gesehen haben, lediglich von der alten Natur zu sein scheint, nun, dann laßt uns schweigen und nur vor dem Thron der Gnade von unserem Bruder sprechen!

 

Und wenn wir mit solchen zusammenkommen, die gegen das Volk des Herrn reden, und wir können der Unterhaltung nicht eine andere Wendung geben, dann laßt uns aufstehen und den Raum verlassen und so Zeugnis ablegen gegen das, was so hassenswert ist für Christus. Laßt uns nie bei einem Verleumder und Ohrenbläser sitzen und ihm zuhören! Wir können sicher sein, daß er das Werk des Teufels tut. Er fügt drei verschiedenen Seiten Schaden zu: sich selbst, seinem Zu­hörer und dem, über den er seine kritischen Bemerkungen macht.

 

Es liegt etwas außerordentlich Schönes in der Art und Weise, wie Mose sich hier verhält. Er erweist sich in Wahrheit als ein sanftmütiger Mann, nicht nur in der Angelegenheit mit Eldad und Medad, sondern auch in der schwierigeren Sache mit Mirjam und Aaron. Anstatt auf die ersteren eifersüchtig zu werden, die berufen waren, seine Würde und Verantwortung zu teilen, freute er sich über ihr Werk und wünschte, das ganze Volk möchte dasselbe heilige Vorrecht besitzen. Und anstatt gegen seine Geschwister ein Gefühl der Rache aufkommen zu lassen, war er sofort bereit, Fürbitte zu tun. "Da sprach Aaron zu Mose: Ach, mein Herr! lege doch nicht die Sünde auf uns, durch welche wir töricht gehandelt und uns versündigt haben! Möge sie doch nicht sein wie ein totes Kind, dessen Fleisch, wenn es aus seiner Mutter Leibe hervorkommt, zur Hälfte verwest ist! Und Mose schrie zu dem HERRN und sprach: 0 Gott, bitte, heile sie doch!" (V. 11‑13)

 

Hier offenbart Mose den Geist seines Meisters und bittet für die, die so bitter gegen ihn gesprochen hatten. Das war der Sieg eines sanft­mütigen Mannes, der Sieg der Gnade. Ein Mensch, der seinen richtigen Platz in der Gegenwart Gottes kennt, kann sich über alle bösen Reden erheben. Sie betrüben ihn nicht ‑ es sei denn um derer willen, die sie führen ‑, und er ist fähig, sie zu vergeben. Er ist nicht empfindlich, hartnäckig oder von sich selbst eingenommen. Er weiß, daß niemand ihn tiefer stellen kann als er es verdient, und wenn deshalb jemand gegen ihn redet, kann er sich sanftmütig beugen und seinen Weg fort­setzen, indem er sich und seine Sache dem anheimstellt, der recht richtet und der gewiß einem jeden nach seinen Werken vergelten wird.

 

Das ist wahre Würde. Möchten wir sie besser verstehen! Dann würden wir nicht so schnell heftig werden, wenn jemand von uns oder unserem Werk verächtlich spricht. Wir würden im Gegenteil fähig sein, ernst für solche zu beten und so auf sie und auf uns Segen herabbringen.

 

Die Schlußverse unseres Kapitels (V. 14‑16) sind eine Bestätigung für die bildliche Auslegung, auf die oben hingedeutet wurde. Wir können die aus dem Lager ausgeschlossene Mirjam als ein Bild vom gegen­wärtigen Zustand des Volkes Israel betrachten, das wegen seines un­versöhnlichen Widerstandes gegen Gottes Gedanken der Gnade über die Heiden beiseitegesetzt ist. Aber wenn die "sieben Tage" verflossen sind, wird Israel aufgrund einer unumschränkten Gnade, die das Volk durch die Fürbitte Christi erfahren wird, wiederhergestellt werden.

 

Kapitel 13 und 14

 

DIE KUNDSCHAFTER

 

"Und der HERR redete zu Mose und sprach: Sende Männer aus, daß sie das Land Kanaan auskundschaften, welches ich den Kindern Israel gebe; je einen Mann für den Stamm seiner Väter sollt ihr aussenden, jeder ein Fürst unter ihnen. Und Mose sandte sie aus der Wüste Paran nach dem Befehl des HERRN" (V. 1‑3).

 

Um dieses Gebot besser zu verstehen, müssen wir es in Verbindung mit einer Stelle im 5. Buch Mose sehen, wo Mose, indem er die Be­gebenheiten der wunderbaren Geschichte Israels in der Wüste aufzählt, dem Volk eine wichtige Einzelheit in Erinnerung ruft: "Und wir bra­chen auf vom Horeb und zogen durch diese ganze große und schreck­liche Wüste, die ihr gesehen habt, des Wegs nach dem Gebirge der Amoriter, so wie der HERR, unser Gott, uns geboten hatte; und wir kamen bis Kades‑Barnea. Und ich sprach zu euch: Ihr seid gekommen bis zu dem Gebirge der Amoriter, das der HERR, unser Gott, uns gibt. Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; ziehe hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht! Und ihr tratet alle zu mir und sprachet: "Laßt uns Männer vor uns hersenden, daß sie uns das Land erforschen und uns Bescheid bringen über den Weg, auf dem wir hinaufziehen, und über die Städte, zu denen wir kommen sollen" (5. Mose 1, 19‑22).

 

Hier wird der Ursprung der Begebenheit gezeigt, die uns in 4. Mose 13, 2 mitgeteilt wird. Es ist klar, daß der Herr das Gebot bezüglich der Kund­schafter wegen des moralischen Zustandes des Volkes gab. Hätten sie sich durch einen einfachen Glauben leiten lassen, so hätten sie nach den beeindruckenden Worten Moses gehandelt: "Siehe, der HERR, dein Gott, hat das Land vor dich gestellt; ziehe hinauf, nimm in Besitz, so wie der HERR, der Gott deiner Väter, zu dir geredet hat; fürchte dich nicht und verzage nicht!" (5. Mose 1, 21) In dieser schönen Stelle wird mit eine Silbe von Kundschaftern gesagt. Wozu braucht der Glaube Kundschafter, wenn er das Wort und die Gegenwart des leben­digen Gottes hat? Wenn der HERR ihnen ein Land gegeben hatte, so mußte es der Mühe wert sein, es in Besitz zu nehmen. Und außerdem hatte Er über die Natur und die Beschaffenheit dieses Landes folgendes gesagt: "Denn der HERR, dein Gott, bringt dich in ein gutes Land, ein Land von Wasserbächen, Quellen und Gewässern, die in der Niederung und im Gebirge entspringen; ein Land von Weizen und Gerste und Weinstöcken und Feigenbäumen und Granatbäumen; ein Land von ölreichen Olivenbäumen und Honig; ein Land, in welchem du nicht in Dürftigkeit Brot essen wirst, in welchem es dir an nichts mangeln wird; ein Land, dessen Steine Eisen sind, und aus dessen Bergen du Erz hauen wirst" (5. Mose 8, 7‑9).

 

Hätte das dem Volk Israel nicht genügen sollen? Hätten sie mit dem Zeugnis Gottes nicht zufrieden sein sollen? Hatte nicht Er selbst das Land für sie ausgesucht und ihnen alles Nötige darüber gesagt? Wozu waren noch Männer nötig, die das Land auskundschaften sollten? Gab es von Dan bis Beerseba einen einzigen Ort, der Gott nicht vollkommen bekannt war? Kannte Er nicht alle Schwierigkeiten, und war Er nicht imstande, sie zu überwinden? Warum traten sie alle zu Mose und sprachen: Laßt uns Männer vor uns hersenden, daß sie uns das Land erforschen und uns Bescheid bringen über den Weg"?

 

Diese Fragen richten sich unmittelbar an uns selbst. Sie ertappen uns geradezu und machen deutlich, wo wir stehen. Es ist nicht unsere Sache, über die Wege Israels in der Wüste zu Gericht zu sitzen, hier einen Irrtum und dort ein Versagen herauszustellen. Wir haben alle diese Dinge als Bilder zu betrachten, die zu unserer Warnung vor uns hingestellt sind. Sie sind wie Leuchttürme, die eine freundliche Hand auf­gestellt hat, um uns vor den gefährlichen Sandbänken, Untiefen und Klippen zu warnen, die unsere Sicherheit bedrohen.

 

Es könnte jedoch jemand fragen: "Befahl denn der Herr nicht ausdrücklich, Kundschafter auszusenden? Und wenn das der Fall ist, warum war es 'verkehrt von Israel, dem Befehl zu folgen?" Allerdings befahl der Herr nach 4. Mose 13, Kundschafter auszusenden; aber nach 5. Mose 1 war der Befehl nur die Konsequenz des wirklichen Zustandes des Volkes. Der Gedanke, Kundschafter zu senden, war im Herzen Israels entstanden. Gott aber sah seinen Zustand, und Er gab ein Gebot, das diesem Zustand angemessen war.

 

Im Anfang des 1. Buches Samuel finden wir in Verbindung mit der Erwählung eines Königs etwas Ähnliches. Der Herr befahl Samuel, auf die Stimme des Volkes zu hören und ihm einen König zu geben (i. Sam. 8, 22). Geschah dies etwa, weil Er ihre Absicht billigte? Im Gegenteil, Er erklärte unmißverständlich, daß diese Absicht ganz ein­deutig Seine Verwerfung bedeutete. Der Befehl wurde nur als Folge des Zustandes Israels erteilt. Sie wurden es müde, gänzlich von einer un­sichtbaren Kraft abhängig zu sein. Sie sehnten sich nach der Kraft des Fleisches. Sie wünschten, wie die Nationen in ihrer Umgebung einen König zu haben, der vor ihnen herziehen und ihre Schlachten für sie schlagen sollte. Und Gott gab ihnen, was sie verlangten; aber sie muß­ten sehr bald erkennen, wie abwegig ihre Gedanken waren. Ihre Er­wartungen schlugen fehl, und sie mußten erfahren, daß es eine böse und bittere Sache ist, den lebendigen Gott zu versuchen und sich auf ein zerbrochenes Rohr zu stützen, das man selbst gewählt hatte.

 

Dasselbe sehen wir in der Geschichte, die uns jetzt beschäftigt. Zweifel­los war die Absicht, Kundschafter auszusenden, die Frucht des Un­glaubens. Ein einfacher Glaube, der auf Gott vertraut, hätte nie an so etwas gedacht. Sollten wir sterbliche Boten aussenden, um ein Land zu erforschen, das der ewige Gott uns gnädig verliehen und das Er so genau und zuverlässig beschrieben hat? Nein, wir sagen doch lieber: "Das Land ist die Gabe Gottes, und darum muß es gut sein. Sein Wort ist unserem Herzen genug. Wir brauchen keine Kundschafter, wir brau­chen nicht die Aussage eines Menschen zur Bestätigung des Wortes des lebendigen Gottes. Er hat gegeben; Er hat gesprochen; das ist genug."

 

Israel war nicht fähig, so zu reden. Sie wollten nun einmal Kundschaf­ter senden. Der HERR wußte das, und darum gab Er ein Gebot, das mit dem moralischen Zustand des Volkes in unmittelbarer Beziehung stand. Die ganze Sache war die Frucht ihrer Schwachheit und ihres Un­glaubens, obwohl Gott in Seiner unendlichen Güte und nie irrenden Weisheit schließlich alles zur Entfaltung dessen, was Seine Wege waren, und zur Offenbarung Seiner Herrlichkeit ausschlagen ließ.

 

Die Verse 17‑27 bestätigen alles, was der Herr über das Land gesagt hatte. Sie enthalten das Zeugnis von zwölf Männern darüber, daß das Land in der Tat von Milch und Honig floß. ja, das Volk konnte sich mit eigenen Augen überzeugen, was für herrliche Früchte in dem Land wuchsen. Die zwölf Männer waren wirklich in dem Land gewesen, waren vierzig Tage lang darin umhergewandert, hatten aus seinen Quellen getrunken und von seinen Früchten gegessen. Der Glaube hätte hieraus nun nur den einen Schluß ziehen können: dieselbe Hand, die zwölf Männer in das Land geführt hatte, war fähig, auch die ganze Gemeinde dorthin zu führen.

 

Aber ach! das Volk wurde nicht durch Glauben geleitet, sondern von einem finsteren, niederdrückenden Unglauben beherrscht, und selbst die Männer, die ausgesandt worden waren, um die Gemeinde zu überzeu­gen und zu befestigen, standen ‑ mit nur zwei glänzenden Ausnahmen ‑ unter der Macht des gleichen, Gott verunehrenden Unglaubens. Der Ausgang der ganzen Sache machte nur den wahren Zustand des Volkes offenbar. Der Unglaube war herrschend. Das Zeugnis war klar genug: "Wir sind in das Land gekommen, wohin du uns gesandt hast; und wirklich, es fließt von Milch und Honig, und dies ist seine Frucht." An der Aussage Gottes über das Land war nichts falsch. Es war ganz so, wie Er gesagt hatte. Die Kundschafter selbst waren Zeugen davon. Aber hören wir, was folgt: "Nur daß das Volk stark ist, welches in dem Lande wohnt, und die Städte befestigt, sehr groß; und auch die Kinder Enaks haben wir dort gesehen" (V. 25).

 

Da, wo der Mensch beteiligt ist und der Unglaube wirkt, folgt mit Sicherheit immer ein "Aber", ein "Nur". Die ungläubigen Kundschafter sahen die Schwierigkeiten: große Städte, hohe Mauern, mächtige Rie­sen; aber den HERRN sahen sie nicht. Sie sahen auf die sichtbaren Dinge; aber ihr Auge war nicht auf den gerichtet, der unsichtbar ist. Ohne Zweifel waren die Städte groß; aber Gott war größer. Die Mauern waren hoch; aber Gott war größer. Die Riesen waren stark, aber Gott war stärker.

 

So urteilt der Glaube immer. Er zieht seine Schlüsse von Gott aus auf die Schwierigkeiten. Er beginnt mit Ihm. Der Unglaube dagegen be­ginnt mit den Schwierigkeiten und schließt von diesen auf Gott. Das bedeutet natürlich nicht, daß wir gegen die Schwierigkeiten unempfind­lich oder daß wir sorglos sein sollten! Weder Unempfindlichkeit noch Sorglosigkeit sind Glaube. Es gibt viele Leute, die leicht durchs Leben zu gehen scheinen, weil sie grundsätzlich alles von der angenehmsten Seite aufzufassen suchen. Aber das ist nicht Glaube. Der Glaube sieht den Schwierigkeiten ins Gesicht. Er sieht und fühlt die rauhe, schlimme Seite der Dinge. Er ist nicht unwissend, nicht gleichgültig, nicht sorglos, aber ‑ er bringt den lebendigen Gott mit allem in Verbindung. Er schaut auf Ihn, stützt sich auf Ihn und nimmt alles, was er braucht, von Ihm. Darin liegt das Geheimnis seiner Kraft. Er hat die tiefe und feste Überzeugung, daß für den allmächtigen Gott nie eine Mauer zu hoch, nie eine Stadt zu groß und nie ein Riese zu stark ist. Der Glaube allein gibt Gott den Ihm zukommenden Platz, und daher ist er es auch allein, der die Seele über die Einflüsse äußerer Umstände erhebt, mögen diese sein, wie sie wollen. Kaleb offenbarte diesen wertvollen Glauben, als er sagte‑. "Lagt uns nur hinaufziehen und es in Besitz nehmen, denn wir werden es gewißlich überwältigen" (V. 30). So spricht der lebendige Glaube, der Gott verherrlicht und sich durch die Umstände nicht er­schrecken läßt.

 

Leider beherrschte dieser lebendige Glaube die große Mehrzahl der Kundschafter ebensowenig wie die, die sie ausgesandt hatten, und daher wurde der eine Gläubige von den zehn Ungläubigen übertönt "Die Männer, die mit ihm hinaufgezogen waren, sprachen: Wir ver­mögen nicht gegen das Volk hinaufzuziehen" (V. 31). Die Sprache des Unglaubens war der Sprache des Glaubens genau entgegengesetzt. Der eine sprach, indem er auf Gott schaute: "Wir werden es gewißlich überwältigen." Die andern aber sagten im Blick auf die Schwierig­keiten: "Wir können nicht." Und wie es damals war, so ist es heute noch. Der Glaube sieht nur den lebendigen Gott und darum nicht die Schwierigkeiten; der Unglaube aber sieht nur die Schwierigkeiten und nicht Gott. Der Glaube rechnet mit Gott, und alles ist hell und leicht. Der Unglaube schließt Gott aus, und alles ist dunkel und schwierig.

 

"Und sie brachten unter die Kinder Israel ein böses Gerücht über das Land aus, das sie ausgekundschaftet hatten, und sprachen: Das Land, welches wir durchzogen haben, um es auszukundschaften, ist ein Land, das seine Bewohner frißt; und alles Volk, das wir darin gesehen haben, sind Leute von hohem Wuchse; auch haben wir dort die Riesen gesehen, die Kinder Enaks, von den Riesen; und wir waren in unseren Augen wie Heuschrecken, und also waren wir auch in ihren Augen" (V. 32. 33). Kein Wort von Gott! Er ist gänzlich ausgeschlossen. Hätten die Kundschafter an Ihn gedacht, hätten sie die Riesen mit Ihm ver­glichen, so hätte es ihnen nichts ausgemacht, ob sie selbst wie Heu­schrecken waren oder Männer. Aber durch ihren traurigen Unglauben stellten sie den Gott Israels auf gleiche Ebene mit einer Heuschrecke.

 

Es ist merkwürdig, daß der Unglaube, wo und wann immer er auch wirksam wird, stets durch die gleiche Tatsache charakterisiert wird: er schließt Gott aus. Eine Ausnahme von dieser Regel gibt es nicht. Alle Urteile und Schlüsse des Unglaubens beruhen auf der Ausschließung Gottes.

 

"Da erhob die ganze Gemeinde ihre Stimme und schrie, und das Volk weinte in selbiger Nacht." Kann uns das wundern? Was anders konnte von einem Volk erwartet werden, das nichts als mächtige Riesen, hohe Mauern und große Städte vor sich sah? Nur Tränen und Seufzer konnte eine Gemeinde haben, die sich angesichts solch unüberwindlicher Schwierigkeiten als "Heuschrecken" sah und kein Gefühl von der Macht Gottes hatte, die sie siegreich durch alles hindurchführen konnte. Die ganze Gemeinde war dem Unglauben preisgegeben. Gott war aus­geschlossen. Da war nicht ein einziger Lichtstrahl, der die Finsternis, mit der sie sich selbst umgaben, erhellt hätte. Sie waren mit sich und ihren Schwierigkeiten beschäftigt, anstatt mit Gott und Seinen Hilfs­mitteln. Was konnten sie deshalb tun außer weinen und klagen?

 

Was für ein Gegensatz zwischen den ersten Versen dieses Kapitels und dem Anfang von 2. Mose 15! Dort waren ihre Augen nur auf den HERRN gerichtet gewesen, und darum konnten sie den Siegesgesang anstimmen: "Du hast durch deine Güte geleitet das Volk, das du erlöst, hast es durch dein Stärke geführt zu deiner heiligen Wohnung. Es hörten's die Völker, sie bebten; Angst ergriff die Bewohner Philistäas. Da wurden bestürzt die Fürsten Edoms; die Starken Moabs, sie ergriff Beben; es verzagten alle Bewohner Kanaans. Es überfiel sie Schrek­ken und Furcht" (V. 13‑16). Stattdessen war jetzt Israel verzagt und bestürzt, voller Furcht und Schrecken. Und warum? Weil der, auf den dort ihr Blick gerichtet gewesen war, jetzt völlig außerhalb ihrer Ge­danken war. Im ersten Fall hatte der Glaube die Oberhand, im zweiten der Unglaube.

 

In 2. Mose 15 steht der HERR weit über allem. Es ist nur von Seiner rechten Hand die Rede, von seinem mächtigen Arm, Seiner Macht, Seinem Erbe, Seinem Heiligtum, Seinen Taten zugunsten Seines er­lösten Volkes. Und wenn die Bewohner Kanaans erwähnt werden, so wird an sie nur als solche gedacht, die bestürzt und von Zittern er­griffen sind, die vor Furcht beben und verstummen.

 

Wie ganz anders ist es in 4. Mose 14! Welch eine traurige Veränderung hat stattgefunden! Die Söhne Enaks werden plötzlich bedeutungsvoll; die turmhohen Mauern, die Riesenstädte füllen allein den Blick des Volkes aus, und wir hören kein Wort von dem allmächtigen Befreier. Unwillkürlich fragt man: "Wie ist es möglich, daß aus den triumphie­renden Sängern am Roten Meer so ungläubige Weinende in Kades werden konnten?"

 

Wir finden hier eine tiefe und heilige Lehre. Erinnern wir uns nur immer wieder an die Worte: "Alle diese Dinge aber widerfuhren jenen als Vorbilder und sind geschrieben worden zu unserer Ermahnung, auf welche das Ende der Zeitalter gekommen ist" (i. Kor. 10, 11)! Sind nicht auch wir genau wie Israel, weit mehr bereit, auf die uns umgebenden Schwierigkeiten zu sehen auf den Einen, der es über­nommen hat, uns wohlbehalten durch alles hindurchzuführen und uns sicher in Sein ewiges Reich zu bringen? Warum sind wir oft so nieder­geschlagen? Warum hört man unter uns mehr Worte der Unzufrieden­heit und der Ungeduld als Lob‑ und Dankgesänge? Einfach deshalb, weil wir den Umständen erlauben, Gott aus unseren Gedanken auszu­schließen, statt daß wir Gott allein im Herzen haben.

 

Und fragen wir ferner: Warum versagen wir oft so kläglich, wenn es darum geht, unsere Stellung als himmlische Menschen (i. Kor. 15, 58) zu behaupten, von dem Besitz zu nehmen, was uns als Christen gehört, nämlich das geistliche und himmlische Erbe, das Christus für uns er­worben hat und wohin Er als unser Vorläufer gegangen ist? Ein einziges Wort genügt, diese Frage zu beantworten: Unglaube.

 

Das Wort Gottes erklärt im Blick auf Israel, "daß sie nicht [in Kanaan] eingehen konnten wegen des Unglaubens" (Hebr. 3, 19). So ist es auch mit uns. Wir versagen darin, in unser himmlisches Erbe einzutreten, praktisch von unserem wahren und eigentlichen Teil Besitz zu ergreifen und Tag für Tag als ein himmlisches Volk zu leben, das keinen Platz, keinen Namen, kein Teil auf der Erde hat, das nur insofern mit dieser Welt zu tun hat, als es sie als Pilger und Fremdlinge durchwandert, indem es den Spuren dessen folgt, der vorausgegangen ist und Seinen Platz im Himmel eingenommen hat. Und warum unterlassen wir es? Wegen unseres Unglaubens. Der Glaube fehlt, und darum haben die sichtbaren Dinge mehr Macht über unsere Herzen als die unsichtbaren. Möchte der Heilige Geist unseren Glauben stärken, unseren Seelen Kraft geben und uns aufwärts leiten, so daß wir nicht nur von einem himmlischen Leben sprechen, sondern es leben ‑ zum Preise dessen, der uns in Seiner unendlichen Gnade dazu berufen hat!

 

Die Geschichte Israels in der Wüste enthält zwei traurige Phasen, die in besonderer Weise durch Unglauben charakterisiert sind: die eine am Horeb, die andere in Kades. Am Horeb machten sie ein Kalb und sagten: "Das ist dein Gott, Israel, der dich aus dem Lande Ägypten heraufgeführt hat." In Kades schlugen sie vor, einen Führer zu bestim­men, der sie nach Ägypten zurückführen sollte (V. 2‑4). Am Horeb zeigt sich der abergläubische Unglaube, in Kades die eigenwillige Unab­hängigkeit des Unglaubens. Wir brauchen uns gewiß nicht zu wundern, wenn die, die gemeint hatten, ein Kalb habe sie aus Ägypten geführt, einen Führer suchten, der sie wieder dorthin zurückbrächte. Kaleb steht in einem wunderbaren Gegensatz zu alledem. Für ihn handelte es sich weder darum, in der Wüste zu sterben, noch darum, nach Ägypten zurückzukehren, sondern für ihn handelte es sich um einen "reichlichen Eingang" in das verheißene Land unter dem Schild des HERRN.

 

"Und Josua, der Sohn Nuns, und Kaleb, der Sohn Jephunnes, von denen, die das Land ausgekundschaftet hatten, zerrissen ihre Kleider, und sie sprachen zu der ganzen Gemeinde der Kinder Israel und sagten ­Das Land, das wir durchzogen haben, um es auszukundschaften, das Land ist sehr gut. Wenn der HERR Gefallen an uns hat, so wird er uns in dieses Land bringen und es uns geben, ein Land, das von Milch und Honig fließt. Nur empöret euch nicht wider den HERRN; und fürchtet ja nicht das Volk des Landes, denn unser Brot werden sie sein. Ihr Schirm ist von ihnen gewichen, und der HERR ist mit uns; fürchtet sie nicht! Und die ganze Gemeinde sagte, daß man sie steinigen solle" (V. 6‑10).

 

Und warum sollten sie gesteinigt werden? Weil sie Lügen geredet, weil sie gelästert oder Böses getan hatten? Nein, sondern wegen ihres mutigen und ernsten Zeugnisses, das sie für die Wahrheit ablegten. Sie waren in das Land gesandt worden, um es auszukundschaften und dann eingehend und wahrheitsgetreu über ihre Beobachtungen zu berichten. Das taten sie, und deshalb sagte die ganze Gemeinde, "daß man sie steinigen solle". Das Volk liebte die Wahrheit damals nicht stärker, als der Mensch sie heute liebt. Die Wahrheit ist nie volkstümlich. Für sie gibt es weder in der Welt noch im Herzen des Menschen einen Platz. Lügen und Irrtümer in allen Formen werden angenommen, die Wahr­heit aber niemals. Josua und Kaleb mußten zu ihrer Zeit erfahren, was die wahren Zeugen aller Zeiten erfahren haben und erwarten müssen, nämlich den Haß und den Widerstand ihrer Mitmenschen. Sechshunderttausend Stimmen erhoben sich gegen zwei Männer, die einfach die Wahrheit sagten und auf Gott vertrauten. So war es damals, so ist es heute, und so wird es sein bis zu jenem herrlichen Augenblick, da "die Erde wird voll sein der Erkenntnis des HERRN, gleichwie die Wasser den Meeresgrund bedecken" (Jes. 11, 9).

 

Wie wichtig ist es, wie Josua und Kaleb fähig zu sein, für die Wahr­heit Gottes ein klares und unerschütterliches Zeugnis abzulegen! Wie wichtig ist es, die Wahrheit über das Teil und das Erbe der Heiligen aufrechtzuhalten! Immer ist das Bestreben vorhanden, die Wahrheit zu verderben, zu zerstückeln und aufzugeben und den göttlichen Maß­stab zu verringern. Daher ist es so dringend nötig, daß wir die Wahr­heit in der Kraft Gottes in unserer Seele haben, daß wir, wenn auch nur wenig, fähig sind zu sagen: "Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben.‑ Kaleb und Josua waren nicht nur im Land gewesen, sondern sie hatten es auch von dem Standpunkt des Glaubens aus betrachtet. Sie wußten, daß das Land nach den Vorsätzen Gottes ihnen gehörte, daß es ‑ als die Gabe Gottes ‑ wert sei, es zu besitzen, und daß sie es durch die Macht Gottes gewiß einmal haben würden. Sie waren Männer voll Glauben, Mut und Kraft.

 

Glückliche Männer! Sie lebten im Licht der Gegenwart Gottes, während sich die ganze Gemeinde in dunklem Unglauben befand. So wird man immer solche finden, die zweifellos Kinder Gottes sind, die aber bezüg­lich ihrer Stellung und ihres Teils als Heilige Gottes sich niemals auf die Höhe der göttlichen Offenbarung zu erheben vermögen. Sie sind immer voll von Zweifeln und Befürchtungen. Sie sehen stets die finstere Seite der Dinge. Sie schauen auf sich selbst, auf ihre Umstände und auf ihre Schwierigkeiten. Sie sind nie glücklich und sind nie fähig, das freudige Vertrauen und den Mut zu offenbaren, die einem Christen ziemen und Gott verherrlichen.

 

Wie schade ist das! Der Christ sollte immer friedevoll und glücklich sein, immer Gott preisen können, was auch kommen möge. Seine Freu­den haben ihren Ursprung weder in ihm selbst noch in dem Schauplatz, auf dem er lebt; sie haben ihre Quelle in dem lebendigen Gott und stehen deshalb über jedem irdischen Einfluß. Ein Christ kann sagen: "Mein Gott, die Quelle aller meiner Freuden." Das ist das große Vor­recht selbst des schwächsten Gotteskindes. Aber gerade hierin versagen wir so vielfach. Wir wenden unsere Augen von Gott ab und richten sie auf uns selbst, auf unsere Umstände, Kümmernisse und Schwierig­keiten, und dadurch kann nur Unzufriedenheit, Murren und Klagen entstehen. Aber das ist kein wahres Christentum. Es ist Unglaube, der Gott entehrt und uns selbst niederdrückt. "Gott hat uns nicht einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit" (2. Tim. 1, 7). Das ist die Sprache eines wirklich geistlichen "Kaleb"; eine Sprache, die an einen Menschen gerichtet wurde, dessen Herz die Last der Schwierigkeiten und Gefahren um sich her sehr wohl fühlte. Der Geist Gottes erfüllt die Seele des wahren Gläubigen mit heiligem Mut. Er verleiht ihr Erhabenheit über die kalte und düstere Atmosphäre, die uns umgibt, und erhebt die Seele in den glänzenden Sonnenschein jener Region, wo Stürme und Fluten sich nie erheben.

 

"Da erschien die Herrlichkeit des HERRN an dem Zelte der Zusam­menkunft allen Kindern Israel. Und der HERR sprach zu Mose: Wie lange will mich dieses Volk verachten, und wie lange wollen sie mir nicht glauben bei all den Zeichen, die ich in ihrer Mitte getan habe? Ich will es mit der Pest schlagen und es vertilgen; und ich will dich zu einer Nation machen, größer und stärker als sie" (V. 10‑12).

 

Was für ein Augenblick im Leben Moses! Hier gab es etwas, was die alte Natur für eine ausgezeichnete Gelegenheit hätte halten können. Der Feind konnte sagen: "jetzt ist eine günstige Zeit für dich. Dir wird das Anerbieten gemacht, das Haupt und der Gründer einer großen und mächtigen Nation zu werden, und zwar von dem HERRN selbst. Du hast es nie gesucht. Es wird dir von dem lebendigen Gott an­geboten, und es wäre die größte Torheit, es abzuweisen." Aber Mose war kein selbstsüchtiger Mensch. Er war zu sehr vom Geist Christi durchdrungen, als daß er etwas hätte sein wollen. Da war kein un­heiliger Ehrgeiz, kein selbstsüchtiges Trachten. Er suchte nur die Ehre Gottes und das Wohl seines Volkes, und um dieser Zwecke willen war er durch die Gnade bereit, sich selbst und seine Interessen zu opfern. Hören wir seine wunderbare Antwort! Anstatt sich auf das Aner­bieten zu stürzen, das ihm in den Worten gemacht wird: "Ich will dich zu einer Nation machen, größer und stärker als sie" ‑ anstatt gierig die günstige Gelegenheit zu ergreifen, die ihm geboten wird, um den Grund zu seinem persönlichen Ruhm und Glück zu legen, läßt er seine Person vollkommen beiseite und antwortet mit schöner Uneigennützig­keit: "So werden die Ägypter es hören; denn durch deine Macht hast du dieses Volk aus ihrer Mitte heraufgeführt; und man wird es den Bewohnern dieses Landes sagen, welche gehört haben daß du, HERR, in der Mitte dieses Volkes bist, daß du, HERR, Auge in Auge dich sehen läßt, und daß deine Wolke über ihnen steht, und du in einer Wolkensäule vor ihnen hergehst bei Tage und in einer Feuersäule bei Nacht. Und tötest du dieses Volk wie einen Mann, so werden die Na­tionen, die deinen Ruf gehört haben, sprechen und sagen: Weil der HERR nicht vermochte, dieses Volk in das Land zu bringen, das er ihnen zugeschworen hatte, so hat er sie in der Wüste hingeschlachtet" (V. 13‑16).

 

Hier nimmt Mose den höchsten Standpunkt ein, der möglich ist. Er ist einzig und allein mit der Ehre des Herrn beschäftigt. Er kann den Ge­danken nicht ertragen, daß der Glanz dieser Ehre in den Augen der unbeschnittenen Nationen irgendwie getrübt werde. Was lag daran, ob er das Haupt eines Volkes wurde? Was lag daran, ob Millionen ihn in Zukunft als ihren berühmtesten Stammvater betrachten würden? Wenn diese persönliche Herrlichkeit und Größe nur durch die Auf­opferung eines Strahls der göttlichen Herrlichkeit erreicht werden konnte, dann weg mit allem! Der Name Mose mag auf immer ausge­löscht werden, nicht aber das Volk. Mose hatte ähnliches in den Tagen des goldenen Kalbes gesagt, und er war bereit, es jetzt zu wiederholen. Angesichts des Aberglaubens und angesichts der Unabhängigkeit einer ungläubigen Nation schlug das Herz Moses nur für die Ehre Gottes. Sie mußte um jeden Preis gewahrt bleiben. Mochte kommen, was da wollte, und mochte es kosten, was es wollte, die Ehre des Herrn mußte erhalten werden. Mose fühlte, daß es nur dann richtig um eine Sache stehen konnte, wenn deren Grundlage war, daß die Ehre des Gottes Israels unbedingt aufrecht erhalten wurde. Der Gedanke, sich selbst auf Kosten Gottes groß gemacht zu sehen, war dem Herzen dieses Gottesmannes unerträglich. Nein, der Name, den er so sehr liebte, durfte unter den Nationen nicht verlästert werden! Nie sollte jemand sagen können: "Der HERR vermochte nicht das Volk ins Land zu bringen."

 

Doch noch etwas anderes war wichtig für das uneigennützige Herz von Mose. Er dachte an das Volk. Er liebte es und sorgte für sein Wohl. Die Ehre des Herrn stand ohne Zweifel an erster Stelle, sodann aber folgte das Wohl Israels. "Und nun", fügte er hinzu, "möge doch die Macht des Herrn sich groß erweisen, so wie du geredet hast, indem du sprachst: der HERR ist langsam zum Zorn und groß an Güte, der Un­gerechtigkeit und Übertretung vergibt, ‑ aber keineswegs hält Er für schuldlos den Schuldigen ‑ der die Ungerechtigkeit der Väter heimsucht an den Kindern am dritten und am vierten Gliede. Vergib doch die Ungerechtigkeit dieses Volkes nach der Größe deiner Güte, und so wie du diesem Volke verziehen hast von Ägypten an bis hierher" (V. 17‑19).

 

Die Reihenfolge, der Ton und der Geist in dieser ganzen Bitte sind kostbar. Da ist zunächst und hauptsächlich die eifersüchtige Sorge für die Ehre des Herrn. Aber dann wird auf eben dieser Grundlage der Aufrechthaltung der Ehre Gottes ‑ Vergebung für das Volk erbeten. "Möge sich doch die Macht des Herrn groß erweisen." Wozu? Zum Gericht und zur Vernichtung? Nein, sondern "der HERR ist langsam zum Zorn". Welch ein Gedanke: die Macht Gottes in Langmut und Vergebung! Wie unaussprechlich herrlich! In welch inniger Gemein­schaft mit dem Herzen und den Gedanken Gottes mußte Mose stehen, wenn er in solcher Weise reden konnte! Und welch einen Gegensatz bildet er zu Elia, als dieser am Berge Horeb gegen Israel auftrat! Es ist leicht zu erkennen, welcher von diesen beiden geehrten Männern mehr in Übereinstimmung mit den Gedanken und dem Geiste Christi war. "Vergib doch die Ungerechtigkeit dieses Volkes nach der Größe deiner Güte!" Diese Worte waren angenehm für den HERRN, dessen Freude es ist, zu vergeben. "Und der HERR sprach: Ich habe vergeben nach deinem Worte." Aber dann fügte Er hinzu: "Doch aber, so wahr ich lebe, soll von der Herrlichkeit des HERRN erfüllt werden die ganze Erde."

 

Beachten wir diese beiden Worte sorgfältig: "Ich habe vergeben", und "von der Herrlichkeit des HERRN soll erfüllt werden die ganze Erde." Die Vergebung ist zugesichert, und die Herrlichkeit wird noch über die ganze Erde ihren Glanz verbreiten. Keine Macht der Erde oder der Hölle kann je die göttliche Unangreifbarkeit dieser beiden kostbaren Feststellungen zerstören. Und Israel wird sich einst der völligen Ver­gebung seines Gottes erfreuen, und die ganze Erde wird sich einmal an den hellen Strahlen Seiner Herrlichkeit freuen. Dann aber begegnen wir hier sowohl der Regierung Gottes als auch Seiner Gnade. Diese Begriffe dürfen nie durcheinander gebracht werden. Das ganze Buch Gottes zeigt den Unterschied zwischen Gnade und Regierung, und vielleicht tut es keine andere Stelle stärker als der hier betrachtete Abschnitt. Die Gnade vergibt und wird die Erde mit den Strahlen der göttlichen Herr­lichkeit erfüllen. Aber beachten wir das erschreckende Walten der Regierung, wie es sich in den folgenden Worten kundgibt: "Denn alle die Männer, die meine Herrlichkeit und Zeichen gesehen haben, welche ich in Ägypten und in der Wüste getan, und mich nun zehnmal ver­sucht und nicht gehört haben auf meine Stimme ‑ wenn sie das Land sehen werden, das ich ihren Vätern zugeschworen habe! ja, alle, die mich verachtet haben, sollen es nicht sehen. Aber meinen Knecht Kaleb, weil ein anderer Geist in ihm gewesen und er mir völlig nachgefolgt ist, ihn werde ich in das Land bringen, in welches er gekommen ist; und sein Same soll es besitzen. Die Amalekiter aber und die Kanaaniter wohnen in der Niederung; morgen wendet euch und brechet auf nach der Wüste, des Weges zum Schilfmeer" (V. 22‑25).

 

Das ist sehr ernst. Anstatt Gott zu vertrauen und in einfacher Ab­hängigkeit von Seiner Allmacht mutig in das Land der Verheißung zu gehen, fordert das Volk Ihn durch seinen Ungehorsam heraus, ver­achtet das angenehme Land und wurde gezwungen, wieder in die große und schreckliche Wüste zurückzukehren (V. 26‑35).

 

Es ist äußerst wichtig, hier zu erkennen, daß es der Unglaube war, der Israel außerhalb des Landes Kanaan hielt. Die göttliche Erklärung in Hebr. 3 stellt dies außer Zweifel:. "Wir sehen, daß sie nicht eingehen konnten wegen des Unglaubens." Vielleicht mag jemand einwenden, daß die Zeit zum Eintritt Israels in das Land Kanaan noch nicht ge­kommen war, weil die Gottlosigkeit der Amoriter noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte. Aber das war nicht der Grund, weshalb Israel sich weigerte, den Jordan zu überschreiten. Sie wußten nichts von der Gottlosigkeit der Amoriter und dachten auch gar nicht daran. Die Schrift spricht klar und eindeutig: "Sie konnten nicht eingehen und es wird nicht hinzugefügt. wegen der Amoriter, oder weil die Zeit noch nicht gekommen war, sondern ‑: "wegen des Unglaubens".

 

Sie hätten hineingehen sollen. Das war ihre Pflicht, und weil sie es unterließen, wurden sie gerichtet. Der Weg lag offen vor ihnen. Das Urteil des Glaubens war klar und bestimmt: "Laßt uns nur hinauf­ziehen und es in Besitz nehmen, denn wir werden es gewißlich über­wältigen." Sie waren damals ebensogut wie zu irgendeinem anderen Zeitpunkt fähig, das Land in Besitz zu nehmen, weil der, welcher ihnen das Land gegeben hatte, die Ursache ihrer Fähigkeit war.

 

Es ist gut, das zu beachten und sorgfältig darüber nachzudenken. Es gibt eine Art, von den Ratschlüssen, Plänen und Anordnungen Gottes zu sprechen, von den Handlungen seiner Regierung, und von den Zeiten und Stunden, die Er Seiner Macht vorbehalten hat ‑ eine Art, die darauf abzielt, die Grundlagen menschlicher Verantwortlichkeit umzustoßen. Wir müssen davor sorgfältig auf der Hut sein. Nie dürfen wir vergessen, daß die Verantwortlichkeit des Menschen auf dem beruht, was geoffenbart ist, nicht auf dem, was verborgen ist. Die Israeliten waren verantwortlich, sofort zu gehen und das Land in Besitz zu nehmen, und sie wurden gerichtet, weil sie es nicht taten. Sie starben in der Wüste, weil sie keinen Glauben hatten, das Land zu betreten.

 

Enthält das nicht eine ernste Lehre für uns? Ganz gewiß! Woher kommt es, daß wir als Christen so wenig unsere himmlische Stellung praktisch verwirklichen? Wir sind durch das Blut des Lammes vom Gericht und durch den Tod Christi von dieser gegenwärtigen Welt befreit; aber wir gehen nicht im Geist und durch den Glauben über den Jordan und nehmen nicht Besitz von unserem himmlischen Erbe. Man deutet gewöhnlich den Jordan als Bild des Todes, als das Ende unseres natürlichen Lebens in dieser Welt. Das ist in gewissem Sinn richtig. Aber wie kommt es, daß die Israeliten, als sie endlich den Jordan überschritten hatten, anfangen mußten zu kämpfen? Gewiß werden wir keinen Kampf mehr haben, sobald wir wirklich im Himmel sind! Die Seelen derer, die im Glauben an Christus heimgegangen sind, kämpfen nicht mehr. Sie sind da, wo es keinen Kampf und keinen Streit mehr gibt. Sie sind in der Ruhe. Sie warten auf den Auferste­hungsmorgen; aber sie warten in Ruhe, ohne Kampf.

 

Es ist daher im Jordan mehr als nur das Ende unseres natürlichen Lebens in dieser Welt bildlich dargestellt. Wir müssen den Jordan als Bild des Todes Christi betrachten, ebenso wie das Rote Meer und das Blut des Passahlammes Bilder dieses Todes waren, obwohl von anderen Gesichtspunkten aus betrachtet. Das Blut des Lammes war Israels Schutz vor dem Gericht Gottes über Ägypten. Die Wasser des Roten Meeres befreiten Israel von Ägypten selbst und von seiner Macht. Aber es mußte noch über den Jordan gehen. Es mußte seine Fußsohle auf das Land der Verheißung setzen und dort seinen Platz trotz aller Feinde behaupten. Israel mußte jeden Zentimeter Boden in Kanaan erkämpfen.

 

Aber haben wir uns denn den Himmel noch zu erkämpfen? Wenn ein Christ entschläft und seine Seele hingeht, um mit Christus im Paradies zu sein, steht ihm dann noch ein Kampf bevor? Gewiß nicht! Was aber bedeutet dann der Übergang über den Jordan und der Kampf in Kanaan selbst? Einfach dies: Jesus ist gestorben. Er hat diese Welt ver­lassen. Er ist nicht nur für unsere Sünden gestorben, sondern Er hat auch jedes Band zerrissen, das uns mit dieser Welt verknüpfte, so daß wir der Welt gestorben sind, so wie wir auch der Sünde und dem Gesetz gestorben sind. Wir haben in den Augen Gottes und nach dem Urteil des Glaubens so wenig mit dieser Welt zu tun wie ein Toter. Wir sind berufen, uns hier für tot zu halten und Gott zu leben durch Christus Jesus, unseren Herrn. Wir leben in der Kraft des neuen Le­bens, das wir in der Vereinigung mit einem auferstandenen Christus besitzen. Wir gehören dem Himmel an, und indem wir unsere Stellung als himmlische Menschen auch praktisch wahr machen, haben wir mit den geistlichen Mächten der Bosheit in den himmlischen Örtern zu kämpfen (Eph. 6) ‑ gerade in dem Gebiet, das uns gehört und aus dem diese Mächte noch nicht vertrieben sind. Wenn wir uns allerdings damit begnügen, "nach Menschenweise zu wandeln" (‑i. Kor. 3, 3), als solche zu leben, die zu dieser Welt gehören, beim Jordan stehen zu bleiben; wenn wir uns damit begnügen, "als solche, die auf der Erde wohnen", zu leben, wenn wir nicht nach dem uns gehörenden himm­lischen Teil und Platz streben, dann allerdings werden wir den Kampf nicht kennen, der in Eph. 6, 12 beschrieben wird. Dadurch, daß wir jetzt auf dieser Erde als himmlische Menschen zu leben suchen, erfahren wir die Bedeutung dieses Kampfes, der das Gegenbild der Kriege Israels in Kanaan ist. Wir werden nicht mehr zu kämpfen haben, wenn wir in den Himmel eingehen. Aber wenn wir auf der Erde ein himm­lisches Leben zu führen wünschen, wenn wir uns als solche betragen wollen, die der Welt gestorben sind und in dem leben, der für uns in die kalten Fluten des Jordan hinabgestiegen ist, dann wird uns der Kampf nicht erspart bleiben. Satan wird nichts unversucht lassen, uns daran zu hindern, in der Kraft unseres himmlischen Lebens zu leben.

 

Daher rührt der Kampf. Der Teufel wird uns so weit bringen, daß wir wie diejenigen leben, die als Bürger dieser Welt eine irdische Stellung haben und sich für ihre Rechte einsetzen, so daß wir auf diese Weise praktisch die große christliche Grundwahrheit, daß wir in und mit Christus gestorben und auferstanden sind, verleugnen.

 

Wenden wir uns einen Augenblick Eph. 6 zu, um zu sehen, wie dieses interessante Thema dort von dem inspirierten Schreiber dargestellt wird! "Übrigens, Brüder, seid stark in dem Herrn und in der Macht seiner Stärke. Ziehet an die ganze Waffenrüstung Gottes, damit ihr zu bestehen vermöget wider die Listen des Teufels. Denn unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut [wie er es für Israel war], sondern wider die Fürstentümer, wider die Gewalten, wider die Weltbeherrscher dieser Finsternis, wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himm­lischen Örtern. Deshalb nehmet die ganze Waffenrüstung Gottes, auf daß ihr an dem bösen Tage zu widerstehen und nachdem ihr alles aus­gerichtet habt, zu stehen vermöget" (V. 10‑13).

 

Das ist der eigentlich christliche Kampf. Es handelt sich hier nicht um die Lüste des Fleisches oder um die Lockungen der Welt (obschon wir gewiß auch gegen diese zu wachen haben), sondern um "die Listen des Teufels". Es geht auch nicht um die Macht des Teufels ‑ die ist für immer gebrochen ‑ sondern um die schlau gelegten Schlingen und Fallstricke, durch die er die Christen daran zu hindern sucht, ihre himmlische Stellung praktisch wahrzumachen und ihr himmlisches Erbe zu genießen. Und gerade in diesem Kampf versagen wir leider so außerordentlich. Wir streben nicht danach, das zu ergreifen, wozu wir von Christus ergriffen worden sind. Viele begnügen sich mit dem Wis­sen, daß sie durch das Blut des Lammes vor dem Gericht geschützt sind. Sie dringen nicht ein in die tiefe geistliche Bedeutung des Roten Meeres und des Jordan. Sie leben nach Menschenweise, tun also gerade das, wofür der Apostel die Korinther so ernst tadelt. Sie leben und han­deln, als gehörten sie noch dieser Welt an, während die Schrift uns lehrt und unsere Taufe es ausdrückt, daß wir der Welt ebenso gestor­ben sind, wie auch Jesus ihr gestorben ist, und daß wir durch den Glau­ben an die wirksame Kraft Gottes, der Ihn aus den Toten auferweckt hat, mit Ihm auferweckt sind (Kol. 2, 12).

 

Möge der Heilige Geist uns mehr in die Wirklichkeit dieser Dinge leiten! Möge Er uns die köstlichen Früchte des himmlischen Landes, das in Christus unser ist, so darbieten und uns durch Seine Kraft an dem inneren Menschen so stärken, daß wir mutig über den Jordan und in das geistliche Kanaan gehen! Gewöhnlich nehmen wir unsere Vorrechte als Christen bei weitem nicht voll in Anspruch. Wir erlauben den sichtbaren Dingen, uns den Genuß der unsichtbaren zu rauben. Hätten wir doch einen stärkeren Glauben, um alles das in Besitz zu nehmen, was Gott uns in Christus aus freier Gnade gegeben hat!

 

Wir kehren jetzt zu unserer Erzählung zurück. "Und die Männer, welche Mose ausgesandt hatte, um das Land auszukundschaften, und die zurückkehrten und die ganze Gemeinde wider ihn murren machten, indem sie ein böses Gerücht über das Land ausbrachten, jene Männer, die ein böses Gerücht über das Land ausgebracht hatten, starben durch eine Plage vor dem HERRN. Aber Josua, der Sohn Nuns, und Kaleb, der Sohn Jephunnes, blieben am Leben von jenen Männern, welche gegangen waren, das Land auszukundschaften" (V. 36‑38).

 

Ist es nicht erstaunlich, daß es in dieser großen Gemeinde von sechs­hunderttausend Männern ‑ also ohne Frauen und Kinder gezählt ‑nur zwei gab, die Glauben hatten an den lebendigen Gott? (Es ist hier selbstverständlich nicht von Mose und Aaron die Rede, sondern nur von der Gemeinde.) Die ganze Versammlung wurde von dem Geist des Unglaubens beherrscht. Sie trauten es Gott nicht zu, daß Er sie in das Land bringen werde, sondern dachten im Gegenteil, Er habe sie in die Wüste geführt, um sie hier sterben zu lassen. Sie ernteten die Frucht ihres traurigen Unglaubens. Die zehn falschen Zeugen starben durch die Plage, und die vielen Tausende, die ihr falsches Zeugnis angenom­men hatten, wurden gezwungen, in die Wüste zurückzukehren, vierzig Jahre lang in ihr hin und her zu wandern, um dann in der Wüste zu sterben und begraben zu werden.

 

Nur Josua und Kaleb standen auf dem gesegneten Boden des Glaubens an den lebendigen Gott, des Glaubens, der die Seele mit frohem Ver­trauen und mit Mut erfüllt. Und sie ernteten nach ihrem Glauben. Gott ehrt stets den Glauben, den Er in eine Seele gepflanzt hat. Dieser Glaube ist Seine eigene Gabe, und, mit Ehrerbietung sei es gesagt, Er kann nicht anders, als ihn anerkennen, wo er sich findet. Josua und Kaleb waren fähig, in der Kraft eines einfachen Glaubens dem gewal­tigen Strom des Unglaubens zu widerstehen. Sie bewahrten angesichts aller Schwierigkeiten ihr Vertrauen auf Gott, und Er ehrte ihren Glau­ben schließlich in herrlicher Weise. Während die Leiber ihrer Brüder im Staub der Wüste zerfielen, betraten sie die rebenbedeckten Hügel und fruchtbaren Täler des Landes Kanaan. Die einen hatten gesagt, daß Gott sie aus Ägypten geführt habe, um sie in der Wüste sterben zu lassen; die anderen hatten erklärt, daß Gott sie in das Land zu bringen vermöge ‑ beiden geschah nach ihren Worten.

 

Das ist ein sehr wichtiger Grundsatz: "Euch geschehe nach eurem Glauben" (Matth. 9, 29). Beherzigen wir ihn gut! Gott hat Wohlgefallen an Glauben. Er liebt es, wenn man Ihm vertraut, und Er wird die­jenigen immer ehren, die ihr Vertrauen auf Ihn setzen. Der Unglaube dagegen betrübt Ihn. Er verunehrt Ihn und bringt Finsternis und Tod über die Seele. Es ist eine schreckliche Sünde, an dem lebendigen Gott, der nicht lügen kann, zu zweifeln, und Fragen zu erheben, wenn Er gesprochen hat. Der Teufel ist der Urheber aller zweifelnden Fragen. Er hat seine Freude daran, das Vertrauen der Seele zu erschüttern; aber er hat gar keine Macht über eine Seele, die einfach auf Gott vertraut. Seine feurigen Pfeile können niemals einen Menschen er­reichen, der hinter dem Schild des Glaubens geborgen ist. Wie wunder­voll ist es, ein Leben in kindlichem Vertrauen auf Gott zu führen! Es macht das Herz so froh und bringt Lob und Danksagung auf die Lippen. Ein solches Vertrauen vertreibt jede Wolke und jeden Nebel und erhellt unseren Weg mit den Strahlen des Angesichts unseres Vaters. Der Unglaube dagegen erfüllt das Herz mit Zweifeln, ver­dunkelt unseren Weg und macht uns ganz elend. Kalebs Herz war voll von frohem Vertrauen, während das Herz seiner Brüder von bitte­ren Klagen und Murren erfüllt war. So wird es immer sein. Wenn wir glücklich sein wollen, müssen wir uns mit Gott und mit dem, was Ihn umgibt, beschäftigen. Um elend zu sein, brauchen wir uns nur mit uns selbst und unserer Umgebung zu beschäftigen. Werfen wir einen Blick in das 1. Kapitel des Lukasevangeliums. Was war es, was den Zacha­rias verstummen machte? Der Unglaube. Und was erfüllte das Herz der Maria und der Elisabeth und ließ sie Gott loben? Der Glaube. Zacharias hätte in die Lobgesänge jener frommen Frauen einstimmen können, wenn nicht der Unglaube seine Lippen verschlossen hätte. Welch eine Lehre! Möchten wir lernen, einfacher auf Gott zu vertrauen! Möchten wir in einer ungläubigen Welt stark sein im Glauben und dadurch Gott die Ehre geben!

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels (V. 39‑45) gibt uns eine andere wichtige Belehrung. Als die Israeliten aufgefordert wurden, in der Kraft des Glaubens hinaufzuziehen und das Land in Besitz zu nehmen, schraken sie zurück und weigerten sich zu ziehen. Sie fielen nieder und weinten, als sie hinaufziehen und erobern sollten. Vergebens versicherte ihnen der gläubige Kaleb, der Herr werde sie führen und auf dem Berge Seines Erbteils wohnen lassen. Sie wollten nicht hinaufziehen, weil sie nicht auf Gott vertrauen konnten. Und jetzt wollten sie in Anmaßung und Selbstvertrauen hinaufziehen, anstatt ihr Haupt zu beugen und die Regierungswege Gottes anzunehmen.

 

Aber, wie vergeblich war es, aufzubrechen, ohne daß der lebendige Gott in ihrer Mitte war! Ohne Ihn konnten sie nichts tun. Und doch ‑ als Er mit ihnen sein wollte, fürchteten sie sich vor den Amalekitern, und jetzt maßen sie sich an, eben diesem Volk ohne Gott entgegenzu­treten! "Hier sind wir und wollen an den Ort hinaufziehen, von wel­chem der HERR geredet hat." Es ist sehr merkwürdig, daß Mose ihnen jetzt dieselben Schwierigkeiten vorstellt, auf die sie hingewiesen hatten, als sie sich weigerten, in der Kraft des Glaubens zu handeln. Er sagte ihnen: "Die Amalekiter und die Kanaaniter sind dort vor euch."

 

Das ist sehr lehrreich. Sie hatten durch ihren Unglauben Gott ausge­schlossen, und daher handelte es sich jetzt lediglich um eine Frage zwischen Israel und den Kanaanitern, während der Glaube die Sache zu einer Frage zwischen Gott und den Kanaanitern gemacht hätte. Das war gerade die Art und Weise, in der Josua und Kaleb die Sache betrachtet hatten, als sie sagten: "Wenn der HERR Gefallen an uns hat, so wird er uns in dieses Land bringen und es uns geben, ein Land, das von Milch und Honig fließt. Nur empöret euch nicht wider den HERRN; und fürchtet ja nicht das Volk des Landes, denn unser Brot werden sie sein. Ihr Schirm ist von ihnen gewichen, und der HERR ist mit uns; fürchtet sie nicht!"

 

Hier lag das große Geheimnis verborgen. Die Gegenwart des Herrn bei Seinem Volk sicherte ihm den Sieg über alle seine Feinde. Aber wenn Er nicht mit dem Volk war, so waren sie wie Wasser, das auf den Boden geschüttet ist. Die zehn ungläubigen Kundschafter hatten erklärt, sie seien vor den Riesen wie Heuschrecken gewesen. Indem Mose sie nun beim Wort nimmt, sagt er ihnen gewissermaßen, daß Heuschrecken es mit Riesen nicht aufnehmen können. Wenn es einerseits wahr ist: "Euch geschehe nach eurem Glauben", so ist andererseits auch wahr: "Euch geschehe nach eurem Unglauben."

 

Das Volk aber war jetzt voller Anmaßung. Sie meinten, etwas zu sein, da sie doch nichts waren. Israel verließ Gott in seinem Unglauben, und Er verließ sie in ihrer Anmaßung. Sie wollten nicht im Glauben mit Ihm gehen, und Er konnte nicht in ihrem Unglauben mit ihnen ziehen. "Die Lade des Bundes des HERRN und Mose wichen nicht aus der Mitte des Lagers." Die Israeliten gingen ohne Gott, und deshalb flohen sie vor ihren Feinden.

 

So wird es immer sein. Es ist völlig nutzlos, Kraft zur Schau zu tragen und zu meinen, man sei etwas. Wenn Gott nicht mit uns ist, so sind wir wie die Morgenwolke vor der aufgehenden Sonne. Aber das müs­sen wir praktisch lernen. Wir müssen bis auf den Grund alles dessen kommen, was in uns selbst ist, um zu erfahren, wie gänzlich wertlos es alles ist. Die Wüste mit all ihren verschiedenen Situationen und ihren zahlreichen übungen führt uns zu diesem Ergebnis, zu dieser praktischen Erfahrung. Da lernen wir, was das Fleisch ist. Da zeigt sich die Natur in all ihren Formen, zuweilen voll zaghaften Unglaubens, zu anderen Zeiten voll von falschem Vertrauen. Heute weigert sie sich zu gehen, wenn sie dazu aufgefordert wird, und morgen besteht sie darauf, es zu tun, wenn ihr das Gegenteil befohlen wird.

 

Doch gibt es hier eine besondere Belehrung, die wir zu begreifen ver­suchen sollten, bevor wir Horma verlassen: daß es nämlich außeror­dentlich schwer ist, demütig und geduldig den Weg zu gehen, den uns unser eigenes Versagen eingebracht hat. Der Unglaube Israels, der sich in seiner Weigerung, in das Land zu ziehen, kundgab, führte nach den Regierungswegen Gottes dazu, daß sie wieder umkehrten und vierzig Jahre lang in der Wüste umherziehen mußten. jedoch sie wollten sich diesem Ausspruch nicht unterwerfen. Sie leisteten Widerstand. Sie konnten ihren Nacken nicht unter das Joch beugen, das so nötig für sie war.

 

Wie oft verfallen wir in denselben Fehler! Wir straucheln, machen irgendwelche Fehltritte und kommen dadurch in schwierige Umstände, und dann werden wir widerspenstig, anstatt uns demütig unter die Hand Gottes zu beugen und mit Ihm in Demut und mit einem gebro­chenen Geist unseren Weg zu gehen. Wir hadern mit den Umständen, anstatt uns selbst zu richten, und suchen in unserem Eigenwillen diesen Umständen zu entfliehen, anstatt sie als die gerechte und nötige Folge unseres Betragens anzunehmen. Aber ein stolzer Geist muß früher oder später gebeugt werden, und alle angemaßte Kraft muß zusammen­brechen. Wenn kein Glaube da ist, um das verheißene Land in Besitz zu nehmen, dann bleibt nichts anderes übrig, als in Sanftmut und Demut durch die Wüste zu gehen.

 

Und Gott sei gepriesen, Er wird auf dieser Reise durch die Wüste im­mer mit uns gehen, während das auf unserem selbstgewählten Weg des Stolzes und der Anmaßung nicht der Fall sein kann. Der HERR wei­gerte sich, Israel auf das Gebirge der Amoriter zu begleiten; aber Er war in Seiner Geduld und Gnade bereit, mit ihnen umzukehren und sie auf allen ihren Wanderungen durch die Wüste zu begleiten. Wenn Israel nicht mit dem HERRN in das Land Kanaan einziehen wollte, so wollte Er mit Israel in die Wüste zurückkehren. Welch eine Gnade! Hätte Gott mit ihnen nach Verdienst gehandelt, so hätten sie zum wenigsten allein in der Wüste umherziehen müssen. Aber Sein großer Name sei ewig gepriesen, Er handelt nicht mit uns nach unseren Sün­den und vergilt uns nicht nach unseren Ungerechtigkeiten. Seine Ge­danken sind nicht unsere Gedanken und Seine Wege nicht unsere Wege. Trotz all des Unglaubens, des Undanks und der Herausforde­rung seitens der Kinder Israel und obwohl ihre Rückkehr in die Wüste die Folge ihres eigenen Verhaltens war, kehrte der HERR dennoch in Seiner herablassenden Gnade und geduldigen Liebe mit ihnen zurück, um während vierzig langer und trüber Jahre ihr Reisebegleiter in der Wüste zu sein.

 

Wenn daher die Wüste zeigt, was der Mensch ist, so zeigt sie aber auch, was Gott ist, und außerdem offenbart sie, was der Glaube ist. Josua und Kaleb mußten mit der ganzen Gemeinde ihrer ungläubigen Brüder zurückkehren und vierzig Jahre lang außerhalb ihres Erbes bleiben, obwohl sie selbst durch die Gnade völlig bereit waren, in dar, Land hinaufzuziehen. Der Natur mag es als ein großes Unrecht er­scheinen, daß zwei Männer des Glaubens um des Unglaubens anderer willen leiden mußten. Aber der Glaube kann geduldig warten. Und überdies, wie konnten sich Josua und Kaleb über die verlängerte Reise beklagen, wenn sie sahen, daß der HERR im Begriff war, mit ihnen zu ziehen? Unmöglich! Sie waren bereit, auf die von Gott bestimmte Zeit zu warten; denn der Glaube hat es niemals eilig. Der Glaube der Knechte konnte durch die Gnade des Meisters gestärkt werden.

 

Kapitel 15

 

GNADE

 

Der Anfang dieses Kapitels ist besonders auffallend, wenn man ihn in Verbindung bringt mit dem Inhalt des 14. Kapitels. Dort schien alles finster und hoffnungslos zu sein. Mose mußte dem Volk sagen: "Ziehet nicht hinauf, denn der HERR ist nicht in eurer Mitte, daß ihr nicht vor euren Feinden geschlagen werdet." Und weiter hatte der Herr zu ihnen gesagt: "So wahr ich lebe, spricht der HERR, wenn ich euch nicht also tun werde, wie ihr vor meinen Ohren geredet habt! In dieser Wüste sollen eure Leichname fallen.... Wenn ihr in das Land kommen wer­det, darinnen euch wohnen zu lassen ich meine Hand erhoben habe! ... Ihr aber, eure Leichname sollen in dieser Wüste fallen.‑

 

Aber kaum werfen wir einen Blick in das 15. Kapitel, so ist es, als sei gar nichts geschehen und als sei alles so ruhig und gewiß, wie nur Gott es machen kann. Wir lesen: "Und der HERR redete zu Mose und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Wenn ihr in das Land eurer Wohnsitze kommet, das ich euch geben werde" usw. Das ist eine der bemerkenswertesten Stellen in diesem Buch. Es gibt kaum eine Stelle, die charakteristischer wäre ‑ nicht nur für das vierte Buch Mose, sondern für die ganze Bibel ‑ als diese. Wenn wir den feierlichen Urteilsspruch lesen: "Ihr werdet nicht in das Land kommen ­und uns fragen, was das uns zu sagen hat, so erkennen wir: der Mensch ist völlig nichtig und wertlos, alles Fleisch ist wie Gras" ‑eine Lehre, die wir alle so langsam lernen.

 

Finden wir andererseits die Worte: "Wenn ihr in das Land eurer Wohnsitze kommet, das ich euch geben werde", so lesen wir daraus die wundervolle Lehre, daß von dem Herrn Rettung kommt. In dem einen Ausspruch erfahren wir von der Schwäche des Menschen, in dem an­deren von Gottes Treue. Wenn wir die Seite des Menschen sehen, dann ist das Urteil: "Ihr werdet gewiß nicht in das Land kommen. Aber wenn wir bei dieser Sache die Seite Gottes sehen, können wir den Satz umdrehen und sagen: Ihr werdet gewiß hineinkommen."

 

Das wird in dem Abschnitt deutlich, den wir hier vor uns haben, und das wird in der ganzen Bibel von Anfang bis Ende deutlich. Der Mensch versagt, aber Gott ist treu. Der Mensch verwirkt alles; aber Gott macht alles wieder gut. "Was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott" (Luk. 18, 27). Müssen wir die ganze Heilige Schrift durchgehen, um das zu erklären und zu beweisen? Muß man auf die Geschichte Adams im Paradies hinweisen? auf die Geschichte Noahs nach der Sündflut? auf die Geschichte Israels in der Wüste, im Lande Kanaan, unter dem Gesetz, unter dem levitischen Zeremoniell? Sollen wir uns bei dem Versagen des Menschen hinsichtlich des prophetischen, priesterlichen und königlichen Dienstes aufhalten? Sollen wir auf das Versagen der Kirche als eines auf Erden verantwortlichen Gefäßes hinweisen? Hat nicht der Mensch immer und in allem gesündigt? Leider ja!

 

Das ist die eine Seite des Gemäldes, die finstere und demütigende Seite. Aber Gott sei gepriesen, es gibt auch eine lichtvolle und ermutigende Seite. Wenn es heißt: "Ihr werdet gewiß nicht", so heißt es auch: "Ihr werdet gewiß." Und warum? Weil Christus auf diese Erde gekommen ist, und in Ihm ist für die Verherrlichung Gottes und für das ewige Glück des Menschen alles gesichert. Es ist Gottes ewiger Ratschluß, "in dem Christus alles unter ein Haupt zusammenzubringen". Worin auch immer der erste Mensch versagt hat ‑ es gibt nichts, was der zweite Mensch nicht wieder gut machen wird. Er ist das Haupt der neuen Schöpfung und der Erbe aller Verheißungen, die dem Abraham, Isaak und Jakob im Blick auf das Land und die dem David in bezug auf den Thron gegeben worden sind. Die Herrschaft wird auf Seinen Schultern ruhen. Er wird der Träger der Herrlichkeit sein. Er ist der Prophet, der Priester und der König. Mit einem Wort, Christus stellt alles wieder her, was Adam verloren hat, und bringt noch viel mehr, als Adam je besaß. Wenn wir also den ersten Adam und seine Werke betrachten, so heißt das Urteil: "Ihr werdet gewiß nicht"; ihr werdet nicht im Paradiese bleiben, ihr werdet nicht die Regierung behalten, ihr werdet nicht die Verheißung erlangen, ihr werdet nicht in das Land hineinkommen, ihr werdet nicht den Thron einnehmen, ihr werdet nicht das Reich betreten.

 

Doch wenn wir unseren Blick auf den Zweiten Adam und Seine Werke richten, so sehen wir, daß das "Nicht" für immer aus jedem Satz ver­schwindet, denn "in Christo Jesu sind alle Verheißungen Gottes Ja und Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns". Es gibt kein "Nein", wenn es sich um Christus handelt. Alles ist "ja", alles ist göttlich fest­gesetzt und geordnet, und weil es so ist, hat Gott Sein Siegel darauf gedrückt, das Siegel Seines Geistes, den alle Gläubigen jetzt besitzen. "Denn der Sohn Gottes, Jesus Christus, der unter euch durch uns ge­predigt worden ist, durch mich und Silvanus und Timotheus, wurde nicht ja und nein, sondern es ist ja in ihm. Denn so viele der Verhei­ßungen Gottes sind, in ihm ist das ja und in ihm das Amen, Gott zur Herrlichkeit durch uns. Der uns aber mit euch befestigt in Christum und uns gesalbt hat, ist Gott, der uns auch versiegelt hat und hat das Pfand des Geistes in unsere Herzen gegeben" (2. Kor. 1, 19‑22).

 

So müssen also die ersten Zeilen unseres Kapitels im Licht des ganzen Buches Gottes gesehen werden. Sie stimmen überein mit der gesamten Geschichte der Wege Gottes mit dem Menschen in dieser Welt. Israel hatte jedes Anrecht auf das Land verwirkt. Sie verdienten nichts Besse­res, als daß ihre Leiber in der Wüste fielen. Und es ist die große und wunderbare Gnade Gottes, daß Er trotzdem mit ihnen davon sprechen konnte, daß sie in das Land kommen würden, und daß Er ihnen für ihr Leben und Handeln darin Anweisungen gab.

 

Nichts könnte gesegneter und ermutigender sein. Gott erhebt sich über alle Fehler und Sünden des Menschen. Unmöglich kann eine einzige Verheißung Gottes unerfüllt bleiben. Konnte das Betragen des Samens Abrahams in der Wüste den ewigen Ratschluß Gottes vereiteln oder die Erfüllung der bestimmten und bedingungslosen Verheißung an die Väter verhindern? Unmöglich! Das hilft uns, den ersten Satz unseres Kapitels zu erklären, der mit bemerkenswerter Kraft und Schönheit auf die demütigenden Begebenheiten in Kap. 14 folgt. Dort scheint die Sonne Israels hinter finsteren Wolken unterzugehen; hier aber geht sie mit vollem Glanz wieder auf, indem sie die große Wahrheit offenbart und bestätigt, daß die Gnadengaben und die Berufung Gottes unbereu­bar sind (Röm. 11, 29). Mag auch ein ungläubiges Geschlecht tausend­mal murren und sich empören, so wird Gott doch erfüllen, was Er verheißen hat.

 

Hier ist zu allen Zeiten der göttliche Ruhort des Glaubens, der gewisse und sichere Hafen für die Seele inmitten des Schiffbruchs aller mensch­lichen Pläne und Unternehmungen. Alles zerfällt unter der Hand des Menschen in Stücke; aber Gott in Christus bleibt. Gott hat Christus auferweckt, und alle, die an Ihn glauben, stehen auf einem neuen Boden. Sie sind mit dem auferstandenen und verherrlichten Haupt in Verbindung gebracht, und das ist ihr Platz für immer. Diese wunder­bare Verbindung kann niemals aufgelöst werden. Alles ist gesichert auf einer Grundlage, die keine Macht der Erde oder der Hölle erschüttern kann.

 

In dem vorliegenden Abschnitt wird uns ein schönes Bild gezeigt. Wir sehen Gelübde, freiwillige Opfer, Friedensopfer und den Wein des Reiches, und zwar alles das gegründet auf die unumschränkte Gnade, die uns im ersten Vers entgegenstrahlt. Es ist ein schönes Beispiel, ein herrliches Bild des zukünftigen Zustandes Israels. Es erinnert uns an die wunderbaren Gesichte am Ende des Buches Hesekiel. Der Unglaube, das Murren, die Empörung, alles ist vorbei und vergessen. Gott zieht sich gleichsam in Seine ewigen Ratschlüsse zurück und schaut von dort aus auf die Zeit, da Sein Volk Ihm ein Opfer in Gerechtigkeit dar­bringen und seine Gelübde bezahlen wird und wo die Freuden des Reiches ihre Herzen für immer erfüllen werden (V. 3‑13).

 

Sehr charakteristisch ist der Platz, der in diesem Kapitel dem "Fremd­ling" angewiesen wird. "Und wenn ein Fremdling bei euch weilt, oder wer in eurer Mitte ist bei euren Geschlechtern, und er opfert dem HERRN ein Feueropfer lieblichen Geruchs, so soll er ebenso tun, wie ihr tut. Was die Versammlung betrifft, so soll einerlei Satzung für euch sein und für den Fremdling, der bei euch weilt; eine ewige Satzung bei euren Geschlechtern: wie ihr, so soll der Fremdling sein vor dem HERRN. Einerlei Gesetz und einerlei Recht soll für euch sein und für den Fremdling, der bei euch weilt" (V. 14‑16).

 

Welch ein Platz für den Fremdling! Welch eine Lehre für Israel! Der Fremdling wird mit Israel auf denselben Boden gestellt: "Wie ihr, so soll der Fremdling sein", und zwar "vor dem HERRN". In 2. Mose 12,48 lesen wir: "Und wenn ein Fremdling bei dir weilt und das Passah dem HERRN feiern will, so werde alles Männliche bei ihm beschnitten, und dann komme er herzu, es zu feiern." Aber in 4. Mose 15 wird die Beschneidung gar nicht erwähnt. Warum? Bedeutete das, daß sie jemals außer acht gelassen werden konnte? Nein, aber daß sie hier nicht erwähnt wird, hat seine besondere Bedeutung. Israel hatte alles verwirkt. Das aufrührerische Geschlecht sollte beiseitegesetzt und abgeschnitten werden; aber Gottes ewiger Ratschluß in Gnade muß bestehen bleiben, und alle Seine Verheißungen müssen erfüllt werden. Ganz Israel wird errettet werden, es wird das Land besitzen, es wird reine Opfer darbringen, seine Gelübde erfüllen und die Freuden des Reiches genießen, und zwar auf dem Boden der unumschränkten Gnade. Und auf demselben Boden darf auch der "Fremdling" kommen: "Wie ihr, so soll der Fremdling sein vor dem HERRN".

 

Will der Israelit dem widersprechen? Dann muß er sich 4. Mose 13 und 14 ansehen. Und wenn er das, was darin enthalten ist, wirklich in sich aufgenommen hat, dann lese er aufmerksam Kap. is und denke dar­über nach. Er wird dann sicher den "Fremdling" nicht mehr zurück­stoßen wollen, weil er bereit sein wird, zuzugeben, daß er selbst alles der Gnade verdankt und daß dieselbe Gnade, die ihn erreicht hat, auch den Fremdling erreichen kann. Er wird sich freuen' daß er zusammen mit dem Fremdling aus der Quelle des Heils trinken darf, die durch die unumschränkte Gnade des Gottes Jakobs aufgetan wurde.

 

Dieser Teil unseres Buches erinnert lebhaft an die tiefgehenden Aus­führungen in Röm. 9 bis 11 über die Wege Gottes, wie Er sie fügt, besonders an den Teil am Ende von Röm. 11. "Denn die Gnaden­gaben und die Berufung Gottes sind unbereubar. Denn gleichwie auch ihr [die Fremdlinge] einst Gott nicht geglaubt habt, jetzt aber unter die Begnadigung gekommen seid durch den Unglauben dieser, also haben auch jetzt diese an eure Begnadigung nicht geglaubt, auf daß auch sie unter die Begnadigung kommen [d. h. daß sie wie die Fremdlinge auf den Boden der Gnade gestellt werden]. Denn Gott hat alle zusammen in den Unglauben eingeschlossen, auf daß er alle begnadigte [Juden und Heiden, Israel und den Fremdling]" (Röm. 11, 29‑32).

 

Die Verse 22 bis 31 in unserem Kapitel geben uns Anweisungen über die Sünden aus Versehen und aus Vermessenheit ‑ eine sehr ernste und wichtige Unterscheidung. Für jene ist nach der Güte und Barmher­zigkeit Gottes genügend vorgesorgt. Der Tod Christi wird in diesem Teil des Kapitels nach seinen zwei großen Seiten dargestellt, nämlich als Brandopfer und als Sündopfer, d. h. nach der Seite, die sich auf Gott, und nach derjenigen, die sich auf uns bezieht. Ferner sehen wir hier den ganzen Wert, den Wohlgeruch Seines vollkommenen Lebens und Dienstes als Mensch in dieser Welt, wie es durch das Speisopfer und Trankopfer dargestellt wird. Im Brandopfer sehen wir Versöhnung entsprechend der Hingabe Christi an Gott und des Wohlgefallens, das Gott an Ihn hat; im Sündopfer sehen wir Versöhnung, wie sie im Hinblick auf das, was der Sünder bedarf, und auf die Häßlichkeit der Sünde in den Augen Gottes geschehen ist. Zusammengenommen stellen die beiden Opfer den Versöhnungstod Christi in seiner ganzen Trag­weite dar. Das Speisopfer ist ein Bild des vollkommenen Lebens Christi und der Wirklichkeit Seiner menschlichen Natur, wie sie sich in allen Einzelheiten Seines Weges und Dienstes in dieser Welt offenbarte, und das Trankopfer schließlich stellt Seine vollkommene Hingabe an Gott vor.

 

Wir wollen jetzt nicht auf die reichen und wunderbaren Belehrungen eingehen, die in den verschiedenen Opfern enthalten sind. Den Leser, den das interessiert, verweise ich auf die "Gedanken zum dritten Buch Mose". Ich möchte hier nur darauf aufmerksam machen, daß die An­sprüche Gottes es erfordern, daß wir auch von den aus Versehen be­gangenen Sünden Kenntnis nehmen. Wir könnten meinen, daß man über solche Sünden hinwegsehen kann. Doch Gott denkt nicht so. Seine Heiligkeit darf nicht auf das Maß unserer Einsicht beschränkt werden. Die Gnade hat für Sünden aus Versehen Vorsorge getroffen; aber die Heiligkeit verlangt, daß solche Sünden gerichtet und bekannt werden. jedes aufrichtige Herz wird Gott dafür preisen. Denn was würde aus uns werden, wenn die Vorkehrungen der göttlichen Gnade nicht genügten, um den Ansprüchen der göttlichen Heiligkeit zu ent­sprechen? Und sie würden es sicherlich nicht tun, wenn sie nicht über den Bereich unserer Einsicht hinausgingen.

 

Obwohl das im allgemeinen zugegeben wird, hört man leider doch oft Gläubige ihre Unwissenheit entschuldigen, bzw. sie rechtfertigen Un­treue und Irrtum mit Unwissenheit. Doch in solchen Fällen muß man meistens fragen: Warum sind wir über irgend etwas in unserem Leben oder über die Anrechte Christi auf uns in Unwissenheit? Nehmen wir an, wir werden vor eine Frage gestellt, die ein Urteil und eine be­stimmte Handlungsweise von uns verlangt; können wir uns der Ver­antwortlichkeit für unser Verhalten dadurch entziehen, daß wir Unwis­senheit vorschützen? Wird Gott erlauben, daß wir der Frage auf eine solche Weise ausweichen? Nein, eine solche Ausflucht wird niemals genügen. Warum sind wir unwissend? Haben wir alle Mittel ange­wandt, um der Sache auf den Grund zu kommen und zu einer richtigen Lösung der Frage zu gelangen? Denken wir daran, daß die Ansprüche der Wahrheit und Heiligkeit das von uns verlangen! Auch wir selbst sollten mit nichts Geringerem zufrieden sein.

 

Wir machen leider oft auch dort Unwissenheit geltend, wo es richtiger wäre, von Gleichgültigkeit zu sprechen. Das ist sehr traurig. Wenn unser Gott in Seiner unendlichen Güte auch für die Sünden aus Ver­sehen Vorsorge getroffen hat, so ist das doch wirklich kein Grund, sich hinter dem Vorwand der Unwissenheit zu verschanzen. Es gibt genug Belehrungen ‑ wir müssen nur die Energie haben, sie zu benutzen.

 

Die Ansprüche Christi und die Autorität der Heiligen Schriften werden immer mehr beiseite gesetzt. Wir müssen deshalb darauf achten, daß das Wort Gottes den ihm gebührenden Platz in unseren Herzen findet und daß das Gewissen in allen Dingen durch seine Autorität geleitet wird. Ein zartes Gewissen ist etwas sehr Kostbares ‑ ein Gewissen, das sich der Wirksamkeit des Wortes Gottes wirklich auftut und sich seinen klaren Anweisungen ohne eine Frage unterwirft. Wenn das Gewissen in diesem Zustand ist, so ist stets eine regulierende Kraft da, die auf unser Leben und unseren Charakter einwirkt. Man kann das Gewissen mit dem Regulator einer Uhr vergleichen. Es kann sein, daß die Zeiger der Uhr unrichtig stehen; aber solange der Regulator seinen Einfluß auf die Feder ausübt, ist es nicht schwer, den Stand und Gang der Zeiger zu berichtigen. Wenn aber dieser Einfluß aufhört, muß die ganze Uhr auseinandergenommen werden. So ist es auch mit dem Gewissen. Solange es ein empfindsames Gefühl für das durch den Heiligen Geist angewandte Wort behält, ist eine sicher leitende Kraft erkennbar. Aber wenn es träge und hart wird, wenn es sich weigert, vor einem "So spricht der Herr!" sich zu beugen, dann ist wenig oder gar keine Hoffnung mehr vorhanden. Dann entsteht ein Fall, der demjenigen ähnlich ist, den unser Kapitel berichtet: "Aber die Seele, welche mit erhobener Hand etwas tut, von den Eingeborenen und von den Fremd­lingen, die schmäht den HERRN; und selbige Seele soll ausgerottet wer­den aus der Mitte ihres Volkes, denn das Wort des HERRN hat sie Verachtet und Sein Gebot gebrochen; selbige Seele soll gewißlich aus­gerottet werden: ihre Ungerechtigkeit ist auf ihr" (V. 30. 31).

 

Das war keine Sünde aus Versehen, sondern Sünde aus Vermessenheit und böser Absicht, für die nichts übrigblieb als das strenge Gericht Gottes. "Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst" (i. Sam. 15, 23). Das sind ernste Worte für eine Zeit wie die gegenwärtige, wo der Wille des Menschen sich mit so außerordentlicher Kraft entwickelt. Man hält es für männlich, seinen Willen zu behaupten; aber die Schrift lehrt das Gegenteil. Die beiden großen Elemente menschlicher Vollkommenheit (oder vollkommener Menschheit) sind Abhängigkeit und Gehorsam. In dem Maße, wie jemand davon abweicht, weicht er auch von dem wahren Geist und der wahren Stellung eines Menschen ab. Wenn wir daher das Leben des einzig vollkommenen Menschen ‑ des Menschen Christus Jesus ‑ sehen, so erkennen wir von Anfang bis Ende, wie diese beiden großen Charakterzüge vollkommen entfaltet sind. Er ver­ließ keinen Augenblick die Stellung vollkommener Abhängigkeit und unbedingten Gehorsams.

 

Christus ist unser Vorbild. Wir, die wir das Leben Christi haben, sind berufen, beständig in der Abhängigkeit und im Gehorsam zu leben. Das ist Wandel im Geist. Das ist der sichere und glückliche Weg des Christen. Unabhängigkeit und Ungehorsam sind immer miteinander verbunden; aber sie sind völlig unchristlich und unmenschlich. Wir sehen diese beiden Dinge in dem ersten Menschen, so wie wir das Gegenteil davon in dem zweiten finden. Adam wollte unabhängig sein. Er war nicht zufrieden damit, Mensch zu sein und auf dem allein wah­ren Platz eines Menschen zu bleiben, in dem wahren Geist eines Men­schen zu leben, und deshalb wurde er ungehorsam. Unabhängigkeit und Ungehorsam kennzeichnen die ganze Geschichte der gefallenen Menschheit. Man mag sie betrachten, wo man will, ob vor oder nach der Sündflut, ob ohne Gesetz oder unter Gesetz, ob bei den Heiden, Juden und Mohammedanern oder bei den Namenchristen ‑ überall fin­det man nichts als Unabhängigkeit und Ungehorsam. Und was ist das Ende der Geschichte des Menschen in dieser Welt? In welchem Cha­rakter erscheint der Mensch da? Als "König, der nach seinem Gut­dünken handelt" (Dan. 11, 36) und als "der Gesetzlose".

 

Der Herr gebe uns Gnade, diese Dinge recht zu erwägen! Streben wir nach einem demütigen und gehorsamen Geist! Gott hat gesagt: "Auf diesen will ich blicken: auf den Elenden und den, der zerschlagenen Geistes ist, und der da zittert vor meinem Worte" ('Jes. 66, 2). Möchten diese Worte in unsere Ohren und Herzen dringen, und möge das be‑

 

ständige Gebet unserer Seele sein: "Halte, o Herr, deinen Knecht von übermütigen [Taten] zurück; laß sie mich nicht beherrschen!"*)

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*) Wir möchten besonders die jungen Leser daran erinnern, daß das einzig wirksame Bewahrungsmittel gegen Sünden aus Versehen die Erforschung des Wortes, und dasjenige gegen Sünden aus Vermessenheit Unterwerfung unter das Wort ist. Wir alle haben es nötig, daran zu denken, aber unsere jungen Brüder besonders. Es gibt unter den jungen Christen dieser Tage einen starken Hang, sich dem Strom des gegenwärtigen Zeitlaufs überlassen und seinen Geist aufzunehmen. Daher gibt es so viel Unabhängigkeit, so viel eigenen Willen, Ungehorsam gegen die Eltern, Widerwillen gegen jede Aufsicht, Hartnäckigkeit, Hochmut, Selbstvertrauen, anmaßendes Benehmen, Einbildung, Sich-weiser-Dünken als die Alten ‑ alles Dinge, die in den Augen Gottes so häßlich und dem Geist des Christentums völlig zuwider sind. Wir möchten alle unsere jungen Freunde herzlich bitten, sich vor diesen Dingen zu hüten und nach Demut zu streben. Möchten wir uns daran erinnern, daß Gott dem Hochmütigen widersteht, daß Er aber dem Demütigen Gnade gibt!

 

Das vorliegende Kapitel schließt mit der Geschichte des Sabbathschän­ders und der Verordnung über die "Schnur von blauem Purpur“.

 

"Und als die Kinder Israel in der Wüste waren, da fanden sie einen Mann, der am Sabbathtage Holz auflas. Und die ihn, Holz auflesend, gefunden hatten, brachten ihn zu Mose und zu Aaron und zu der gan­zen Gemeinde. Und sie legten ihn in Gewahrsam, denn es war nicht genau bestimmt, was ihm getan werden sollte. Da sprach der HERR zu Mose: Der Mann soll gewißlich getötet werden; die ganze Gemeinde soll ihn außerhalb des Lagers steinigen. Da führte ihn die ganze Ge­meinde vor das Lager hinaus, und sie steinigten ihn, daß er starb, so wie der HERR dem Mose geboten hatte" (V. 32‑36).

 

Das war sicherlich eine aus Vermessenheit begangene Sünde. Ihr Kenn­zeichen ist vor allem das Trotzen gegen ein klares und bestimmtes Ge­bot Gottes. Das aber macht sie unentschuldbar. Angesichts eines gött­lichen Gebotes kann keine Unwissenheit vorgeschützt werden.

 

Aber warum mußte der Mann in Gewahrsam gelegt werden? Aus fol­gendem Grund: Obwohl das Gebot klar und bestimmt war, war doch seine Übertretung nicht im voraus angenommen und eine Strafe dafür bestimmt worden. Menschlich gesprochen, hatte der HERR von dem Menschen nicht die Torheit erwartet, daß er Seine Ruhe unterbrechen würde, und Er hatte daher auch für einen solchen Vorfall keine Anord­nung getroffen. Man braucht nicht zu erwähnen daß Gott das Ende von Anfang an kennt; aber in dieser Angelegenheit hatte Er absichtlich den Fall so lange unentschieden gelassen, bis ein Anlaß die Entschei­dung verlangte. Leider kam der Anlaß bald; denn der Mensch ist zu allem fähig. Er hat kein Herz für die Ruhe Gottes. Am Sabbath ein Feuer anzuzünden war nicht nur eine unmittelbare Übertretung des Gebotes, sondern offenbarte auch, daß man den Gedanken des Gesetzgebers völlig fremd gegenüberstand: man brachte in den Tag der Ruhe etwas hinein, was ein Bild des Gerichts ist. Das Feuer ist ein Bild des Gerichts, und als solches stand es im unmittelbaren Gegensatz zu der Ruhe des Sabbaths. Es blieb daher nichts anderes übrig, als dem, d r den Sabbath gebrochen hatte, mit Gericht zu begegnen; denn "was ein Mensch sät, das wird er auch ernten".

 

"Und der HERR sprach zu Mose und sagte: Rede zu den Kindern Israel und sprich zu ihnen, daß sie sich eine Quaste an den Zipfeln ihrer Oberkleider machen, bei ihren Geschlechtern, und daß sie an die Quaste des Zipfels eine Schnur von blauem Purpur setzen; und es soll euch zu einer Quaste sein, daß ihr, wenn ihr sie ansehet, aller Gebote des HERRN gedenket und sie tuet, und daß ihr nicht umherspähet, eurem Herzen und euren Augen nach, denen ihr nachhuret; damit ihr aller meiner Gebote gedenket und sie tut, und heilig seiet eurem Gott. Ich bin der HERR, euer Gott, der ich euch aus dem Lande Ägypten heraus­geführt habe, um euer Gott zu sein; ich bin der HERR, euer Gott" (V. 37‑41).

 

Der Gott Israels wollte, daß Sein Volk sich beständig an Seine heiligen Gebote erinnerte. Deshalb gab Er die schöne Verordnung über die Schnur von blauem Purpur, die dazu bestimmt war, ein himmlisches Erinnerungszeichen an den Zipfeln ihrer Kleider zu sein, damit das Wort Gottes immer in ihren Gedanken und Herzen blieb. Sooft ein Israelit die Schnur von blauem Purpur sah, sollte er an den HERRN denken und sich daran erinnern, daß er allen Verordnungen seines Gottes von Herzen gehorsam sein sollte.

 

Das war der große praktische Zweck der Schnur von blauem Purpur. Doch ein Blick auf Matth. 23, 5 zeigt uns, wie traurig der Mensch diese göttlichen Einrichtungen gebraucht hat. "Alle ihre Werke aber tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu lassen; denn sie machen ihre Denkzettel breit und die Quasten groß." So wurde gerade das, was Gott angeordnet hatte, um den Menschen an Ihn und an den Gehorsam gegen Sein kostbares Wort zu erinnern, zu einem Mittel der Selbster­hebung und des religiösen Stolzes. Anstatt an Gott und Sein Wort zu denken, dachten jene Leute nur an sich selbst und an jenen Platz, den sie in der Achtung ihrer Mitmenschen einnahmen. "Alle ihre Werke tun sie, um sich vor den Menschen sehen zu lassen." Kein Gedanke an Gott! Der Zweck der ursprünglichen Einsetzung war voll­ständig verloren, während die äußere Form zu eigennützigen Zwecken bewahrt wurde.

 

Kapitel 16

 

DIE ROTTE KORAH

 

Das Kapitel, über das wir soeben gesprochen haben, kann ‑ mit Aus­nahme des kurzen Abschnittes über den Sabbathschänder ‑ als eine Abschweifung von der Geschichte des Wüstenlebens Israels betrachtet werden. Es läßt uns in die Zukunft schauen, wenn Israel trotz all seiner Sünde und Torheit, seines Murrens und seiner Empörung das Land Kanaan besitzen und dem Gott seines Heils Friedensopfer und Lob­gesänge darbringen wird. Es offenbart, wie der HERR sich weit über all den Unglauben und Ungehorsam, Stolz und Eigenwillen, der sich in den Kapiteln 13 und 14 gezeigt hat, erhebt, und wie Er auf die völlige Erfüllung Seiner ewigen Ratschlüsse am Ende der Tage und auf die Verwirklichung der Verheißungen blickt, die Er dem Abraham, Isaak und Jakob gegeben hat.

 

Im 16. Kapitel wird die Geschichte der Wüste wieder aufgenommen, die so traurig und demütigend hinsichtlich des Menschen, aber so licht­voll und segensreich im Blick auf die unerschöpfliche Geduld und schrankenlose Gnade Gottes ist. Das sind die beiden großen Lehren der Wüste, die wir im 4. Buch Mose immer nebeneinander finden. Kap. 14 zeigt den Menschen und seine Wege, Kap. 15 Gott und Seine Wege, Kap. 16 kommt auf den Menschen und seine Wege zurück.

 

"Und Korah, der Sohn Jizhars, des Sohnes Kehaths, des Sohnes Levis, unternahm es, und mit ihm Dathan und Abiram, die Söhne Eliabs, und On, der Sohn Pelets, die Söhne Rubens, und sie standen auf gegen Mose, mit zweihundertundfünfzig Männern von den Kindern Israel, Fürsten der Gemeinde, Berufenen der Versammlung, Männern von Namen. Und sie versammelten sich wider Mose und wider Aaron und sprachen zu ihnen: Laßt es genug sein! denn die ganze Gemeinde, sie allesamt sind heilig, und der HERR ist in ihrer Mitte! Und warum erhebet ihr euch über die Versammlung des HERRN?" (V. :1‑3)

 

Hier kommen wir also zu dem ernsten Ereignis, das der Heilige Geist im Judasbrief den "Widerspruch Korahs" nennt; denn Korah war das religiöse Haupt der Empörung. Er scheint genug Einfluß besessen zu haben, um eine große Anzahl hochangesehener Männer, "Fürsten der Gemeinde, Berufene der Versammlung, Männer von Namen" um sich zu sammeln. Es war eine schreckliche Empörung, und wir tun gut daran, ihre Quelle und ihre moralischen Merkmale genau zu prüfen.

 

Es ist immer ein kritischer Augenblick, wenn sich in einer Versamm­lung ein Geist der Unzufriedenheit offenbart; denn wenn ihm nicht in der rechten Weise begegnet wird, so sind die schlimmsten Folgen un­ausbleiblich. Es gibt fast in jeder Versammlung solche, die einer Ein­wirkung von außen leicht zugänglich sind; und es braucht nur ein unruhiger und herrschsüchtiger Geist aufzustehen, um das Feuer, das im verborgenen glimmt, zu einer verzehrenden Flamme anzufachen.

 

Hunderte und Tausende sind bereit, sich um das Banner der Empörung zu scharen, sobald es einmal aufgepflanzt ist ‑ Menschen, die selbst nie die Kraft und den Mut gehabt hätten, es zu entfalten. Nicht den ersten besten wird Satan in einem solchen Fall als Werkzeug benutzen. Er braucht dazu einen scharfsinnigen, gewandten und energischen Mann, der auf seine Umgebung Einfluß hat und einen eisernen Willen besitzt, um seine Pläne zu verfolgen. Satan teilt den Menschen' die er zu seinen teuflischen Unternehmungen verwendet, zweifellos viel von diesen Dingen mit. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß die Leiter aufrührerischer Bewegungen gewöhnlich Männer von hervorragendem Geist waren, fähig, die wankelmütige Menge, die wie das Meer von jedem Sturm bewegt wird, nach ihrem Willen zu leiten und zu beherr­schen. Angeblich bedrohte Freiheiten und Rechte des Volkes sind in der Regel die Dinge, durch die sie die Massen am wirksamsten in Bewegung setzen können. Wenn es ihnen nur gelingt, das Volk zu überzeugen, daß seine Freiheiten und Rechte in Gefahr sind, so wird es ihnen nicht schwer werden, eine große Zahl unruhiger Geister um sich zu sammeln und viel Unheil anzurichten.

 

So war es auch bei Korah und seinen Genossen. Sie suchten dem Volk einzureden, Mose und Aaron spielten sich als Herren über ihre Brüder auf und hinderten sie, ihre Rechte und Vorrechte als Glieder einer heiligen Versammlung auszuüben, in der nach ihrem Urteil alle auf demselben Boden standen und alle das gleiche Recht hatten, etwas zu tun.

 

"Ihr habt zu viel auf euch genommen!", steht in der englischen Bibel­übersetzung für: "Laßt es genug sein!" So lautet die Anklage gegen den "sanftmütigsten Mann auf dem Erdboden". Aber, was hatte denn Mose zu viel auf sich genommen? Gewiß, ein kleiner Blick auf die Geschichte dieses geliebten Dieners hätte genügt, um jeden Unpartei­ischen zu überzeugen, daß er weit davon entfernt war, Würden und Verantwortlichkeiten auf sich zu laden. Er hatte sich vielmehr als ein solcher erwiesen, der zurückschreckte, wenn sie ihm angeboten wurden, und der unterlag, wenn man sie ihm auferlegte. Wer daher Mose an­klagen konnte, er sei nicht zufrieden mit dem, was Gott auf ihn gelegt habe, und er geize nach mehr Ehre und Würde ‑ wer das sagen konnte, zeigte damit, daß er über den Geist und Charakter dieses Mannes ganz und gar unwissend war. Dem Mann, der zu Josua sagen konnte: "Eiferst du für mich? Möchte doch das ganze Volk des HERRN Prophe­ten sein, daß der HERR seinen Geist auf sie legte!", sah es gewiß nicht ähnlich, daß er jemals zu viel für sich verlangen würde.

 

Wenn aber anderseits Gott einen Menschen auszeichnet, wenn Er ihn zu einem Werk beruft und befähigt und ihm einen besonderen Platz anweist ‑ wer sind dann wir, um gegen die göttliche Gabe und Bestim­mung zu reden? "Ein Mensch kann nichts empfangen, es sei ihm denn aus dem Himmel gegeben" (Joh. 3, 27).

 

Korah und seine Rotte stritten daher wider Gott und nicht wider Mose und Aaron. Diese waren von Gott berufen worden, eine besondere Stellung einzunehmen und ein einzigartiges Werk zu tun, und wehe ihnen, wenn sie sich ihrem Auftrag widersetzt hätten! Nicht sie waren es, die nach der Stellung getrachtet oder sich das Werk angemaßt hatten: sie waren von Gott dazu bestimmt worden. Das war entschei­dend und für alle bindend, ausgenommen für unruhige, von sich selbst eingenommene Empörer, die die wahren Knechte Gottes zu stürzen suchten, um sich selbst erheben zu können. So ist es immer mit den Anstiftern von Aufruhr oder Unzufriedenheit. Ihr eigentliches Ziel ist, aus sich selbst etwas zu machen. Sie reden laut von Wahrheit, von den gemeinsamen Rechten und Vorrechten des Volkes Gottes; aber in Wirklichkeit streben sie nach einer Stellung, für die sie keines­wegs befähigt sind, und nach Vorrechten, auf die sie keinen Anspruch haben.

 

In Wirklichkeit ist die Sache sehr einfach. Wer wollte bestreiten, daß Gott dem Menschen einen Platz gegeben hat, den er ausfüllen, ein Werk, das er tun soll? Nun, dann versuche jeder, seinen Platz zu erkennen und ihn auszufüllen, sein Werk zu verstehen und es zu tun. Es ist unsinnig, die Stellung eines anderen einnehmen oder das Werk eines anderen verrichten zu wollen. Wir haben das bei der Betrachtung der Kapitel 3 und 4 dieses Buches bereits gesehen. Korah und Mose ‑ jeder hatte sein Werk. Warum sollte einer den anderen beneiden? Es ist Unvernunft, einen von Christus begabten Knecht anzuklagen, weil er der Verantwortlichkeit zu entsprechen sucht, die ihm seine Gabe unstreitig auferlegt.

 

Dieser Grundsatz ist äußerst wichtig, und zwar in jeder Versammlung und unter allen Umständen, da wo irgend Christen berufen sind, mit­einander zu wirken. Es ist eine irrige Ansicht, wenn man denkt, alle Glieder des Leibes Christi seien an hervorragende Plätze berufen oder es könne irgendein Glied seinen Platz am Leibe selbst wählen. Das ist ganz und gar Sache der göttlichen Bestimmung, wie wir aus 1. Kor. 12 so klar ersehen: "Denn der Leib ist nicht ein Glied, sondern viele. Wenn der Fuß spräche: Weil ich nicht Hand bin, so bin ich nicht von dem Leibe; ist er deswegen nicht von dem Leibe? Und wenn das Ohr spräche: Weil ich nicht Auge bin, so bin ich nicht von dem Leibe; ist es deswegen nicht von dem Leibe? Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo wäre das Gehör? wenn ganz Gehör, wo der Geruch? Nun aber hat Gott die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen an dem Leibe, wie es ihm gefallen hat" (V. 14‑18).

 

Hier ist die wahre, die einzige Quelle des Dienstes in der Kirche Gottes, dem Leibe Christi: "Gott hat die Glieder gesetzt." Nicht ein Mensch setzt den anderen ein und noch weniger ein Mensch sich selbst. Ent­weder ist es göttliche Einsetzung, oder es ist gar nichts ‑ ja schlimmer noch: es ist ein Eingriff in die Rechte Gottes.

 

Wenn wir nun diesen Gegenstand im Licht von 1. Kor. 12 betrachten, können wir die Frage stellen: Welchen Sinn hätte es, wenn die Füge die Hände oder die Ohren die Augen anklagen wollten, daß sie zu viel auf sich nähmen? Wäre es nicht ganz widersinnig und dumm? Aller­dings nehmen diese Glieder einen hervorragenden Platz am Leib ein, aber warum7 Weil Gott sie dahin gesetzt hat, wie es ihm gefallen hat". Und was tun sie an diesem hervorragenden Platz? Sie tun das Werk, das Gott ihnen zu tun angewiesen hat. Und zu welchem Zweck? Zum Wohl des ganzen Leibes. Es gibt kein einziges Glied, so verborgen es auch sein mag, das nicht Nutzen zöge aus dem, was ein hervor­ragendes Glied zu tun hat, wenn es das nur in der richtigen Weise tut ­und anderseits hat das hervorragende Glied Vorteile von dem, was das verborgene tut. Wenn die Augen ihre Sehkraft verlieren, so wird jedes Glied es fühlen, und wenn es in den Funktionen des unbedeutendsten Gliedes eine Störung gibt, so wird das geehrteste Glied darunter leiden.

 

Es handelt sich also nicht darum, ob wir zu viel oder zu wenig auf uns nehmen, sondern ob wir das uns bestimmte Werk tun und den uns angewiesenen Platz ausfüllen. Wenn alle Glieder nach ihrem Maß kräftig zusammenwirken, dient das der Erbauung des ganzen Leibes. Wenn die Wahrheit nicht erfaßt und praktisch verwirklicht wird, darin wird die Erbauung nicht gefördert, sondern behindert werden. Der Heilige Geist wird betrübt und ausgelöscht, die Rechte Christi werden verleugnet, und Gott wird verunehrt. Jeder Christ ist verantwortlich, nach diesem göttlichen Grundsatz zu handeln und gegen alles zu zeu­gen, was ihn in der Praxis verleugnet. Die Tatsache des Verfalls der Kirche ist kein Grund, die Wahrheit Gottes zu verlassen oder ihre Verleugnung gutzuheißen. Der Christ ist immer verpflichtet, sich den geoffenbarten Gedanken Gottes zu unterwerfen. Die Umstände als eine Entschuldigung für das Böse oder für die Vernachlässigung einer Wahr­heit Gottes zu gebrauchen ist nichts anderes, als die göttliche Autorität für nichts zu achten und Gott zum Urheber unseres Ungehorsams zu machen.

 

Korah und seine Rotte lernten sehr bald die Torheit und Sünde ihrer Empörung kennen. Als Mose, der treue Knecht Gottes, ihre aufrühre­rischen Worte hörte, "fiel er auf sein Angesicht". Das war die wirk­samste Art, Aufrührern zu begegnen. Es nützt nicht viel, mit ruhe­losen und unzufriedenen Leuten zu streiten. Viel besser ist es, sie der Hand des Herrn zu übergeben; denn in Wirklichkeit streiten sie gegen Ihn. Wenn Gott jemandem einen Platz anweist und ihm ein Werk aufträgt, und die anderen meinen, mit ihm streiten zu müssen einzig deshalb, weil er diese Stellung einnimmt und dieses Werk tut, so ist ihr Streit tatsächlich gegen Gott gerichtet; Gott aber weiß, wie Er den Streit beilegen soll, und Er wird es nach Seiner Weise und zu Seiner Zeit tun. Diese Zuversicht verleiht dem Knecht des Herrn Ruhe und Erhabenheit, sooft sich neidische und aufrührerische Geister gegen ihn erheben mögen. Es ist kaum möglich, daß jemand im Dienst einen her­vorragenden Platz einnimmt oder von Gott auf eine besondere Weise gebraucht wird, ohne daß er irgendwann einmal den Angriffen wühle­rischer und unzufriedener Menschen ausgesetzt wäre, die es nicht er­tragen können, daß jemand mehr geehrt wird als sie. Doch der richtige Weg, solchen zu begegnen, ist, daß man in Demut den niedrigsten Platz einnimmt und den Strom der Unzufriedenheit über sich hingehen läßt.

 

"Als Mose es hörte, fiel er auf sein Angesicht. Und er redete zu Korah und zu seiner ganzen Rotte und sprach: Morgen, da wird der HERR [nicht Mose] kundtun, wer sein ist und wer heilig ist, daß er ihn zu sich nahen lasse. Dieses tut: Nehmet euch Räucherpfannen, Korah und seine ganze Rotte, und morgen tut Feuer darein und leget Räucherwerk darauf vor dem HERRN; und es soll geschehen, der Mann, den der HERR erwählen wird, der sei der Heilige. Laßt es genug sein, ihr Söhne Levis" (V. 4‑7).

 

Das hieß die Angelegenheit in die rechten Hände legen. Mose stellt die unumschränkten Rechte des HERRN an die erste Stelle. "Der HERR wird kundtun", und "der HERR wird erwählen." Er sagt keine Silbe von sich oder von Aaron. Die ganze Frage hängt von der Wahl und Entscheidung des Herrn ab. Die zweihundertundfünfzig Empörer wer­den dem lebendigen Gott gegenübergestellt. Sie werden aufgefordert, mit ihren Räucherpfannen in der Hand in die Gegenwart Gottes zu treten, damit die ganze Angelegenheit vor jenem hohen Gerichtshof geprüft und geordnet werde, gegen dessen Entscheidung keine Be­rufung mehr erfolgen kann. Es hätte offenbar nichts genützt, wenn Mose und Aaron versucht hätten, ein Urteil zu fällen, da sie selbst die Angeklagten waren. Aber Mose war bereit, beide Parteien in die Gegenwart Gottes zu berufen, damit hier ihre Streitsache geprüft und geordnet werde.

 

Das war wahre Demut und wahre Weisheit. Wenn jemand eigenwillig einen bestimmten Platz einzunehmen sucht, so ist es immer gut, ihm das zu lassen, wonach sein Herz begehrt; denn ganz sicher wird gerade der Platz, nach dem er törichterweise getrachtet hat, der Ort seiner Niederlage und Beschämung werden. Man begegnet bisweilen Men­schen, die andere wegen eines Dienstes beneiden und die diesen Dienst gern selbst übernehmen möchten. Nun, mögen sie es versuchen! Sie werden sicher am Ende zusammenbrechen und sich mit Scham und Schande zurückziehen müssen. Der Herr wird gewiß alle solche be­schämen, und daher ist es für alle, die sich neidischen Angriffen aus­gesetzt sehen, stets das beste, wenn sie vor dem Herrn auf ihr An­gesicht fallen und es Ihm überlassen, die Frage mit den Unzufriedenen zu lösen. Er wird es in Seiner vollkommenen Weise tun.

 

"und Mose sprach zu Korah: Höret doch, ihr Söhne Levis! Ist es euch zu wenig, daß der Gott Israels euch aus der Gemeinde Israel aus­gesondert hat, um euch zu sich nahen zu lassen, damit Ihr den Dienst der Wohnung des HERRN verrichtet und vor der Gemeinde stehet, um sie zu bedienen, daß er dich und alle deine Brüder, die Söhne Levis, mit dir hat herzunahen lassen? Und ihr trachtet auch nach dem Priester­tum! Darum rottet ihr euch zusammen, du und deine ganze Rotte, wider den HERRN; denn Aaron, was ist er, daß ihr wider ihn murret?" (V. 8‑11)

 

In diesen Worten werden Wurzel und Ursache der Verschwörung bloß­gelegt. Wir sehen den Mann, der sie veranlaßte, und das Ziel, das er erstrebte. Mose wendet sich an Korah und klagt ihn an, er trachte nach dem Priestertum. Es ist wichtig, zu verstehen, was Korah war, worin sein Werk bestand und welches Ziel sein rastloser Ehrgeiz verfolgte. Sonst wird die wahre Kraft und Bedeutung des Ausdrucks nicht ver­standen, den Judas gebraucht: "in dem Widerspruch Korahs sind sie umgekommen"

 

Wer war denn Korah? Er war ein Levit und als solcher berechtigt, zu dienen und zu lehren. "Sie werden Jakob lehren deine Rechte, und Israel dein Gesetz" (5. Mose 33, 10). "Der Gott Israels hat euch aus der Gemeinde Israel ausgesondert, um euch zu sich nahen zu lassen, damit ihr den Dienst der Wohnung des HERRN verrichtet und vor der Gemeinde stehet, um sie zu bedienen." Und wonach trachtete er? Nach dem Priestertum.

 

Einem oberflächlichen Beobachter wäre es wohl entgangen, daß Korah etwas für sich selbst suchte. Er schien für die Rechte der ganzen Ver­sammlung zu kämpfen. Aber durch den Geist Gottes entlarvt Mose diesen Mann und zeigt, daß er unter dem Vorwand, für die gemein­samen Rechte der Gemeinde einzustehen, für sich selbst nach dem Priestertum trachtet. Es ist gut, das zu beachten. Man wird gewöhnlich finden, daß solche, die gern und laut von den Freiheiten, Rechten und Vorrechten des Volkes Gottes sprechen, in Wirklichkeit nur ihre eigene Erhebung und ihren eigenen Vorteil suchen. Nicht zufrieden mit dem ihnen von Gott angewiesenen Werk, suchen sie einen Platz, der ihnen nicht zukommt. Das ist nicht immer offensichtlich, aber Gott wird es gewiß früher oder später offenbar machen; denn "von ihm werden die Taten gewogen". Nichts ist häßlicher, als wenn jemand für sich einen hervorragenden Platz sucht. Möchten wir doch alle in Demut, Ruhe und Einfalt den uns angewiesenen Dienst tun! Korah hatte das nicht gelernt. Er war mit dem ihm von Gott zugeteilten Platz und Dienst nicht zufrieden, sondern trachtete nach etwas, das ihm mit Sicherheit nicht gehörte. Er wollte Priester werden. Er empörte sich gegen den Hohenpriester Gottes. Das war "der Widerspruch Korahs".

 

Unstreitig hat jedes Glied des Leibes Christi irgendeinen Dienst zu erfüllen, irgendein Werk zu tun. Das begreift jeder verständige Christ. Außerdem ist es klar, daß die Auferbauung des Leibes nicht nur durch einige hervorragende Gaben geschieht, sondern durch die Wirksam­keit aller Glieder an dem ihnen zugewiesenen Platz, wie wir im Ephe­serbrief lesen: " . . . sondern die Wahrheit festhaltend in Liebe, laßt uns in allem heranwachsen zu ihm hin, der das Haupt ist, der Christus, aus welchem der ganze Leib, wohl zusammengefügt und verbunden durch jedes Gelenk der Darreichung, nach der Wirksamkeit in dem Maße jedes einzelnen Teiles, für sich das Wachstum des Leibes bewirkt zu seiner Selbstauferbauung in Liebe" (Kap. 4, 15. 16). Was die besonde­ren Gaben betrifft wie diejenigen eines Evangelisten, Hirten, Prophe­ten oder Lehrers, so ist es Christus allein, der sie gibt, und ihr Besitz macht jemanden ohne das Zutun eines anderen zum Diener (Vergl. Eph 4, 11. 12; 1. Kor. 12, 11).

 

Es besteht jedoch ein wesentlicher Unterschied zwischen Dienst und Priestertum. Korah trachtete nicht danach, ein Diener zu werden, denn das war er. Er wollte Priester werden, was er nicht sein konnte. Mit dem Priestertum waren Aaron und seine Familie betraut. jeder andere, der es wagte, Opfer darzubringen oder einen priesterlichen Dienst zu tun, ‑ ganz gleich, wer er war ‑ handelte in frecher Anmaßung. Aaron aber war ein Bild von unserem großen Hohenpriester, der in die Himmel eingegangen ist, von Jesu, dem Sohne Gottes. Der Himmel ist der Bereich Seines Dienstes. "Wenn er auf Erden wäre, so wäre er nicht einmal Priester" (Hebr. 8, 4). "Denn es ist offenbar, daß unser Herr aus Juda entsprossen ist, zu welchem Stamme Mose nichts in bezug auf Priester geredet hat" (Hebr. 7, 14). Es gibt jetzt kein Prie­stertum auf Erden außer in dem Sinn, daß alle Gläubigen Priester sind. So lesen wir in 1. Petr. 2, 9: "Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum." In diesem Sinn ist jeder Christ ein Priester. Der schwächste Heilige in der Kirche Gottes ist ebenso ein Priester, wie Paulus es war. Es handelt sich dabei nicht um Fähigkeit oder geistliche Kraft, sondern einfach um die Stellung. Alle Gläubigen sind Priester und als solche nach Hebr. 13, 15. 16 berufen, geistliche Opfer darzu­bringen. "Durch ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes dar­bringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen."

 

Das ist das christliche Priestertum. Wenn man nach einer anderen Art des Priestertums strebt, wenn man eine andere priesterliche Funktion sich anmaßt oder eine bestimmte priesterliche Klasse einrichtet, d. h. eine Anzahl von Menschen dazu bestimmt, daß sie zugunsten ihrer Mitmenschen tätig sein oder priesterlichen Dienst für sie vor Gott tun sollen ‑ so ist das, dem Grundsatz nach, die Sünde Korahs.*)

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*) Ausdrücklich sei betont, daß hier nur von dem Grundsatz, nicht von Per­sonen die Rede ist.

 

Der Rest unseres Kapitels zeigt uns das ernste Gericht Gottes über Korah und seine Rotte. Der Herr entschied sehr schnell über die durch die Empörer aufgeworfene Frage. Schon der Bericht darüber ist schreck­lich. Wie muß erst der Vorgang selbst gewesen sein! Die Erde tat ihren Mund auf und verschlang die drei Hauptanstifter der Empörung, und das Feuer des Herrn ging aus und verzehrte die zweihundertundfünfzig Männer, die es wagten, ihr Räucherwerk zu opfern.

 

"Und Mose sprach: Daran sollt ihr erkennen, daß der HERR mich ge­sandt hat, alle diese Taten zu tun, daß ich nicht aus meinem Herzen gehandelt habe: Wenn diese sterben, wie alle Menschen sterben, und mit der Heimsuchung aller Menschen heimgesucht werden, so hat der HERR mich nicht gesandt; wenn aber der HERR ein Neues schafft, und der Erdboden seinen Mund auftut und sie verschlingt mit allem was ihnen gehört, und sie lebendig in den Scheol hinabfahren, so werdet ihr erkennen, daß diese Männer den HERRN verachtet haben" (V. 28‑30).

 

Mit diesen Worten macht Mose die Frage einfach zu einer Sache zwi­schen dem HERRN und den Empörern. Er kann sich auf Gott berufen und alles Seinen Händen überlassen. Das ist das wahre Geheimnis aller moralischen Kraft. Ein Mensch, der nicht sich selbst sucht, der kein anderes Ziel und keinen anderen Wunsch als die Ehre des Herrn hat, kann den Ausgang der Dinge ruhig abwarten. Aber dafür muß das Auge einfältig, das Herz aufrichtig und die Absicht sauber sein. Alle Anmaßung und Einbildung wird ans Licht kommen, wenn Gott aufsteht, um zu richten. So etwas hält nicht stand, wenn die Erde ihren Mund auftut und das Feuer des Herrn alles verzehrt.

 

"Und es geschah, als er alle diese Worte ausgeredet hatte, da spaltete sich der Erdboden, der unter ihnen war, und die Erde tat ihren Mund auf und verschlang sie und ihre Familien und alle Menschen, die Korah angehörten, und die ganze Habe. Und sie fuhren, sie und alles was ihnen angehörte, lebendig in den Scheol hinab; und die Erde bedeckte sie, und sie wurden mitten aus der Versammlung vertilgt. Und ganz Israel, das rings um sie her war, floh bei ihrem Geschrei; denn sie sprachen: Daß die Erde uns nicht verschlinge." (V. 31‑34)

 

Wirklich, "es ist furchtbar, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen" "Gott ist gar erschrecklich in der Versammlung der Heiligen und furchtbar über alle, die rings um ihn her sind" (Ps. 89, 7). "Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer." Wieviel besser wäre es für Korah gewesen, wenn er mit seinem levitischen Dienst, der von der höchsten Ordnung war, zufrieden geblieben wäre! Seine Aufgabe als Kehathiter bestand darin, einige der kostbarsten Geräte des Heiligtums zu tragen, Aber er trachtete nach dem Priestertum und ‑ stürzte in den Abgrund.

 

Doch das war noch nicht alles. Kaum hatte sich der Erdboden über den Empörern geschlossen, als "Feuer ausging von dem HERRN und die zweihundertundfünfzig Männer fraß, die das Räucherwerk dargebracht hatten". Es war eine schreckliche Szene, eine erschütternde Offenbarung des göttlichen Gerichts über den Stolz und die Anmaßung des Men­schen. Es ist vergeblich, wenn der Mensch sich gegen Gott erhebt; denn Gott widersteht dem Hochmütigen, aber dem Demütigen gibt Er Gnade.

 

Möchten wir demütig mit unserem Gott leben, mit Seinem Willen zu­frieden sein, uns begnügen, einen sehr geringen Platz auszufüllen und das bescheidenste Werk zu tun! Das ist wahre Würde, und darin besteht das wahre Glück. Die große und wichtige Sache ist, daß wir das Werk tun, das Er uns zu tun gibt, und den Platz einnehmen, den Er uns angewiesen hat. Hätten Korah und seine Rotte das gelernt, so hätte ihr Wehgeschrei das Herz ihrer Brüder nicht erschreckt. Aber nein, sie wollten etwas sein, da sie doch nichts waren, und darum stürz­ten sie in den Abgrund hinab. Unter der Regierung Gottes folgt dem Stolz unausweichlich der Untergang. Vergessen wir das nie! Möchte die Betrachtung dieses Kapitels unser Gefühl dafür, wie wertvoll ein demütiger und zerschlagener Geist ist, vertieft haben! Wir leben in einer Zeit, wo der Mensch mehr und mehr danach strebt, vorwärtszu­kommen und aufzusteigen. Aber jeder, „der sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden". Wenn wir von der im Reich Gottes gültigen Regel geleitet werden, werden wir finden, daß der einzige Weg zur Erhöhung darin besteht, sich selbst zu erniedrigen. Der jetzt den allerhöchsten Platz im Himmel einnimmt, ist derselbe, der hier auf der Erde frei­willig den allerniedrigsten einnahm (vgl. Phil. 2, 5‑11).

 

Das ist das Vorbild für uns als Christen und zugleich das göttliche Heil­mittel gegen den Stolz und den rastlosen Ehrgeiz der Menschen dieser Welt. Nichts ist trauriger, als bei denen, die Nachfolger des Sanft­mütigen und von Herzen Demütigen zu sein bekennen, einen hoch­strebenden, eitlen, auf sich selbst vertrauenden Geist zu sehen. Un­möglich kann jemand, der sich je in Wahrheit in der Gegenwart Gottes geprüft und kennengelernt hat, einen Geist des Hochmuts, der An­maßung und des Selbstvertrauens pflegen. Viel mit Gott allein zu sein ist das sichere Heilmittel gegen Stolz und alle Selbstgefälligkeit. Möge der Herr in Seiner Güte uns in allen unseren Wegen in wahrer Demut erhalten und uns geben, daß wir uns einfach auf Ihn stützen und wir in unseren Augen klein und gering sind!

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels offenbart durchschlagend die unveränderliche Bosheit des menschlichen Herzens. Man hätte wohl hoffen können, daß die Gemeinde durch die ergreifenden Vorgänge, deren Augenzeugen sie gewesen war, tiefe und dauernde Eindrücke empfangen hätte. Sie hatten gesehen, wie die Erde ihren Mund auftat. Sie hatten das Geschrei der Empörer gehört. Sie hatten beobachtet, wie das Feuer von dem HERRN ausging und die zweihundertundfünfzig Fürsten der Gemeinde in einem Augenblick verschlang. Sie waren Zeugen gewesen von all diesen Beweisen des Gerichts, von der Entfaltung der Macht und Majestät Gottes. Von da an hätte nach diesen Erfah­rungen die Stimme der Unzufriedenheit und Empörung in den Zelten des Volkes nicht mehr gehört werden dürfen.

 

Aber das Fleisch ist ganz und gar unverbesserlich und der Mensch unfähig, zu lernen. Diese Wahrheit finden wir auf jeder Seite des Buches Gottes wieder, besonders auch in dem vor uns liegenden Ab­schnitt. "Am anderen Morgen" ‑ denken wir daran: nicht ein Jahr, einen Monat oder auch nur eine Woche nach diesen schrecklichen Vor­gängen, sondern am anderen Morgen ‑ "murrte die ganze Gemeinde der Kinder Israel [es waren nicht mehr nur einige verwegene Geister] wider Mose und wider Aaron und sprach: Ihr habt das Volk des HERRN getötet! Und es geschah, als die Gemeinde sich wider Mose und wider Aaron versammelte, da wandten sie sich zu dem Zelte der Zusammenkunft, und siehe, die Wolke bedeckte es, und die Herrlich­keit des HERRN erschien. Da gingen Mose und Aaron vor das Zelt der Zusammenkunft. Und der HERR redete zu Mose und sprach: Hebet euch weg aus der Mitte dieser Gemeinde, und ich will sie vernichten in einem Augenblick" (V. 41‑45)!

 

Hier gibt es für Mose eine neue Gelegenheit, seine oft erprobte Un­eigennützigkeit und seine Liebe zu dem Volk zu beweisen. Die ganze Gemeinde ist wieder von sofortiger Vernichtung bedroht. Alles er­scheint hoffnungslos. Die Langmut Gottes scheint ihr Ende erreicht zu haben. Doch gerade die Männer, die von den Murrenden beschuldigt worden waren, das Volk des HERRN getötet zu haben, werden die Werkzeuge Gottes zur Rettung ihres Lebens! "Da fielen sie auf ihr Angesicht. Und Mose sprach zu Aaron: Nimm die Räucherpfanne und tue Feuer vom Altar darauf und lege Räucherwerk auf, und bringe es eilends zu der Gemeinde und tue Sühnung für sie; denn der Zorn ist ausgegangen von dem HERRN, die Plage hat begonnen. Und Aaron nahm die Räucherpfanne, so wie Mose geredet hatte, und lief mitten unter die Versammlung, und siehe, die Plage hatte unter dem Volke begonnen; und er legte das Räucherwerk auf und tat Sühnung für das Volk. Und er stand zwischen den Toten und den Lebendigen, und der Plage ward gewehrt" (V. 46‑48).

 

Hier zeigt es sich klar, daß nichts als das Priestertum ‑ eben jenes Priestertum, das so verachtet worden war ‑ das aufrührerische und hartnäckige Volk retten konnte. Dieser letzte Abschnitt enthält etwas unaussprechlich Gesegnetes. Da steht Aaron, der Hohepriester Gottes, zwischen den Toten und den Lebendigen, und von seiner Räucher­pfanne steigt eine Wolke von Räucherwerk zu Gott empor: ein tref­fendes Bild von dem, der größer ist als Aaron und der, nachdem Er für die Sünden Seines Volkes eine vollkommene Versöhnung vollbracht hat, immer vor Gott steht in dem ganzen Wohlgeruch Seiner Person und Seines Werkes. Das Priestertum allein konnte das Volk durch die Wüste führen. Es war die reiche und passende Vorsorge der Gnade Gottes. Das Volk verdankte dem Dazwischentreten des Hohenpriesters seine Bewahrung vor den gerechten Folgen seines empörerischen Mur­rens. Wären sie bloß nach dem Grundsatz der Gerechtigkeit behandelt worden, so hätte nichts anderes gesagt werden können als: "Laßt mich, daß ich sie in einem Augenblick vertilge!"

 

Unverzügliche Vernichtung ist das Werk der Gerechtigkeit, völlige und endgültige Befreiung das herrliche und kennzeichnende Werk der göttlichen Gnade, einer Gnade, die durch Gerechtigkeit herrscht. Hätte Gott nun in Gerechtigkeit mit dem Volk gehandelt, so wäre Sein Name nicht völlig verherrlicht worden, weil in diesem Namen weit mehr ent­halten ist als Gerechtigkeit, nämlich: Liebe, Barmherzigkeit, Güte, Freundlichkeit, Langmut, tiefes und nie versagendes Erbarmen. Aber von allem diesem wäre nichts gesehen worden, wenn der HERR das Volk in einem Augenblick vertilgt hätte und der Name des HERRN wäre nicht völlig bekannt und verherrlicht worden. "Um meines Na­mens willen verziehe ich meinen Zorn, und um meines Ruhmes willen bezwinge ich ihn, dir zu gut, um dich nicht auszurotten ... Um meinet­willen, um meinetwillen will ich es tun; denn wie würde mein Name entweiht werden! und meine Ehre gebe ich keinem anderen" (Jes. 48, 9. 11).

 

Wie gut ist es für uns, daß Gott um der Ehre Seines Namens willen für uns und in uns handelt! Wie wunderbar ist es auch, daß Sein Ruhm am hellsten erglänzt und überhaupt auch nur gesehen werden kann in jenem gewaltigen Plan, den Sein Herz entworfen hat und in dem Er sich "als ein gerechter Gott und als Heiland" offenbart! Wun­derbarer Name für einen armen, verlorenen Sünder! Er enthält alles, was ein solcher für Zeit und Ewigkeit braucht. Er begegnet dem Ver­lorenen in der Tiefe seiner Not als einem, der die Hölle verdient hat, trägt ihn durch die vielen Kämpfe, Prüfungen und Schmerzen der Wüste und führt ihn endlich in jene helle und gesegnete Welt, wo Sünde und Schmerz niemals hinkommen können.

 

Kapitel 17 und 18

 

AARON UND DAS PRIESTERTUM

 

Diese beiden Kapitel bilden einen Abschnitt für sich. Der Ursprung, die verschiedenen Seiten der Verantwortlichkeit sowie die Vorrechte des Priestertums werden uns darin vorgestellt. Das Priestertum ist eine göttliche Einrichtung. "Und niemand nimmt sich selbst die Ehre, son­dern als von Gott berufen, gleichwie auch Aaron" (Hebr. 5, 4). Das wird in treffender Weise im 17. Kapitel deutlich gemacht.

 

Welche unvergleichliche Weisheit sehen wir in der Anordnung in den ersten sechs Versen des Kapitels! Die Sache wird der Hand des Men­schen vollständig entzogen und dahin gegeben, wo sie allein hinge­hört, nämlich in die Hände des lebendigen Gottes! Priester sollte nicht ein Mensch sein, der von sich selbst oder von seinesgleichen eingesetzt war. Gott war es, der den Mann Seiner eigenen Wahl bestimmte. Die Frage sollte also von Gott selbst gelöst werden, damit auf diese Weise alles Murren für immer zum Schweigen gebracht würde und niemand mehr den Hohenpriester Gottes anklagen könnte, er maße sich zu viel an. Der Wille des Menschen hatte in dieser ernsten Angelegenheit nichts zu sagen. Die zwölf Stäbe, die alle gleich waren, wurden vor den Herrn hingelegt. Der Mensch zog sich zurück und überließ es Gott, zu handeln. Da gab es keinen Raum, keine Möglichkeit für menschliche Beeinflussungen. In der Einsamkeit des Heiligtums, weit entfernt von allen Gedanken des Menschen, wurde die Frage des Priestertums durch göttliche Entscheidung geregelt, und nachdem sie so gelöst war, konnte sie nie wieder gestellt werden.

 

"Und Mose legte die Stäbe vor den HERRN nieder in das Zelt des Zeugnisses. Und es geschah des anderen Tages, als Mose in das Zelt des Zeugnisses hineinging, siehe, da hatte der Stab Aarons, vom Hause Levi, gesproßt: er hatte Sprossen getrieben und Blüten gebracht und Mandeln gereift" (V. 7. 8). Was für ein treffendes und herrliches Bild dessen, der "als Sohn Gottes in Kraft erwiesen worden ist durch Toten-Auferstehung"! (Röm. 1, 4) Die zwölf Stäbe waren alle gleich leblos, aber Gott, der lebendige Gott, trat auf den Schauplatz, und durch Seine Macht gab Er dem Stab Aarons Leben und stellte ihn dar mit den herrlichen Früchten der Auferstehung.

 

Wer könnte das leugnen? Die Vernunft mag spotten. Der Glaube betrachtet den fruchttragenden Stab als ein schönes Bild der neuen Schöpfung, in der alles von Gott ist. Der Unglaube mag Einwände machen, indem er auf die augenscheinliche Unmöglichkeit hinweist, daß ein dürrer Stab in einer Nacht grünen, sprossen und Früchte tragen kann. Warum? Weil er immer Gott ausschließt. Er zieht seine Schlüsse und führt seine Beweise in Finsternis. In dem Bereich, in dem der Un­glaube sich bewegt, ist kein einziger Strahl wahren Lichts. Er lehnt die einzige Quelle des Lichts ab und läßt die Seele in tiefer Finsternis.

 

Es ist besonders für den jungen Leser gut, über diese ernste Tatsache nachzudenken. Unglaube, Glaube an die menschliche Vernunft und Zweifelsucht ‑ alle drei beginnen und enden damit, daß sie Gott aus­schließen. Dem Geheimnis von Aarons sprossendem, blühendem und fruchtbringendem Stab treten sie mit einem frechen: "Wie kann das sein?" entgegen. Das ist das Argument des Ungläubigen. Er wirft Tau­sende von Fragen auf, aber er löst keine einzige. Er lehrt dich zu zwei­feln, aber nie zu glauben. Er erweckt in bezug auf alles Zweifel in deiner Seele, aber er gibt dir nichts zu glauben.

 

Der Unglaube ist von Satan, der immer der große "Bedenken‑Anmel­der" war und bis ans Ende bleiben wird. Immer und überall erhebt er Fragen und stürzt den Menschen in Finsternis. Aber einer Seele gegen­über, die einfach glaubt, daß Gott ist und daß Er gesprochen hat, ist Satan ohnmächtig. In diesem einfachen Glauben liegt die Antwort auf alle Fragen des Ungläubigen, liegt die göttliche Lösung aller Schwierig­keiten. Der Glaube denkt mit Gott, der Unglaube ohne Gott.

 

Ich möchte es daher jedem christlichen Leser ans Herz legen, doch keine Fragen mehr zuzulassen, wenn Gott einmal gesprochen hat. Wenn es doch geschieht, wird Satan sehr bald triumphieren können. Die einzige Sicherheit gegen ihn besteht in dem unvergänglichen Ausspruch: "Es steht geschrieben!" Es wird niemals reichen, ihm auf Grund von Er­fahrungen, Gefühlen oder Beobachtungen etwas beweisen zu wollen. Wir müssen ihm ausschließlich auf der Grundlage begegnen: Gott ist und Gott hat gesprochen. Gegen dieses gewichtige Argument vermag Satan nichts. Es schlägt ihn augenblicklich in die Flucht.

 

Wenn also im Hinblick auf den Stab Aarons jemand fragt: Wie kann so etwas geschehen? Es läuft den Naturgesetzen zuwider, und wie könnte Gott diese festen Gesetze umstoßen?, so ist die Antwort des Glaubens: Gott kann tun, was Ihm gefällt. Er, der Welten ins Dasein gerufen hat, konnte auch einen Stab in einem Augenblick zum Spros­sen, Blühen und Fruchttragen bringen.

 

Wir fühlen, wie wichtig es ist, die wahren Quellen der so einleuchtend klingenden Lehrsätze zu kennen, die in unserer Zeit so viele Köpfe erfüllen. Der Geist des Menschen beschäftigt sich damit, Systeme zu bilden, Schlüsse zu ziehen und Folgerungen abzuleiten, und zwar in einer Weise, die das Zeugnis der Heiligen Schrift und sogar Gott selbst aus dem, was Er geschaffen hat, vollständig ausschließt. Die Jüngeren unter uns müssen in dieser Hinsicht gewarnt werden. Wir sollen alles das mit Entschiedenheit als Unglauben bezeichnen und mit dem Apostel sagen: "Gott sei wahrhaftig, jeder Mensch aber Lügner!"

 

Geben wir doch der Heiligen Schrift immer den ersten Platz in unse­rem Herzen und in unserem Geist! Das ist die einzige Sicherheit gegen den mehr und mehr anschwellenden Strom des Unglaubens, der die Grundlagen alles gläubigen Denkens in der Christenheit zu zerstören droht.

 

"Und Mose brachte alle die Stäbe heraus vor den HERRN weg zu allen Kindern Israels, und sie sahen sie und nahmen ein jeder seinen Stab. Und der HERR sprach zu Mose: Bringe den Stab Aarons vor das Zeugnis zurück, um ihn als ein Zeichen für die Widerspenstigen aufzu­bewahren, so daß du ihrem Murren vor mir ein Ende machest, und sie nicht sterben. Und Mose tat es; so wie der HERR ihm geboten hatte, also tat er" (V. 9‑11).

 

So war denn die Frage von Gott gelöst. Das Priestertum gründet sich auf die Gnade, die aus dem Tod Leben bringt. Es wäre nutzlos gewe­sen, einen der elf dürren Stäbe zum Kennzeichen des priesterlichen Amtes machen zu wollen. Alle menschliche Macht unter der Sonne konnte einem dürren Stab weder Leben geben noch ihn in einen Se­genskanal für die Seelen verwandeln. Ebenso brachten die elf Stäbe zusammengenommen keine einzige Knospe oder Blüte hervor. Aber da, wo Beweise einer belebenden Kraft, Spuren göttlichen Lebens und Segens, wo Früchte wirksamer Gnade vorhanden waren, da allein war die Quelle des priesterlichen Dienstes zu finden, der ein nicht nur be­dürftiges, sondern auch murrendes und widerspenstiges Volk durch die Wüste zu führen vermochte.

 

Doch warum war der Stab Moses nicht unter den zwölf Stäben? Der Grund hierfür ist sehr einfach. Der Stab Moses war der Ausdruck der Macht und der Autorität, derjenige Aarons dagegen der liebliche Aus­druck einer Gnade, die das Tote lebendig macht und das Nichtseiende ruft, wie wenn es da wäre. Bloße Macht oder bloße Autorität konnten die Gemeinde nicht durch die Wüste führen. Die Macht konnte den Aufrührer vernichten, die Autorität den Sünder schlagen; aber nur Gnade und Barmherzigkeit konnten einer Versammlung von bedürf­tigen, hilflosen, sündigen Männern, Frauen und Kindern helfen. Die Gnade, die aus einem dürren Stab Mandeln hervorbringen konnte, konnte auch Israel durch die Wüste führen. Nur in Verbindung mit dem sprossenden Stab Aarons konnte der HERR sagen: "So daß du ihrem Murren vor mir ein Ende machest, und sie nicht sterben." Der Stab der Gewalt konnte die Murrenden wegraffen, der Stab der Gnade aber konnte das Murren beenden.

 

Es wird nützlich sein, kurz auf eine Stelle im Anfang von Hebr. 9 einzugehen, die mit dein vorliegenden Thema in Verbindung steht. Es wird dort von der Bundeslade gesagt:. "In welcher der goldene Krug war, der das Manna enthielt, und der Stab Aarons, der gesproßt hatte, und die Tafeln des Bundes." Der Stab und das Manna entsprangen der Vorsorge der göttlichen Gnade für die Wanderung und die Bedürf­nisse Israels in der Wüste. In 1. Kön. 8, 9 jedoch lesen wir: "Nichts war in der Lade als nur die beiden steinernen Tafeln, welche Mose am Horeb hineinlegte, als der HERR einen Bund machte mit den Kindern Israel, als sie aus dem Lande Ägypten zogen." Die Wanderungen in der Wüste waren vorbei; die Herrlichkeit der Tage Salomos verbreitete ihren Glanz über das Land. Daher hören wir nichts von dem sprossen­den Stab und von dem Mannakrug. Nur das Gesetz Gottes blieb, das die Grundlage Seiner gerechten Regierung in der Mitte Seines Volkes bildete.

 

Wir finden hierin nicht nur ein Beispiel für die göttliche Genauigkeit der Schrift als Ganzes, sondern auch einen Hinweis auf den besonde­ren Charakter und Zweck des 4. Buches Mose. Aarons Stab befand sich während der Wüstenwanderung Israels in der Lade. Wunderbare Tat­sache! Möchten wir ihre tiefe und segensreiche Bedeutung verstehen! Möchten wir den Unterschied zwischen dem Stabe Moses und dem Aarons begreifen! Wir haben gesehen, wie jener die ihm eigentüm­lichen Aufgaben zu anderen Zeiten und bei anderen Gelegenheiten tat. Wir haben gesehen, wie das Land Ägypten unter seinen schweren Schlägen zitterte. Plage auf Plage fiel auf das Land, wenn Mose diesen Stab ausstreckte. Wir haben gesehen, wie unter ihm die Wasser des Meeres sich teilten. Es war also ein Stab der Macht und der Gewalt. Er konnte das Murren der Kinder Israel nicht zum Schweigen bringen und das Volk nicht durch die Wüste führen, Das konnte allein die Gnade. Und den Ausdruck der reinen, freien, unumschränkten Gnade finden wir in dem sprossenden Stab Aarons.

 

Der dürre, tote Stab Aarons war ein treffendes Bild des natürlichen Zu­standes von Israel und von uns. Da war kein Leben, keine Kraft. Man hätte wohl fragen können: "Was für Gutes kann je aus ihm hervor­kommen?" In der Tat, gar nichts ‑ wenn nicht die Gnade ins Mittel getreten wäre und ihre belebende Kraft entfaltet hätte. Wie hätte Israel von Tag zu Tag geleitet werden können? Wie sollten sie in all ihrer Schwachheit und Not unterstützt und in all ihrer Sünde und Torheit ertragen werden? Die Antwort findet sich allein in dem sprossenden Stab Aarons. So wie der dürre, tote Stab das Bild von dem natürlichen Zustand Israels war, so stellten die Knospen, Blüten und Früchte die lebendige und lebengebende Gnade und Macht Gottes dar, auf die der priesterliche Dienst gegründet war, der allein die Gemeinde durch die Wüste leiten konnte.

 

Und so wie es damals mit dem Priestertum war, so ist es heute mit dem Dienst. Jeder Dienst in der Kirche Gottes ist eine Frucht göttlicher Gnade, ist die Gabe Christi, des Hauptes, der Kirche. Eine andere Quelle des Dienstes gibt es nicht. So schreibt Paulus den Galatern: "Apostel, nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat aus den Toten" (Gal. 1, 1). Der Mensch kann dürre Stäbe nehmen und sie nach seinem Willen formen und bearbeiten. Er kann sie weihen, ein­setzen und ihnen hochklingende Titel beilegen. Doch wozu nützt es?

 

Sie sind und bleiben dürre, tote Stäbe. Eine einzige Knospe genügt, um zu beweisen, daß etwas Göttliches da ist. Aber wenn sie fehlt, so fehlt eben jede Voraussetzung zu einem lebendigen Dienst in der Kirche Gottes. Die Gabe Christi allein ist es, die jemanden zu seinem Diener macht. Ohne diese ist es Anmaßung, sich als Diener einzusetzen oder von anderen einsetzen zu lassen. Anders ausgedrückt: Jeder wahre Dienst ist von Gott und nicht von Menschen, durch Gott und nicht durch Menschen. Das Neue Testament kennt keinen von Menschen ver­ordneten Dienst. Alles ist von Gott.

 

Damit kein Mißverständnis entsteht, sei betont, daß hier von den Gaben zum Dienst der Kirche Gottes die Rede ist, nicht von einem Amt oder einem übertragenen Dienst in einer örtlichen Versammlung, d. h. nicht von dem Amt der Ältesten oder dem Dienst der Diakonen. Diese wurden von den Aposteln und ihren Abgesandten eingesetzt und konnten zugleich eine besondere Gabe besitzen und ausüben. Aber weder der Apostel Paulus noch ein von ihm Beauftragter setzte sie ein, damit sie diese Gabe ausübten, sondern nur, damit sie ihren örtlichen Pflichten entsprachen. jede geistliche Gabe kam von dem Haupt der Kirche und war von einem örtlichen Amt ganz und gar unabhängig.

 

Es ist gut, Über den Unterschied zwischen einer geistlichen Gabe und einem örtlichen Amt Klarheit zu haben. Im allgemeinen herrscht große Verwirrung über diese beiden Dinge, und die Folge davon ist, daß der Dienst gar nicht verstanden wird und die Glieder des Leibes Christi ihren Platz und ihre Aufgaben nicht kennen. Erwählung durch Men­schen oder durch menschliche Autorität in der einen oder anderen Form wird für die Ausübung des Dienstes als wesentlich betrachtet. Aber nirgends im Neuen Testament findet sich eine Zeile, in der mensch­liche Berufung, menschliche Einsetzung, menschliche Autorität irgend etwas mit der Ausübung des Dienstes zu tun haben.*)

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*) Selbst die Anstellung der Diakonen (Apg. 6) war mehr eine apostolische Handlung als ein Akt der Versammlung. Wir lesen dort: "So sehet euch nun um, Brüder, nach sieben Männern aus euch, von gutem Zeugnis, voll Heiligen Geistes und Weisheit, die wir über dieses Geschäft bestellen wollen". Es war Sache der Brüder, die Männer auszuwählen, weil es ihr Geld war, um das es sich handelte. Aber die Anstellung war von Gott. Und sie bezog sich, vergessen wir es nicht, nur auf die Aufgaben der Diakone die die zeitlichen Angelegenheiten der Kirche zu besorgen hatten. Aber das Werk eines Evan­gelisten, Hirten und Lehrers war und ist völlig unabhängig von menschlicher Wahl und Autorität und gründet sich allein auf die Gabe Christi (Eph. 4, 11).

 

Nein, Gott sei Dank, der Dienst in Seiner Kirche ist "nicht von Menschen, noch durch einen Menschen, sondern durch Jesum Christum und Gott, den Vater, der ihn auferweckt hat aus den Toten‑. "Gott hat die Glieder gesetzt, jedes einzelne von ihnen an dem Leibe, wie es ihm gefallen hat" (i. Kor. 12, 18).

 

In Eph. 4, 7‑13 werden alle Gaben zum Dienst von den Aposteln bis zu den Evangelisten und Lehrern auf denselben Boden gestellt. Sie wer­den alle von dem Haupt der Kirche gegeben und machen den Besitzer verantwortlich ‑ sowohl dem Haupt im Himmel als auch* den Gliedern auf der Erde gegenüber. Die Behauptung, daß ein Mensch, der von Gott eine bestimmte Gabe empfangen hat, auf die Einsetzung durch eine menschliche Autorität zu warten habe, ist ebenso verkehrt, als wenn Aaron mit seinem sprossenden Stabe in der Hand hingegangen wäre, um sich von irgendeinem seinesgleichen ins Priesteramt einsetzen zu lassen. Aaron war von Gott berufen, und das war ihm genug. Und so sind jetzt alle, die eine göttliche Gabe besitzen, von Gott zum Dienst berufen, und sie haben nichts anderes nötig, als ihren Dienst zu tun und ihre Gabe auszuüben.

 

Soviel über den Dienst und das Priestertum. Die Quelle von beidem ist Gott. Die wahre Grundlage für beide wird uns in dem sprossenden Stab dargestellt. Aaron konnte sagen: "Gott hat mir das Priestertum gegeben, und wenn man Beweise von ihm verlangte, so konnte er auf den Stab mit den Früchten hinweisen. Paulus konnte sagen: "Gott hat mich in den Dienst eingesetzt", und zum Beweis konnte er auf Tausende von lebendigen Siegeln seines Werkes hinweisen. So muß es grundsätzlich immer sein, ganz gleich, ob es sich dabei um kleine oder große Dinge dreht. Der Dienst darf nicht nur in Worten, er muß in Tat und Wahrheit bestehen. Gott wird nicht die Worte anerkennen, sondern die Kraft.

 

Bevor wir dieses Thema verlassen, sei noch einmal die Wichtigkeit des Unterschieds zwischen Dienst und Priestertum betont. Die Sünde Korahs bestand darin, daß er, nicht zufrieden damit, ein Diener zu sein, danach trachtete, ein Priester zu werden. Die Sünde der Christenheit trägt den gleichen Charakter. Anstatt den Dienst in der Kirche Gottes auf der ihm im Neuen Testament angewiesenen Grundlage zu lassen, hat man ein Priestertum daraus gemacht, eine Art priesterlicher Kaste, deren Glieder sich von ihren Brüdern durch besondere Kleider, Titel und Rechte auszeichnen. Nach den klaren Belehrungen des Neuen Testaments aber sind alle Gläubigen Priester. In 1. Petr. 2, 5 lesen wir: "Ihr seid ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer usw.", und in V. 9: "Ihr [nicht allein die Apostel sondern alle Gläubigen] seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum." So auch in Offb. 1, 5. 6: "Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blute und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater." (Vgl. auch Hebr. 10, 19‑22; 13, 15. 16.)

 

Was für einen Eindruck muß es auf jüdische Gläubige, die mit den Ein­richtungen der mosaischen Haushaltung aufgewachsen waren, gemacht haben, wenn sie im Hebräerbrief aufgefordert wurden, in das Aller­heiligste einzutreten, wo selbst der höchste Würdenträger in Israel nur einmal im Jahr und nur für wenige Augenblicke sein durfte; wenn sie ferner berufen wurden, Opfer darzubringen und die besonderen Auf­gaben des Priestertums zu versehen! Aber das, und nichts anderes sehen wir, wenn wir uns durch die Schrift und nicht durch Gebote, Lehrsätze und Überlieferungen der Menschen belehren lassen. Nicht alle Christen sind Apostel, Propheten, Lehrer, Hirten oder Evangeli­sten; aber alle sind Priester. Das schwächste Glied der Kirche ist ebenso ein Priester, wie Petrus, Paulus, Jakobus oder Johannes es waren. Wir reden jetzt nicht von Fähigkeiten oder von geistlicher Kraft, sondern von der Stellung, die alle kraft des Blutes Christi einnehmen.

 

Die letzten Zeilen des 17. Kapitels enthalten ein bemerkenswertes Bei­spiel dafür, wie schnell der menschliche Geist aus einem Extrem ins andere fällt. "Und die Kinder Israel sprachen zu Mose und sagten: Siehe, wir vergehen, wir kommen um, wir alle kommen um! jeder, der irgend zur Wohnung des HERRN naht, der stirbt: sollen wir denn allzumal vergehen?" Im vorhergehenden Kapitel begegneten wir einem frechen Hochmut selbst in der Gegenwart der Majestät des HERRN, wo tiefe Demut angebracht gewesen wäre. Hier, in Gegenwart der Gnade Gottes und ihrer Vorsorge, bemerken wir gesetzliche Furcht und Mißtrauen. So ist es immer. Die Natur versteht weder die Heilig­keit noch die Gnade. In einem Augenblick hören wir sie rufen: "Die ganze Gemeinde, sie allesamt sind heilig", und im nächsten: "Siehe, wir vergehen, wir kommen um, wir alle kommen um!“ Der mensch­liche Geist erhebt sich, wenn er sich demütigen sollte, und er mißtraut, wenn er vertrauen sollte.

 

indessen ist dies alles für die Güte Gottes ein Anlaß, die heilige Ver­antwortlichkeit und die wunderbaren Vorrechte des Priestertums voll­kommen vor unseren Augen zu entfalten. Wie gnädig ist es von Gott, wie entspricht es Seinem Herzen, daß Er aus den Fehlern Seines Volkes einen Anlaß macht, uns über Seine Wege tiefer zu belehren! Es ist Sein Vorrecht und Sein Name sei dafür gepriesen, aus dem Bösen Gutes her­vorkommen zu lassen, aus dem Fresser Fraß, aus dem Starken Süßig­keit (vgl. Richter 14). So gibt der "Widerspruch Korahs" Anlaß zu der besonders schönen Belehrung, die in dem Stab Aarons enthalten ist, und das, was das Volk in den letzten Zeilen des 17. Kapitels sagt, hat eine sorgfältige Darstellung der Aufgaben des Priestertums Aarons zur Folge (Kap. 18, 1‑7).

 

Die ersten sieben Verse des 18. Kapitels enthalten eine göttliche Ant­wort auf die von den Kindern Israel gestellte Frage. "Sollen wir denn allzumal vergehen?" "Nein!" sagt der Gott aller Gnade und Barm­herzigkeit. "Und ihr [Aaron und seine Söhne] sollt der Hut des Heilig­tums und der Hut des Altars warten, daß kein Zorn mehr über die Kin­der Israel komme." So wird das Volk belehrt, daß es gerade in dem Priestertum, das es so sehr verachtet und dem es widersprochen hatte, seine Sicherheit finden sollte.

 

Doch wir müssen hier vor allem beachten, daß die Söhne Aarons und das Haus seines Vaters mit Aaron in seinen hohen und heiligen Vor­rechten und seiner Verantwortung verbunden waren. Die Leviten waren dem Aaron als eine Gabe gegeben, sie hatten den Dienst des Zeltes der Zusammenkunft zu tun. Sie sollten unter Aaron, dem Haupt des priesterlichen Hauses, dienen. Das gibt uns eine schöne Lehre, die be­sonders für die Christen unserer Tage nötig ist. Wir alle dürfen nicht vergessen, daß der Dienst, wenn er Gott wohlgefällig sein soll, Unter­werfung unter eine priesterliche Autorität und Leitung voraussetzt. "Und auch deine Brüder, den Stamm Levi, den Stamm deines Vaters, laß mit dir herzunahen, daß sie sich dir anschließen und dir dienen." Das drückte allen Einzelheiten des levitischen Dienstes seinen bestimm­ten Stempel auf. Der ganze Stamm der Arbeiter war mit dem Hohen­priester verbunden und ihm unterworfen. Alles stand unter seiner un­mittelbaren Aufsicht und Leitung. So muß es auch jetzt im Blick auf alle Arbeiter Gottes sein. jeder christliche Dienst muß in der Gemein­schaft mit unserem großen Hohenpriester und in heiliger Unterwer­fung unter Seine Autorität getan werden; anders hat er keinen Wert.

 

Es mag sehr viel Arbeit getan, sehr viel Aktivität entwickelt werden; aber wenn Christus nicht der unmittelbare Gegenstand des Herzens ist, wenn Seine Leitung und Autorität nicht völlig anerkannt werden, so ist die Arbeit vergeblich.

 

Anderseits hat das kleinste Werk des Dienstes, die geringste Arbeit, die vor dem Angesicht Christi getan wird, in den Augen Gottes ihren Wert und wird betont werden. Wie ermutigend und tröstlich ist das für das Herz jedes eifrigen Arbeiters! Die Leviten mußten unter Aaron arbeiten. Die Aufgabe der Christen ist es, unter Christus zu wirken. Ihm sind wir verantwortlich. Es ist gut und schön, in Gemeinschaft mit unseren lieben Mitarbeitern zu leben und in der Furcht des Herrn einander untertan zu sein. Alle Leviten mußten sich in ihrem Werk "an ihn [Aaron] anschließen" und waren daher auch untereinander ver­bunden. Sie hatten zusammenzuarbeiten. Hätte ein Levit seinen Brü­dern den Rücken gekehrt, so hätte er sich damit auch von Aaron ab­gewandt. Denken wir uns, ein Levit hätte sich durch das Benehmen seiner Gefährten beleidigt gefühlt und gesagt . "Ich kann nicht mit mei­nen Brüdern gehen. Ich muß meine Arbeit allein tun. Ich kann Gott dienen und unter Aaron wirken, aber ich muß mich von meinen Brü­dern fernhalten, denn ich kann unmöglich der Art und Weise des Wirkens zustimmen." Es ist nicht schwer, die Unrichtigkeit und Torheit eines solchen Schlusses einzusehen. Er hätte nichts als Verwirrung hervorgerufen. Alle waren berufen, miteinander zu wirken, so ver­schieden auch ihr Werk sein mochte.

 

Gleichwohl war, erinnern wir uns immer daran, ihre Arbeit verschieden. Außerdem war jeder einzelne berufen, unter Aaron zu wirken. Es gab also eine persönliche Verantwortlichkeit und gleichzeitig gemeinschaft­liche Tätigkeit, die harmonisch ablief. Wir wünschen gewiß, die Einig­keit im Wirken auf alle Weise zu fördern; aber sie darf nie den Bereich des persönlichen Dienstes berühren oder sich in die unmittelbaren und persönlichen Beziehungen des Arbeiters zu seinem Gott einmischen. Die Kirche Gottes gewährt den Arbeitern des Herrn ein weit ausgedehntes Feld. Da ist Raum für alle Arbeiter, und wir dürfen nicht versuchen, sie alle auf den gleichen Boden zu stellen oder die vielfältigen Kräfte der Diener Christi einzuschränken, indem wir sie in alte Gleise, die wir selbst hergestellt haben, einzuzwängen versuchen. Das wird nie gehen. Wir müssen herzliche Einmütigkeit mit der größtmöglichen Verschie­denheit in der Art der Wirksamkeit zu vereinigen suchen. Beides wird gefördert werden, wenn wir immer im Gedächtnis behalten, daß wir alle berufen sind, miteinander Christus zu dienen.

 

Hierin liegt das große Geheimnis: miteinander, unter Christus. Laßt uns das beherzigen! Es wird uns helfen, die Art der Wirksamkeit eines anderen, wenn sie auch von der unsrigen verschieden sein mag, anzu­erkennen und zu schätzen, und es wird uns vor allen hochmütigen Gedanken über unseren eigenen Wirkungskreis bewahren, durch die Erkenntnis, daß wir alle nichts anderes sind als Mitarbeiter auf dem­selben weiten Feld und daß das große Ziel, das vor dem Herzen des Meisters steht, nur dann erreicht werden kann, wenn jeder Arbeiter sein spezielles Werk tut, und zwar in glücklicher Gemeinschaft mit allen anderen.

 

Kehren wir jetzt zu den Söhnen Aarons zurück, und betrachten wir die reiche Vorsorge, die Gott in Seiner Güte für sie traf, und die feier­lichen Aufgaben, die ihnen in ihrer priesterlichen Stellung zugedacht waren.

 

"Und der HERR redete zu Aaron: Und ich, siehe, ich habe dir die Hut meiner Hebopfer gegeben; von allen heiligen Dingen der Kinder Israel habe ich sie dir und deinen Söhnen gegeben, als Salbungsteil, als eine ewige Gebühr. Dies soll dir gehören von dem Hochheiligen, das nicht verbrannt wird: alle ihre Opfergaben nach allen ihren Speisopfern und nach allen ihren Sündopfern und nach allen ihren Schuldopfern, die sie mir darbringen, als ein Hochheiliges soll es dir und deinen Söhnen gehören. An hochheiligem Orte sollst du es essen, alles Männliche soll es essen; es soll dir heilig sein" (V. 8‑10).

 

Hier sehen wir das Volk Gottes von einer anderen Seite. Wir sehen es hier nicht als Arbeiter, sondern als Anbeter; nicht als Leviten, sondern als Priester. Alle Gläubigen, alle Christen, alle Kinder Gottes sind Priester. Wir haben einen großen Hohenpriester, der durch die Himmel gegangen ist; wenn Er auf Erden wäre, so wäre Er nicht einmal Priester (vgl. Hebr. 4, 14 und 8, 4). "Unser Herr ist aus Juda entsprossen, zu welchem Stamme Moses nichts in bezug auf Priester geredet hat" (Hebr. 7, 14). Folglich bedeutet ein Priester, der auf der Erde opfert, eine Leugnung dessen, was die Schrift sagt, und ein vollständiges Igno­rieren der herrlichen Tatsache, auf die das Christentum gegründet ist: die vollbrachte Erlösung. Wenn heute noch ein Priester nötig ist, um für Sünden zu opfern, dann ist ganz gewiß die Erlösung keine vollendete Tatsache. Doch die Schrift erklärt an vielen Stellen, daß sie vollbracht ist, und darum brauchen wir kein Opfer mehr für die Sünde. "Christus aber, gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter in Verbin­dung mit der größeren und vollkommeneren Hütte, die nicht mit Hän­den gemacht (das heißt nicht von dieser Schöpfung ist), auch nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte" (Hebr. 9, 11. 12). So lesen wir auch in Kap. 10: "Durch ein Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die ge­heiligt werden", und: "Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde ich nie mehr gedenken. Wo aber eine Vergebung derselben ist, da ist nicht mehr ein Opfer für die Sünde" (V. 14, 17, 18).

 

Diese Stellen lösen die wichtige Frage hinsichtlich des Priestertums und des Opfers für die Sünde. Es ist eine Wahrheit, die zur Grundlage des Christentums gehört und die ernste Beachtung von allen verdient, die die wahre christliche Stellung einzunehmen wünschen. Um mit Frei­mütigkeit in das Allerheiligste eintreten zu können, müssen wir wissen, was das Blut Christi für uns getan hat. Wir müssen wissen, daß wir zu Priestern Gottes gemacht und kraft des Versöhnungstodes Christi Gott völlig nahegebracht worden sind. "Dem, der uns liebt und uns von unseren Sünden gewaschen hat in seinem Blute und uns gemacht hat zu einem Königtum, zu Priestern seinem Gott und Vater. . . " (Offb. 1, 5. 6). " ... seid auch ihr selbst als lebendige Steine aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geistliche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum. . . . Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, eine heilige Nation, ein Volk zum Besitztum, damit ihr die Tugenden dessen verkündigt, der euch berufen hat aus der Finsternis zu seinem wunder­baren Licht" (i. Petr. 2, 5. 9). "Durch ihn nun laßt uns Gott stets ein Opfer des Lobes darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen. Des Wohltuns aber und Mitteilens vergesset nicht, denn an solchen Opfern hat Gott Wohlgefallen" (Hebr. 13, 15. 16).

 

Das sind die beiden Zweige des geistlichen Priestertums: das Lob Gottes und das Wohltun an den Menschen. Der jüngste und unerfah­renste Christ kann diese Dinge verstehen. Wer in der ganzen Familie Gottes, in dem priesterlichen Hause unseres göttlichen Hohenpriesters könnte nicht von Herzen sagen: "Der Herr sei gepriesen!"? Und wer könnte nicht dem Nächsten Gutes tun? Dies ist der allen Christen gemeinsame Gottesdienst und Dienst. Wohl mag die geistliche Kraft verschieden groß sein, aber alle Kinder Gottes sind göttlich geweihte Priester, und zwar der eine nicht weniger als der andere.

 

Das 18. Kapitel gibt uns eine Darstellung des Teils, das für Aaron und sein Haus bestimmt war. Wir finden darin ein Bild von den geistlichen Rechten des christlichen Priestertums. Wir können diesen Bericht nicht lesen, ohne zu sehen, welch ein königliches Teil wir besitzen. "Alle ihre Opfergaben nach allen ihren Speisopfern und nach allen ihren Sünd­opfern und nach allen ihren Schuldopfern, die sie mir darbringen, als ein Hochheiliges soll es dir und deinen Söhnen gehören. Als Hoch­heiliges [oder: an hochheiligem Orte] sollst du es essen, alles Männ­liche soll es essen; es soll dir heilig sein."

 

Das Sündopfer oder das Schuldopfer essen bedeutet sinnbildlich, die Sünde oder die Schuld eines anderen zu der eigenen machen. Das ist ein heiliges Werk. Nicht jeder vermag sich im Geist mit der Sünde seines Bruders einszumachen. Dies in einer sühnenden Weise zu tun, ist für uns selbstverständlich ganz und gar unmöglich. Das konnte nur ein Einziger tun, und Er hat es vollkommen getan, Sein Name sei ewig dafür gepriesen! Doch etwas ist möglich: ich kann die Sünde meines Bruders auf mich nehmen und sie im Geist vor Gott bringen, als wäre sie meine eigene Sünde. Das wird dadurch versinnbildlicht, daß die Söhne Aarons das Sündopfer an heiligem Orte aßen. Nur die Söhne taten es: "alles Männliche soll es essen". Es war der erhabenste Teil des priesterlichen Dienstes. "Als Hochheiliges [oder: an hochheiligem Orte] sollst du es essen." Wir müssen Christus sehr nahe sein, wenn wir die geistliche Bedeutung und Anwendung dieser Dinge verstehen wollen. Es ist eine wunderbar gesegnete und heilige Übung, die nur in der Gegenwart Gottes erfahren werden kann. Wie wenig wir wirk­lich davon verstehen, kann unser Herz bezeugen. Unsere Neigung geht dahin, über einen Bruder, der gesündigt hat, zu Gericht zu sitzen, den Platz eines strengen Beurteilers einzunehmen, seine Sünde als etwas zu betrachten, was uns gar nichts angeht. Indern wir So handeln, versagen wir auf traurige Weise in unserer priesterlichen Aufgabe. Wir weigern uns, das Sündopfer an heiligem Ort zu essen. Es ist eine sehr Wertvolle Frucht der Gnade, wenn wir uns mit einem verirrten Bruder So einsmachen können, daß wir seine Sünde betrachten, als hätten wir sie getan, und daß wir sie im Geist vor Gott bringen. Das ist wirklich eine erhabene Art des priesterlichen Dienstes, und sie erfordert sehr viel von dem Geist und der Gesinnung Christi. Nur ein geistlicher Christ kann in diese Dinge wirklich eindringen. Aber wie wenige von uns sind wahrhaft geistlich! Brüder! wenn auch ein Mensch von einem Fehltritt übereilt würde, so bringet ihr, die Geistlichen, einen solchen wieder zurecht im Geiste der Sanftmut, indem du auf dich selbst siehst, daß nicht auch du versucht werdest. Einer trage des anderen Lasten, und also erfüllet das Gesetz des Christus" (Gal. 6, 1. 2). möchte der Herr uns Gnade geben, dieses gesegnete "Gesetz" zu erfüllen! Wie ver­urteilt es unsere Härte und Selbstsucht! Wie sollten wir doch hierin, wie auch in allen anderem, Christus mehr gleich sein!

 

Es gab jedoch noch eine andere Art priesterlichen Vorrechts. Sie war nicht so erhaben wie die soeben betrachtete. "Und dies soll dir gehören­ die Hebopfer ihrer Gaben, nach allen Webopfern der Kinder Israel; dir und deinen Söhnen und deinen Töchtern mit dir habe ich sie gegeben als eine ewige Gebühr; jeder Reine in deinem Hause soll es essen" (V. 11).

 

Die Töchter Aarons durften nicht von dem Sündopfer und dem Schuld­opfer essen. Sie wurden nach dem größtmöglichen Maß ihrer Fähigkeit versorgt. Aber es gab gewisse Dinge, die sie nicht tun konnten, gewisse Vorrechte, die außerhalb ihres Bereichs lagen, und gewisse Verantwort­lichkeiten, die für sie zu schwer waren. Es ist viel leichter, mit einem anderen in der Darbringung eines Dankopfers Gemeinschaft zu haben, als seine Sünde zu unserer eigenen zu machen. Das letztere verlangt ein Mag von priesterlicher Kraft, das sein Gegenbild in den "Söhnen" Aarons und nicht in seinen "Töchtern" findet. Dürfen wir uns über diesen Unterschied wundern? Durchaus nicht. Wir alle stehen als Gläu­bige auf demselben Boden, haben dieselben Anrechte, sind in dasselbe Verhältnis zu Gott gebracht, aber unsere Fähigkeiten sind verschieden. Und obwohl wir alle nach der höchsten Stufe priesterlichen Dienstes und nach dem höchsten Maß priesterlicher Fähigkeit streben sollen, so ist es doch nutzlos, wenn wir uns etwas anmaßen, was wir nicht besitzen.

 

Eins wird uns jedoch klar vor Augen gestellt: wir müssen "rein" sein, um ein priesterliches Vorrecht genießen oder eine priesterliche Speise essen zu können, rein durch das auf unser Gewissen angewandte Blut Christi und rein durch das Wort, das der Heilige Geist auf unsere Gewohnheiten, Verbindungen und Wege anwendet. Wenn wir rein sind, so ist durch die kostbare Gnade Gottes reichste Vorsorge für unsere Seele getroffen, ganz gleich, ob unsere Fähigkeiten klein oder groß sind. Hören wir die folgenden Worte: Alles Beste vom Öl und alles Beste vorn Most und Getreide, ihre Erstlinge, die sie dem HERRN geben, dir habe ich sie gegeben. Die ersten Früchte von allem, was in ihrem Lande wächst, die sie dem HERRN bringen, sollen dir gehören; jeder Reine in deinem Hause soll davon essen" (V. 12. 13).

 

Hier wird wirklich ein fürstliches Teil für alle bestimmt, die zu Prie­stern Gottes gemacht sind. Sie sollten das Allerbeste haben, das Erste von allem, was das Land des Herrn hervorbrachte. Da war Wein, der des Menschen Herz erfreut, Öl, das das Angesicht glänzend macht, und Brot, das des Menschen Herz stärkt (Vgl. Ps. 104, 15).

 

Welch ein Bild von unserem Teil in Christus! Die Olive und die Traube wurden gepreßt, das Weizenkorn wurde gemahlen, um die Prie­ster Gottes zu speisen und zu erfreuen. So ist das Gegenbild all dieser Dinge im Tod zerschlagen und zermalmt worden, damit es durch Sein Fleisch und Blut Seinem Hause Leben, Kraft und Freude darreichen könnte. Er, das kostbare Weizenkorn, fiel in die Erde und starb, damit wir leben möchten. Und der Saft des lebendigen Weinstocks wurde ausgepreßt, um den Kelch des Heils zu füllen, den wir jetzt trinken und den wir in der Gegenwart unseres Gottes allezeit trinken werden.

 

Was brauchen wir nun noch außer einer größeren Fähigkeit, die Fülle und das Glück unseres Teils in einem gekreuzigten, auferstandenen und verherrlichten Heiland zu genießen? Frohen Herzens dürfen wir sagen: "Wir haben alles und haben Oberfluß." Gott hat uns alles ge­geben, was Er uns je geben konnte, ja, das Beste, das Er hatte. Er hat uns Sein eigenes Teil gegeben. Er hat uns berufen, uns mit Ihm in hei­liger, glücklicher Gemeinschaft niederzusetzen und von dem gemästeten Kalb zu genießen (vgl. Luk. 15). Er hat unsere Ohren geöffnet, um zu hören, und unsere Herzen zubereitet, um, wenn auch in schwachem Maß, diese wunderbaren Worte zu verstehen: Laßt uns essen und fröhlich sein!"

 

Wie wunderbar ist die Gnade, daß nichts weniger das Herz Gottes zufriedenstellen konnte als dies: Sein Volk um sich versammelt zu Sehen und es zu nähren mit dem, woran Er selbst Seine Wonne findet!

 

"Unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und mit seinem Sohne Jesus Christus" (l. Joh. 1, 3). Was hätte die Liebe Gottes mehr für uns tun können? Und für wen hat sie es getan? Für solche, die tot waren in Vergehungen und Sünden, für Fremde und Feinde, für schuldige Empö­rer, für solche, die fern von Ihm waren, die keine Hoffnung hatten und ohne Gott in der Welt waren, für Abtrünnige, die die ewigen Flammen der Hölle verdient hatten! Was für eine wunderbare Gnade! Welche Tiefen unergründlichen Erbarmens! Und wir können wohl hinzufügen: was für ein kostbares Versöhnungsopfer, das über arme, schuldige, ver­dammungswürdige Sünder einen unbeschreiblichen Segen bringt ‑ das uns als Brandscheite aus dem ewigen Feuer reißt und uns Gott zu Prie­stern macht ‑ das alle unsere "unflätigen Kleider" wegnimmt, uns reinigt, kleidet und krönt in Seiner Gegenwart und zu Seiner Verherr­lichung! Möchten wir Ihn allezeit loben! Möchten unser Herz und unser Leben Ihn preisen! Möchten wir mehr lernen, unseren Platz und unser Teil als Priester zu genießen! Wir können nichts Besseres tun, als Gott loben, Ihm nichts Höheres darbringen, als "durch Jesus Christus die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen" (vgl. Hebr. ‑13). Das wird unsere ewige Beschäftigung dort sein, wohin wir gehen und wo wir bald anlangen werden, um für immer bei Ihm zu sein, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat.

 

Die Verse 14‑19 enthalten Belehrungen über den Erstgeborenen vom Menschen und vom Vieh". Beachten wir, daß der Mensch mit dem unreinen Tier auf eine Ebene gestellt wird! Beide mußten gelöst wer­den. Das unreine Tier war für Gott ebenso unpassend wie der Mensch, es sei denn, daß er durch Blut gelöst wurde. Das reine Tier brauchte nicht gelöst zu werden. Es war für Gott brauchbar und wurde der ganzen priesterlichen Familie, den Söhnen und den Töchtern, zur Speise gegeben. Wir sehen in ihm ein Bild von Christus, an dem Gott Sein ganzes Wohlgefallen, die völlige Freude Seines Herzens findet. Er ist im ganzen Universum der einzige Gegenstand, in dem Gott vollkommene Ruhe und Befriedigung finden konnte. Und Ihn hat er uns gegeben, uns, Seinem priesterlichen Haus, damit Er auf ewig unsere Speise, unser Licht, unsere Freude, unser Alles sei.*)

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*) Hinsichtlich weiterer Einzelheiten Über das in 4. Mose 18, 14‑19 behan­delte Thema sei auf die "Gedanken zum 2. Buch Mose", Kap. 13, verwiesen*

 

In diesem Kapitel wie auch an anderen Stellen fällt auf, daß jedes neue Thema mit den Worten eingeleitet wird: "Und der HERR sprach zu N4ose'/, oder: "zu Aaron." So lehren uns die Verse 20‑32, daß die Prie­ster und die Leviten, die Anbeter und die Arbeiter Gottes, unter den Kindern Israel kein Erbteil hatten, sondern bezüglich ihres Unterhalts einzig und allein von Gott selbst abhängig sein sollten. Das ist eine segensreiche Stellung! Die Kinder Israel sollten ihre Opfergabe dar­bringen und sie zu den Füßen des HERRN niederlegen, und Er befahl in Seiner unendlichen Gnade Seinen Arbeitern, diese Opfer, die Früchte der Ergebenheit Seines Volkes, zu sammeln und sich davon in Seiner Gegenwart mit dankbarem Herzen zu nähren. So wurde der Kreis der Segnung vollständig. Gott sorgte für alle Bedürfnisse Seines Volkes. Das Volk hatte das Vorrecht, die reichen Früchte Seiner Güte mit den Priestern und Leviten zu teilen, und diese hatten das schöne Recht, Gott von dem Guten zurückzugeben, das Er über sie ausgegossen hatte.

 

Alles das ist ein treffendes Bild von dem, was wir heute in der Kirche Gottes verwirklicht sehen sollen. Wie wir erkannt haben, wird das Volk Gottes in diesem Buch von drei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet: als Krieger, als Arbeiter und als Anbeter. In allen drei Stellungen befand es sich in vollständiger Abhängigkeit von dem leben­digen Gott. Genauso ist es heute mit uns. In unserem Kampf, in unse­rer Arbeit und in unserem Gottesdienst sind wir von Gott abhängig, alle unsere Quellen sind in Ihm. Wunderbare Tatsache! Was benötigen wir noch? Sollten wir uns an Menschen oder an diese Welt wenden, um bei ihnen Unterstützung oder in ihr eine Hilfsquelle zu finden? Nein, laßt uns vielmehr danach streben' in unserem ganzen Leben und in allem, was wir tun, zu beweisen, daß Gott unseren Herzen genügt und daß Er für Zeit und Ewigkeit für alles, was wir brauchen, Vor­sorge getroffen hat!

 

Kapitel 19

 

DAS OPFER DER ROTEN KUH

 

Wir haben jetzt einen der wichtigsten Abschnitte des 4. Buches Mose vor uns. Er enthält die interessante und lehrreiche Verordnung über die "rote Kuh". Warum treffen wir dieses Bild im 4. und nicht im 3. Buche Mose an? In den sieben ersten Kapiteln des 3. Buches findet sich eine sehr genaue Darstellung der Lehre vom Opfer, und dennoch wird dort die "rote Kuh" nicht erwähnt. Warum? Ich meine, diese Tatsache ist ein neuer Beweis dafür, daß das 4. Buch Mose einen bestimmten, nur ihm eigenen Charakter hat. Die rote Kuh ist ein Bild, das besonders zur Wüste paßt. Sie war die Vorsorge Gottes für den Fall einer Verun­reinigung während des Weges und sie zeigt uns, wie der Tod Christi allem begegnet, was wir auf dem Weg durch eine verdorbene Welt hin zu unserer ewigen und himmlischen Ruhe brauchen.

 

"Und der HERR redete zu Mose und zu Aaron und sprach: Dies ist die Satzung des Gesetzes, das der HERR geboten hat, indem er sprach: Rede zu den Kindern Israel, daß sie dir eine rote junge Kuh bringen, ohne Fehl, an der kein Gebrechen, auf welche kein Joch gekommen ist 10 (V. 1. 2).

 

Wenn wir den Herrn Jesus im Glauben betrachten, so sehen wir in Ihm nicht nur den, der in Seiner heiligen Person ohne Fehl und Flecken war, sondern auch den einzigen Menschen, der das Joch der Sünde nie­mals trug. Der Heilige Geist ist der eifersüchtige Hüter der Ehre Christi, und Er hat Seine Freude daran, Ihn uns in Seinem unschätzbaren Wort vorzustellen. Daher kommt es, daß alle Bilder und Schatten, die auf Ihn Bezug haben, uns so besonders sorgfältig dargestellt werden. Bei der roten Kuh lernen wir, daß unser Heiland nicht nur im Blick auf Seine menschliche Natur innerlich und wesenhaft rein und fleckenlos war, sondern daß Er auch bezüglich Seiner Geburt und Seines Lebens voll­kommen rein von jeder Spur und jedem Schein der Sünde war. Niemals kam das Joch der Sünde auf Ihn. Wenn Er von "Seinem Joch" spricht (Matth. 11, 29), so war dies das Joch der unbedingten Unterwerfung unter den Willen des Vaters in allen Dingen. Das war das einzige Joch, das Er je trug, und dieses Joch trug Er immer. Das gilt für seinen gan­zen Weg von der Krippe, in der Er als ein kleines, schwaches Kind lag, bis zum Kreuz, wo Er als das Opfer Seinen Geist übergab.

 

Er ging ans Kreuz, um unsere Sünden zu sühnen und um den Grund zu unserer vollkommenen Reinigung von aller Sünde zu legen; aber Er tat es als Einer, der während Seines Lebens niemals das Joch der Sünde getragen hatte. Er war "ohne Sünde", und als solcher war Er vollkom­men fähig, das große und herrliche Werk der Versöhnung zu voll­bringen. " . ‑ . an der kein Gebrechen ist, und auf welche kein Joch ge­kommen ist." Denken wir über die Bedeutung der Worte "an" und "auf" nach! Beide Ausdrücke werden von dem Heiligen Geist gebraucht, um die Vollkommenheit unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus zu zeigen, der nicht nur innerlich fleckenlos, sondern auch äußerlich von jeder Spur der Sünde frei war. Weder in Seiner Person noch in allem, was Er tat, war Er irgendwie den Anforderungen der Sünde und des Todes unterworfen. Er kam in die volle Wirklichkeit unserer Um­stände und unseres Zustandes; aber in Ihm war keine Sünde und auf Ihm kein Joch der Sünde.

 

"Und ihr sollt sie Eleasar, dem Priester, geben, und er soll sie vor das Lager hinausführen, und man soll sie vor ihm schlachten" (V. 3). Prie­ster und Opfer bilden ein zweifaches Bild der Person Christi. Er war der Priester und das Opfer zugleich. Aber Er begann Seinen priester­lichen Dienst nicht, solange Sein Werk als Opfer nicht vollendet war. Das erklärt den Ausdruck am Ende des dritten Verses: "man soll sie vor Ihm schlachten". Der Tod Christi vollzog sich auf der Erde und konnte daher nicht als eine Handlung des Priestertums dargestellt wer­den. Nicht die Erde, sondern der Himmel ist das Gebiet Seines priester­lichen Dienstes. Im Hebräerbrief erklärt der Schreiber als das Ergebnis einer genauen Erörterung über diese Frage ausdrücklich: "Die Summe dessen aber, was wir sagen, ist: Wir haben einen solchen Hohenprie­ster, der sich gesetzt hat zur Rechten des Thrones der Majestät in den Himmeln, ein Diener des Heiligtums und der wahrhaftigen Hütte, welche der Herr errichtet hat, nicht der Mensch. Denn jeder Hoheprie­ster wird bestellt, um sowohl Gaben als auch Schlachtopfer darzu­bringen; daher ist es notwendig, daß auch dieser etwas habe, das er darbringe. Wenn er nun auf Erden wäre, so wäre er nicht einmal Priester, weil solche da sind, die nach dem Gesetz die Gaben dar­bringen" (Hebr. 8, ‑1‑4). "Christus aber, gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren und vollkom­meneren Hütte, die nicht mit Händen gemacht, (das heißt nicht von dieser Schöpfung ist) auch nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte". "Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu erscheinen" (Kap. 9, 11. 12. 24). "Er aber, nachdem er ein Schlachtopfer für Sünden dargebracht, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes" (Kap. 10, 12).

 

in allen diesen Stellen sehen wir, wenn wir sie in Verbindung mit 4. Mose 19, 3 bringen, zwei Dinge: nämlich daß der Tod Christi nicht als die eigentliche, übliche Handlung des priesterlichen Dienstes dar­gestellt wird und daß der Himmel, nicht die Erde, das Gebiet Seines priesterlichen Dienstes ist. Es ist interessant, eine Wahrheit, die im Neuen Testament klar bezeugt wird, in eine Verordnung des Alten Bundes gekleidet zu finden. Der einsichtige Leser des Wortes freut sich immer über solche Entdeckungen. Ohne Zweifel ist die Wahrheit immer dieselbe, wo man sie auch finden mag; aber wenn sie uns mit hellem Licht in den neutestamentlichen Schriften entgegentritt und anderseits schon im Alten Testament göttlich vorgebildet ist, so wird uns damit nicht nur die Wahrheit selbst bestätigt, sondern auch die Einheit des Buches gezeigt und bewiesen.

 

jedoch dürfen wir den Platz nicht unbeachtet lassen, an dem das Opfer­tier geschlachtet wurde: "Er soll sie vor das Lager hinausführen.‑ Wie bereits bemerkt wurde, sind die Priester und das Opfer zusammen ein Bild von Christus; aber es wird hinzugefügt: "und man soll sie vor ihm schlachten", weil der Tod Christi nicht als eine Handlung des Priestertums dargestellt werden konnte. Welch eine wunderbare Ge­nauigkeit! Hieße es: "Er soll sie schlachten", dann wäre 4. Mose 19 nicht in Übereinstimmung mit dem Hebräerbrief. Aber nein, die Har­monie der einzelnen Bücher der Heiligen Schrift strahlt überall hervor.

 

Möchten wir die Gnade erfahren, daß wir diese Harmonie erkennen und schätzen!

 

Wenn wir jetzt das große Gegenbild der "roten Kuh" betrachten, so sehen wir, daß Jesus in der Tat außerhalb des Tores gelitten hat. "Darum hat auch Jesus, auf daß er durch sein eigenes Blut das Volk heiligte, außerhalb des Tores gelitten" (Hebr. 13, 12). Er nahm den Platz außerhalb des Lagers, und von dort dringt Seine Stimme zu uns. Hören und verstehen wir sie? Sollten wir nicht mit mehr Ernst den Platz betrachten, wo Jesus starb? Sollten wir uns damit begnügen, die Wohltaten Seines Todes anzunehmen, ohne danach zu streben, Seine Verwerfung zu teilen? "Deshalb laßt uns zu ihm hinausgehen, außer­halb des Lagers, seine Schmach tragend" (V. 13).*) Es liegt eine un­endlich weite Bedeutung in diesen Worten. Sie sollten unser ganzes Sein aufwecken und uns anspornen, mehr als bisher die Gemeinschaft mit einem verworfenen Heiland zu suchen. Sollten wir Ihn außerhalb des Lagers sterben sehen, und ruhig im Lager bleiben, während wir die Wohltaten Seines Todes ernten? Sollten wir in dieser Welt, von der unser Herr und Meister verworfen worden ist, eine Heimat, einen Platz, einen Namen suchen? Sollten wir da nach Ehre, Reichtum und angesehener Stellung streben, wo unser Meister nur eine Krippe und ein Kreuz fand? Möchten wir durch die Gnade Gottes eine bereit­willigere Antwort auf den Ruf des Geistes geben: "Gehet hinaus!“

 

Vergessen wir nie, daß der Tod Christi zwei Tatsachen einschließt: den Tod eines Opfers und den Tod eines Märtyrers ‑ eines Opfers für die Sünde unter der Hand Gottes und eines Märtyrers für die Gerechtig­keit unter der Hand des Menschen. Er litt für die Sünde, damit wir nie mehr leiden sollten. Sein Name sei ewig dafür gelobt! An den sühnenden Leiden können wir selbstverständlich nie teilnehmen. Aber von Seinen Leiden als Märtyrer, von Seinen Leiden um der Gerechtig­keit willen unter der Hand des Menschen dürfen wir etwas verstehen. "Denn euch ist es in bezug auf Christum geschenkt worden, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden" (Phil. 1, 29). Es ist ein ausdrückliches Geschenk, um Christi willen leiden zu dürfen. Sehen wir es als ein Geschenk an?

 

Das Wort "Lager" in dieser Stelle bezieht sich zunächst auf das Judentum, aber im weiteren Sinne ist es auf jedes religiöse System anwendbar, das von Menschen aufgestellt und von dem Geist und den Grundsätzen dieser gegenwärtigen bösen Welt regiert wird.

 

Wenn wir den Tod Christi so betrachten, wie er uns in der Verordnung von der roten Kuh dargestellt ist, so sehen wir nicht nur, daß die Sünde vollkommen weggetan, sondern auch, daß die Welt gerichtet ist. " . . . der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen un­seres Gottes und Vaters" (Gal. 1, 4). Hier werden die beiden Dinge von Gott zusammengestellt, und nie sollen wir sie trennen. Wir finden hier das Gericht über die Sünde in ihrer Wurzel und in ihren Auswirkungen und darüber hinaus das Gericht über diese Welt. Das erste gibt dem Gewissen vollkommene Ruhe; das letztere befreit uns von den bestrik­kenden Einflüssen der Welt in ihren vielfältigen Formen. Das eine rei­nigt das Gewissen von jedem Gefühl der Schuld, und das andere zer­schneidet das Band, das uns an die Welt bindet.

 

Man begegnet oft ernsten Menschen, die unter der überzeugenden und erweckenden Kraft des Heiligen Geistes stehen, die aber noch keine Ruhe für ihr geängstigtes Gewissen gefunden haben, weil sie den Wert des Versöhnungstodes Christi noch nicht erkannt haben ‑ jenes Todes, der alle ihre Sünden für immer weggetan und sie Gott nahe gebracht hat, ohne einen Flecken in ihrer Seele oder einen Stachel in ihrem Gewissen zurückzulassen. Wenn jemand in dieser Lage sein sollte, so möge er den ersten Teil des soeben angeführten Verses betrachten: 11 ... der sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat. . . " Das ist ein segensreiches Wort für eine angstvolle Seele. Es löst die ganze Frage der Sünde. Wenn es wahr ist, daß Christus sich selbst für meine Sün­den hingegeben hat, was bleibt dann anders für mich übrig, als mich an der herrlichen Tatsache zu erfreuen, daß alle meine Sünden vernich­tet sind? Derjenige, der meinen Platz einnahm, der sich mit meinen Sünden belud, der für mich und an meiner Statt litt, sitzt jetzt zur Rechten Gottes, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt. Das ist genug. Alle meine Sünden sind für immer beseitigt. Wenn es nicht so wäre, könnte Christus nicht da sein, wo Er jetzt ist. Seine Krönung mit Herrlichkeit und Ehre ist der Beweis, daß meine Sünden vollkommen getilgt sind, und deshalb ist ein vollkommener Friede mein Teil ‑ ein Friede, der 50 vollkommen ist, wie nur das Werk Christi ihn machen konnte.

 

Aber dann laßt uns auch nie vergessen, daß dasselbe Werk, das unsere Sünden für immer hinweggetan hat, uns auch von der gegenwärtigen bösen Welt trennt. Diese beiden Dinge gehören zusammen. Christus hat mich nicht nur von den Folgen meiner Sünde befreit, sondern auch von der gegenwärtigen Macht der Sünde und von den Ansprüchen und Einflüssen des Systems, das von der Schrift "die Welt" genannt wird. Alles dieses wird jedoch noch klarer hervortreten, wenn wir die Be­trachtung unseres Kapitels fortsetzen.

 

"Und Eleasar, der Priester, nehme von ihrem Blute mit seinem Finger und sprenge von ihrem Blute siebenmal gegen die Vorderseite des Zeltes der Zusammenkunft hin" (V. 4). Hier offenbart sich die uner­schütterliche Grundlage aller wahren Reinigung. Wir wissen, daß es in diesem Bild nur um eine "Heiligung zur Reinigkeit des Fleisches" geht (Hebr. 9, 13). Aber wir müssen über das Bild hinweg auf das Gegenbild sehen, über den Schatten hinweg auf das Wesen. In dem siebenmaligen Sprengen des Blutes der roten Kuh gegen das Zelt der Zusammenkunft hin erkennen wir ein Bild von der vollkommenen Darbringung des Blutes Christi vor Gott als der einzigen Grundlage, auf der Gott und das Gewissen einander begegnen können. Die Zahl sieben ist, wie oft bemerkt wurde, der Ausdruck der Vollkommenheit, und so sehen wir in dem Bild, das wir betrachten, die Vollkommenheit des Todes Christi als Sühnung für die Sünde, so wie er von Gott angenommen worden ist. Alles ruht auf dieser göttlichen Grundlage. Das Blut ist vergossen und einem heiligen Gott als eine vollkommene Sühnung für die Sünde dargebracht worden. Wer das ganz einfach durch den Glauben an­nimmt, dessen Gewissen ist von jedem Gefühl der Schuld und von jeder Furcht vor der Verdammnis befreit. Es besteht vor Gott nichts als die Vollkommenheit des Versöhnungswerkes Christi. Die Sünde ist gerich­tet und weggetan worden. Sie ist durch das kostbare Blut Christi voll­kommen getilgt. Das zu glauben heißt, vollkommene Ruhe des Gewis­sens zu erfahren.

 

Zu beachten ist, daß in diesem Kapitel von nun an kein Sprengen des Blutes mehr erwähnt wird. Das steht in völliger Übereinstimmung mit der Lehre von Hebr. 9 und 10. Da das Opfer Christi vollkommen ist, ist keine Wiederholung nötig. Seine Wirkung ist göttlich und ewig. ,' Christus aber, gekommen als Hoherpriester der zukünftigen Güter, in Verbindung mit der größeren und vollkommeneren Hütte, die nicht Mit Händen gemacht (das heißt nicht von dieser Schöpfung ist), auch nicht mit Blut von Böcken und Kälbern, sondern mit seinem eigenen Blute, ist ein für allemal in das Heiligtum eingegangen, als er eine ewige Erlösung erfunden hatte. Denn wenn das Blut von Böcken und Stieren und die Asche einer jungen Kuh, auf die Unreinen gesprengt, zur Reinigkeit des Fleisches heiligt, wieviel mehr wird das Blut des Christus, der durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott ge­opfert hat, euer Gewissen reinigen von toten Werken, um dem leben­digen Gott zu dienen" (Hebr. 9, 11‑14). Beachten wir die Worte: "ein für allemal" und "ewig"! Wie zeigen sie die göttliche Vollkommenheit und die göttliche Wirkung des Opfers Christi! Das Blut wurde ein für allemal und für ewig vergossen. An eine Wiederholung dieses großen Werkes zu denken, hieße seinen ewigen und allgenugsamen Wert leugnen und es mit dem Blut der Stiere und Böcke auf eine Stufe stellen.

 

Weiter lesen wir: "Es war nun nötig, daß die Abbilder der Dinge in den Himmeln hierdurch gereinigt wurden, die himmlischen Dinge selbst aber durch bessere Schlachtopfer als diese. Denn der Christus ist nicht eingegangen in das mit Händen gemachte Heiligtum, ein Gegenbild des wahrhaftigen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor dem Angesicht Gottes für uns zu erscheinen; auch nicht, auf daß er sich selbst oftmals opferte, wie der Hohepriester alljährlich in das Heiligtum hineingeht mit fremdem Blut; sonst hätte er oftmals leiden müssen von Grundlegung der Welt an; jetzt aber ist er einmal in der Voll­endung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch sein Opfer" (V. 23‑26). Die Sünde ist also weggetan worden. Dann kann sie aber nicht zugleich auf dem Gewissen des Gläubigen sein. Entweder müssen die Sünden des Gläubigen ausgelöscht und es muß sein Gewissen vollkommen gereinigt sein, oder aber Christus muß noch einmal sterben. Darum fährt der Apostel auch fort: "Und ebenso wie es den Menschen gesetzt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht, also wird auch der Christus, nachdem er einmal geopfert wor­den ist, um vieler Sünden zu tragen, zum zweiten Male denen, die ihn erwarten, ohne Sünde erscheinen zur Seligkeit" (V. 27. 28).

 

Es ist etwas Wunderbares um die sorgfältige Geduld, mit der der ei­lige Geist dieses ganze Thema erörtert. Er entwickelt, erklärt und bekräftigt die Lehre von der Vollkommenheit des Opfers in einer Weise, die die Seele überzeugt und das Gewissen von seiner schweren Last befreit. So groß ist die Gnade Gottes, daß Er nicht allein das Werk der ewigen Erlösung für uns vollbracht hat, sondern daß Er auch die ganze Sache uns so geduldig und ausführlich darlegt, daß für einen Einwand kein Raum mehr bleibt. Hören wir Seine eindrucksvollen Beweisfüh­rungen!

 

Denn da das Gesetz einen Schatten der zukünftigen Güter, nicht der Dinge Ebenbild selbst hat, so kann es nimmer mit denselben Schlacht­opfern, welche sie alljährlich ununterbrochen darbringen, die Hinzu­nahenden vollkommen machen. Denn würde sonst nicht ihre Dar­bringung aufgehört haben, weil die den Gottesdienst Übenden, einmal gereinigt, kein Gewissen mehr von Sünden gehabt hätten? Aber in jenen Opfern ist alljährlich ein Erinnern an die Sünden; denn unmög­lich kann Blut von Stieren und Böcken Sünden hinwegnehmen" (Hebr. 10, 1‑4). Aber was das Stierblut nie tun konnte, das hat das Blut Jesu für immer getan. All das Blut, das um die Altäre Israels geflossen war, die Millionen von Opfern, die nach den Forderungen des mosaischen Gesetzes dargebracht worden waren ‑ alles das konnte nicht einen einzigen Flecken von dem Gewissen tilgen. Es konnte auch nicht für einen die Sünde hassenden Gott die Grundlage sein, auf der Er Sünder annehmen konnte. "Darum, als er in die Welt kommt, spricht er­ "Schlachtopfer und Speisopfer hast du nicht gewollt, einen Leib aber hast du mir bereitet; an Brandopfern und Opfern für die Sünde hast du kein Wohlgefallen gefunden. Da sprach ich: Siehe, ich komme (in der Rolle des Buches steht von mir geschrieben), um deinen Willen, o Gott, zu tun" . . . Durch welchen Willen wir geheiligt sind durch das ein für allemal geschehene Opfer des Leibes Jesu Christi" (V. 4‑10).

 

Beachten wir den Gegensatz: Gott hat kein Gefallen an der endlosen Reihe von Opfern, die unter dem Gesetz dargebracht wurden. Sie er­füllten nicht, was Sein liebendes Herz für Sein Volk tun wollte. Er woll­te es von der schweren Last der Sünde befreien, es zu sich selbst brin­gen und ihm völligen Frieden des Gewissens und völlige Freiheit des Herzens geben. Das tat Jesus durch das eine Opfer Seines Leibes. Er tat den Willen Gottes, und Er braucht Sein Werk nicht zu wiederholen. Wir mögen uns weigern, die Ruhe und die heilige Freiheit des Geistes, die Sein Werk gibt, zu erfahren ‑ aber das Werk ist da in seinem un­vergänglichen Wert vor Gott, und das, was der Geist im Blick auf die­ses Werk sagt, steht klar und unbestreitbar vor uns.

 

"Und jeder Priester steht täglich da, den Dienst verrichtend und oft dieselben Schlachtopfer darbringend, welche niemals Sünden hinweg­nehmen können. Er aber, nachdem er ein Schlachtopfer für Sünden dar­gebracht, hat sich auf immerdar gesetzt zur Rechten Gottes, fortan war­tend, bis seine Feinde gelegt sind zum Schemel seiner Füße. Denn mit einem Opfer hat er auf immerdar vollkommen gemacht, die geheiligt werden" (V. 11‑14). Der Wert des Blutes Christi verleiht uns eine ewige Vollkommenheit; aber es ist diesem Blut auch ebenso angemes­sen, daß unsere Seele diese Vollkommenheit genießt. Es denke nie­mand, er ehre das Werk Christi oder das Zeugnis des Geistes über dieses Werk, wenn er die vollkommene Vergebung der Sünden nicht annehmen will, die ihm durch das Blut des Kreuzes verkündigt wird. Es ist kein Zeichen von wirklicher Frömmigkeit, wenn man das bestrei­tet, was die Gnade Gottes in Christus für uns getan hat und was der ewige Geist in der Heiligen Schrift uns vorstellt.

 

Es könnte allerdings jemand einwenden: "Ich zweifle nicht im gering­sten an der Wirksamkeit des Blutes Jesu. Ich glaube, daß es von aller Sünde reinigt. Was mich quält, ist die Unsicherheit, ob dieses Blut auch für mich da ist. Gerade das weiß ich nicht."

 

Das alles beweist nur, wie notwendig es ist, über den 4. Vers von 4. Mose 19 genau nachzudenken. Dort wird die Grundlage jeder Reini­gung gezeigt: es ist das Blut der Versöhnung, das vor Gott gebracht wurde und das von Ihm angenommen ist. Das ist eine herrliche, aber wenig verstandene Wahrheit. Es ist uns so selbstverständlich, daß wir unsere Gedanken und Gefühle über das Blut Christi wichtig nehmen, viel wichtiger als das Blut selbst und die Gedanken Gottes darüber. Wenn Gott das Blut angenommen und sich verherrlicht hat, indem Er die Sünde wegtat, was bleibt dann noch für das Gewissen übrig, als völlig in dem Werk zu ruhen, das allen Anforderungen Gottes ent­sprochen und das den Grund dafür gelegt hat, daß ein die Sünde hassender Gott und ein armer, verderbter Sünder einander begegnen können? Warum soll ich die Frage nach meinem Interesse an dem Blut Christi stellen, so, als wäre dieses Werk ohne irgend etwas von mir nicht vollständig ‑ seien es nun meine Gefühle, meine Erfahrungen, meine Wertschätzung oder irgend etwas dergleichen? Warum sollte ich nicht in Christus allein ruhen? Das wäre wirkliches Interesse an Ihm! In dem Augenblick, in dem sich das Herz mit sich selbst zu beschäftigen beginnt und nicht mehr auf Ihn sieht, den das Wort Gottes und der Heilige Geist uns vorstellen, muß Dunkelheit und Verwirrung ent­stehen, und die Seele wird durch den Blick auf ihre armseligen, unvoll­kommenen Gefühle gequält, anstatt sich an der Vollkommenheit des Werkes Christi zu freuen.

 

Nachdem ich die wertvolle Wahrheit, die uns in dem Tode der roten Kuh dargestellt ist, zu zeigen versucht habe, wollen wir jetzt ein wenig über das Verbrennen der Kuh nachdenken. Wir haben das Blut betrach­tet. Sehen wir uns jetzt die Asche an! In dem Blut sahen wir den Opfertod Christi als das einzige Reinigungselement für die Sünde. In der Asche erkennen wir das Andenken an diesen Tod. Der Geist wen­det es durch das Wort auf das Herz an, um jede Befleckung zu ent­fernen, die wir uns in unserem täglichen Wandel zuziehen. Das gibt diesem bemerkenswerten Bild Vollständigkeit und Schönheit. Gott hat nicht nur für vergangene Sünden, sondern auch für gegenwärtige Ver­unreinigung Vorsorge getroffen, so daß wir immer in dem ganzen Wert und Ansehen des vollkommenen Werkes Christi vor Ihm sein können. Er will, daß wir "völlig rein" die Höfe Seines Heiligtums, den heiligen Bereich Seiner Gegenwart betreten. Aber nicht nur Er selbst sieht uns so, sondern Er will auch, daß wir uns in unserem eigenen inneren Bewußtsein als solche betrachten. Er will uns durch Seinen Geist durch das Wort das tiefe Gefühl davon geben, daß wir vor Ihm rein sind, damit unsere Gemeinschaft mit Ihm ungestört und ungehin­dert sein kann. Wenn wir in dem Lichte wandeln, wie er in dem Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft miteinander, und das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde" (l. Joh. 1, 7).

 

Aber wenn wir darin versagen, im Licht zu wandeln ‑ wenn wir ver­gessen und in unserer Vergeßlichkeit das Unreine anrühren, wie kann dann unsere Gemeinschaft wiederhergestellt werden? Nur durch das Wegtun der Unreinigkeit. Und wie geschieht das? Dadurch, daß die kostbare Wahrheit vom Tod Christi auf unser Herz und Gewissen an­gewandt wird. Der Heilige Geist bewirkt Selbstgericht und ruft uns die Wahrheit ins Gedächtnis zurück, daß Christus für diese Verunreinigung, der wir uns so leichthin und gleichgültig schuldig gemacht haben, den Tod erlitt. Es handelt sich nicht um ein erneutes Vergießen des Blutes Christi (eine der Heiligen Schrift völlig unbekannte Sache), sondern darum, daß Sein Tod durch den Dienst des Heiligen Geistes dem reuigen Herzen neu ins Gedächtnis zurückgerufen wird.

 

"Und man soll die junge Kuh vor seinen Augen verbrennen.... Und der Priester soll Zedernholz und Ysop und Karmesin nehmen und es mitten in den Brand der Kuh werfen.... Und ein reiner Mann soll die Asche der jungen Kuh sammeln und sie außerhalb des Lagers an einen reinen Ort schütten, und sie soll für die Gemeinde der Kinder Israel aufbewahrt werden zum Wasser der Reinigung; es ist eine Entsündi­gung“ (V. 5‑9).

 

Gott will, daß Seine Kinder von aller Ungerechtigkeit gereinigt werden und daß sie getrennt von der gegenwärtigen bösen Welt, in der alles Tod und Unreinigkeit ist, ihren Weg gehen. Diese Absonderung erfolgt durch die Wirkung des Wortes Gottes auf das Herz durch die Kraft des Heiligen Geistes. "Gnade euch und Friede von Gott, dem Vater, und unserem Herrn Jesus Christus, der sich selbst für unsere Sünden hin­gegeben hat, damit er uns herausnehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters" (Gal. 1, 3. 4). Und ferner: "Indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Er­scheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus, der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns loskaufte von aller Gesetzlosigkeit und reinigte sich selbst ein Eigentumsvolk, eifrig in guten Werken" (Tit. 2, 13. 14).

 

Es ist bemerkenswert, wie der Geist Gottes die völlige Befreiung des Gewissens von jedem Gefühl der Schuld und die Befreiung des Herzens von dem moralischen Einfluß der gegenwärtigen bösen Welt immer wieder in enger Verbindung miteinander darstellt. Es sollte unsere Sorge sein, diese Verbindung unversehrt zu erhalten. Selbstverständlich können wir es nur durch die Kraft des Heiligen Geistes. Aber wir sollten mit allem Ernst danach streben, die Verbindung, die zwischen dem Tod Christi als Sühnung für die Sünde einerseits und der morali­schen Kraft der Absonderung von dieser Welt andererseits besteht, zu verstehen und praktisch zu verwirklichen. Manche Kinder Gottes kom­men nie über das erstere hinaus, wenn sie überhaupt bis dahin gelan­gen. Viele scheinen ganz zufrieden zu sein mit der Erkenntnis, daß durch das Versöhnungswerk Christi ihre Sünden vergeben sind, wäh­rend sie nicht verwirklichen, daß sie für die Welt tot sind durch den Tod Christi und in diesem Tod mit Ihm einsgemacht sind.

 

Wenn wir nun das Verbrennen der roten Kuh sehen und den geheim­nisvollen Aschehaufen betrachten ‑ was finden wir dann? Man könnte antworten: "Wir finden dort unsere Sünden." In der Tat, Gott sei Dank dafür, hier finden sich unsere Sünden, Ungerechtigkeiten und Übertretungen, unsere blutrote Schuld ‑ in Asche verwandelt. Aber ist das alles? Nein! Wir finden hier die Natur in jeder Form ihres Seins vom höchsten bis zum niedrigsten Punkt ihrer Geschichte, und außer­dem alle Herrlichkeit dieser Welt. Zeder und Ysop repräsentieren die Natur in ihren größten Extremen, und damit wird auch alles umfaßt, was dazwischen liegt. Salomo redete "über die Bäume, von der Zeder, die auf dem Libanon ist, bis zum Ysop, der an der Mauer heraus­wächst" (i. Kön. 4, 33).

 

“Karmesin" wird im allgemeinen als Bild oder Ausdruck menschlichen Glanzes, weltlicher Größe und der Herrlichkeit der Welt und des Men­schen gesehen. Das Verbrennen der roten Kuh versinnbildlicht also das Ende aller Größe der Welt und aller menschlichen Herrlichkeit und das völlige Beiseitesetzen des Fleisches mit allem, was zu ihm gehört. Das gibt dem Verbrennen der Kuh eine tiefe Bedeutung. Es zeigt uns im Bild eine Wahrheit, die zu wenig erkannt oder zu leicht vergessen wird, eine Wahrheit, die der Apostel in folgenden Worten ausdrückt: "Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt" (Gal. 6, 14).

 

Wir alle sind gern bereit, das Kreuz als die Grundlage unserer Be­freiung von allen Folgen unserer Sünden und der völligen Annahme bei Gott zu betrachten, aber gleichzeitig fällt es uns schwer, es als Grund unserer vollständigen Trennung von der Welt zu sehen. Wohl ist es, Gott sei Dank, die feste Grundlage unserer Befreiung von Schuld und Verdammnis, aber es ist mehr als das. Es hat uns für immer von allem getrennt, was zu dieser Welt gehört, durch die wir gehen. Meine Sünden sind entsprechend der Vollkommenheit des Sühnopfers Christi weggetan. Und genau das ist auch das Maß für unsere Befreiung von der gegenwärtigen bösen Welt, von ihren Formen, ihren Grund­sätzen, ihren Sitten und ihren Gewohnheiten. Der Gläubige hat gar nichts mehr mit dieser Welt gemein, sobald er die Bedeutung und Kraft des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus erfaßt. Das Kreuz hat aus ihm einen Fremdling in dieser Welt gemacht. Es hat einen dunklen Schatten auf allen Glanz und Schimmer, auf die Pracht und das Leben dieser Welt geworfen. Paulus sah das, und dieser Anblick veranlaßte ihn, die Welt selbst in ihren attraktivsten Formen und in ihrer größten Herrlichkeit, für Dreck zu achten. "Die Welt ist mir gekreuzigt", sagt er, "und ich der Welt." So war es für Paulus, und so sollte es für jeden Christen sein: ein Fremdling auf der Erde, ein Bürger des Himmels, und zwar nicht nur, was Gefühl und Lehre angeht, sondern in Tat und Wahrheit. Denn so gewiß unsere Befreiung von der Hölle mehr ist als ein bloßes Gefühl oder eine Lehre, so gewiß ist auch unsere Befreiung ,von dieser gegenwärtigen bösen Welt mehr als das. Das eine ist so sicher und wirklich wie das andere.

 

Christus wurde von der Welt verworfen, und Er ist heute noch ein Verworfener. Es hat sich nichts verändert. Die Welt ist immer noch die Welt. Es ist eine der besonderen Listen Satans, diejenigen, die die Rettung durch Christus angenommen haben, gleichzeitig dazu zu brin­gen, daß sie sich weigern, Seine Verwerfung mit Ihm zu teilen, daß sie sich das Versöhnungswerk des Kreuzes zunutze machen, zugleich aber sich gemächlich einrichten in eben der Welt, die Christus ans Kreuz genagelt hat. Mit anderen Worten: Satan bringt die Menschen dazu, daß sie denken und sagen, das Ärgernis des Kreuzes habe auf­gehört; die Welt des zwanzigsten Jahrhunderts sei ganz anders als die des ersten Jahrhunderts, der Herr Jesus würde, wenn Er jetzt auf der Erde wäre, ganz anders behandelt werden als damals. Jetzt sei die Welt christlich, nicht heidnisch, und das sei ein fundamentaler Unterschied. Es sei darum ganz in Ordnung, wenn der Christ jetzt in dieser Welt ein Bürgerrecht annehme und einen Namen und einen Platz habe.

 

Wir merken alle, daß das in Wirklichkeit eine Lüge des Erzfeindes der Seele ist. Die Welt mag ihr Kleid verändert haben; aber ihre Natur, ihr Geist, ihre Grundsätze sind gleich geblieben. Sie haßt Jesus heute noch ebenso von Herzen wie damals, als sie schrie: "Hinweg mit Ihm! Kreuzige Ihn!" Wenn wir allerdings die Welt der selben Probe unter­werfen würden, würden wir finden, daß sie dieselbe böse, Gott has­sende und Christus verwerfende Welt bleibt. Und was ist die Probe? Der gekreuzigte Christus. Möge diese ernste Wahrheit wirklich in unsere Herzen eingegraben sein! Möge sie uns völlig von allem tren­nen, was zur Welt gehört! Möchten wir die Wahrheit, die in der Asche der roten Kuh dargestellt ist, besser verstehen! Dann wäre auch unsere Trennung von der Welt und unsere Hingabe an Christus tiefer und wirklicher.

 

Wir kommen jetzt zu der Verordnung über die Anwendung der Asche. "Wer einen Toten anrührt, irgendeine Leiche eines Menschen, der wird sieben Tage unrein sein. Selbiger soll sich am dritten Tag damit ent­sündigen, und am siebenten Tage wird er rein sein; und wenn er sich nicht entsündigt am dritten Tage, so wird er am siebenten Tage nicht rein sein. Jeder, der einen Toten anrührt, die Leiche irgendeines Men­schen, der gestorben ist, und sich nicht entsündigt, hat die Wohnung des HERRN verunreinigt; und selbige Seele soll ausgerottet werden aus Israel. Weil das Wasser der Reinigung nicht auf ihn gesprengt wurde, ist er unrein; seine Unreinigkeit ist noch an ihm" (V. 11‑13).

 

Es ist eine ernste Sache, mit Gott in Verbindung zu stehen, mit Ihm täglich in einer verunreinigten Welt den Weg zu gehen. Er kann in denen, mit welchen Er in Seiner Gnade den Weg geht und in denen Er wohnt, keine Unreinigkeit dulden. Er kann verzeihen und die Sünde auslöschen; Er kann heilen, reinigen und wiederherstellen. Aber Er kann das ungerichtete Böse nicht gut heißen oder es bei Seinem Volk dulden. Täte Er es, dann würde Er damit Seinen Namen und seine Natur verleugnen. Diese Wahrheit ist sehr ernst und zugleich sehr segensreich. Es ist unsere Freude, es mit einem Gott zu tun zu haben' dessen Gegenwart Heiligkeit verlangt und zusichert. Wir gehen durch eine Welt, in der wir von verunreinigenden Einflüssen umgeben sind. Es ist wahr, heutzutage verunreinigt man sich nicht, indem man "eine Leiche, ein Gebein oder ein Grab" anrührt. Aber diese Dinge waren, wie wir wissen, Gegenbilder von moralischen und geistlichen Dingen, mit denen in Berührung zu kommen wir täglich und stündlich in Ge­fahr stehen. Deshalb brauchen wir bei allen unseren Gewohnheiten und Verbindungen eine heilige Wachsamkeit. Sonst werden wir verunreinigt und unterbrechen unsere Gemeinschaft mit Gott. Er muß uns in einem Zustand haben, der Seiner würdig ist. "Seid heilig, denn ich bin heilig."

 

Was aber hat zu geschehen, wenn wirklich eine Verunreinigung da ist? Wie soll sie weggetan werden? Hören wir die Antwort in der biblischen Sprache von 4. Mose 19: "Und man soll für den Unreinen von dem Staube des zur Entsündigung Verbrannten nehmen und lebendiges Wasser darauf tun in ein Gefäß; und ein reiner Mann soll Ysop neh­men und ihn in das Wasser tauchen, und soll auf das Zelt sprengen und auf alle Geräte und auf die Personen, die daselbst sind, und auf den, der das Gebein oder den Erschlagenen oder den Gestorbenen oder das Grab angerührt hat. Und zwar soll der Reine auf den Unreinen spren­gen am dritten Tage und am siebenten Tage, und ihn am siebenten Tage entsündigen; und er soll seine Kleider waschen und sich im Wasser baden, und am Abend wird er rein sein" (V. 17‑19).

 

Es fällt auf, daß im 12. und 18. Vers eine zweifache Handlung vor­gestellt wird: Es gibt eine Handlung am dritten Tag und eine Handlung am siebten Tag. Beide waren nötig, um die Unreinigkeit hinwegzutun, die durch die Berührung mit den oben bezeichneten verschiedenen Formen des Todes entstanden war. Doch was bedeutete diese doppelte Handlung, und was entspricht ihr in unserer eigenen geistlichen Ge­schichte? Ich meine, dies: Wenn wir aus Mangel an Wachsamkeit und geistlicher Energie Unreines anrühren und verunreinigt werden, so ist es möglich, daß wir uns dessen gar nicht bewußt sind; Gott aber weiß alles, was geschehen ist. Er sorgt für uns und sieht auf uns, nicht als ein zorniger Richter oder strenger Beurteiler, sondern als ein liebender Vater, der uns die Verunreinigung nie zurechnen wird, weil sie längst dem zugerechnet worden ist, der an unserer Stelle starb. Aber dennoch wird Er sie uns tief und eindringlich fühlen lassen. Er wird das Unreine treulich tadeln, und Er kann es um so kräftiger tun, weil Er es uns niemals zurechnen wird. Der Heilige Geist bringt uns unsere Sünde in Erinnerung, und das verursacht einen tiefen Schmerz des Herzens. Dieser Schmerz, diese Trauer, kann eine Zeitlang anhalten. Sie kann Augenblicke, Tage, Monate und selbst Jahre lang dauern. Ich habe einen jungen Christen gekannt, der drei Jahre lang unglücklich war, weil er mit einigen weltlichen Freunden einen Ausflug gemacht hatte. Dieses Überzeugen durch den Heiligen Geist ist, wie ich meine, durch die Handlung am dritten Tag angedeutet. Zuerst bringt Er uns die Sünde ins Bewußtsein. Dann wendet Er ‑ durch das geschriebene Wort ‑ den Wert des Todes Christi auf unsere Seelen an als das Mittel, das der Befleckung, die wir so leichthin begingen, bereits entsprochen hat. Das entspricht der Handlung am siebten Tag. Es nimmt die Beflek­kung weg und stellt unsere Gemeinschaft wieder her.

 

Bedenken wir gut, daß wir auf keine andere Weise von einer Verun­reinigung gereinigt werden können! Wir mögen versuchen, die Sache zu vergessen, die Wunde oberflächlich zu heilen, uns wenig aus ihr zu machen oder es der Zeit zu überlassen, die Sache in unserem Gedächt­nis zu verwischen. Aber das alles wird nicht nur nichts helfen; sondern es ist auch sehr gefährlich. Nur weniges ist unheilvoller als das Spielen mit dem Gewissen oder den Forderungen der Heiligkeit. Und es ist auch genauso töricht, wie es gefährlich ist; denn Gott hat in Seiner Gnade dafür gesorgt, daß die Verunreinigung beseitigt werden kann, die Seine Heiligkeit aufgedeckt und verurteilt hat: Die Verunreinigung muß un­bedingt weggetan werden, sonst ist Gemeinschaft mit Ihm unmöglich. ,Wenn ich dich nicht wasche, hast du kein Teil mit mir." Die Unter­brechung der Gemeinschaft eines Gläubigen entspricht der Ausrottung eines Gliedes aus der Gemeinde Israels. Der Christ kann nie von Christus abgeschnitten werden; aber seine Gemeinschaft wird durch einen einzigen sündigen Gedanken unterbrochen. Dieser sündige Ge­danke muß gerichtet und bekannt werden und die Befleckung durch ihn muß beseitigt sein, bevor die Gemeinschaft wiederhergestellt werden kann. Wir können sicher sein, daß wir unmöglich Gemeinschaft mit Gott haben und zugleich in der Sünde leben können. Das zu behaupten wäre Lästerung des Namens und der Majestät Gottes. Nein, wir müssen ein reines Gewissen bewahren und der Heiligkeit Gottes Rechnung tra­gen, sonst werden wir sehr bald im Glauben Schiffbruch erleiden und völlig zusammenbrechen. Der Herr gebe uns, daß wir sorgfältig und vorsichtig und im Gebet unseren Weg gehen, bis wir den Leib der Sünde und des Todes abgelegt haben und an dem herrlichen Ort an­gelangt sind, wo man Sünde, Tod und Verunreinigung nicht mehr kennt!

 

Bei der Betrachtung der Verordnungen und Satzungen des levitischen Priestertums muß uns die eifersüchtige Sorgfalt auffallen, mit der der Gott Israels über Seinem Volk wachte, damit es vor jedem verunreini­genden Einfluß bewahrt bliebe. Bei Tage und bei Nacht, mochten sie wachen oder schlafen, mochten sie daheim oder draußen, in der Familie oder in der Einsamkeit sein, überall wachte Sein Auge über ihnen. Er wachte über ihrer Nahrung, ihrer Kleidung, ihren häuslichen Gewohn­heiten und Einrichtungen. Er belehrte sie sorgfältig über das, was sie essen oder nicht essen, was sie tragen und nicht tragen durften. Er offenbarte ihnen sogar Seine Gedanken darüber, wie sie diese oder jene Dinge anrühren und behandeln sollten. Kurz, Er umgab sie mit Schran­ken, die, wenn sie sie nur beachtet hätten, völlig hinreichend gewesen wären, dem ganzen Strom der Verunreinigung Widerstand zu leisten, dem sie auf allen Seiten ausgesetzt waren.

 

In alledem sehen wir deutlich die Heiligkeit Gottes, aber auch ebenso klar und bestimmt die Gnade Gottes. Während die göttliche Heiligkeit keine Verunreinigung an dem Volk dulden konnte, traf die göttliche Gnade reichliche Vorsorge zu ihrer Entfernung. Diese Vorsorge zeigt sich in unserem Kapitel unter zwei Formen: in dem Blut der Versöh­nung und in dem Wasser der Trennung. Wunderbare Vorsorge! Wür­den wir nicht die reichen Vorkehrungen der göttlichen Gnade kennen, so würden uns die hohen Ansprüche der göttlichen Heiligkeit völlig überwältigen. Da wir aber der Gnade sicher sind können wir uns von Herzen über die Heiligkeit freuen. Ein Israelit mochte schaudern, wenn er die Worte hörte: Wer einen Toten anrührt, der wird sieben Tage unrein sein" und: "jeder, der einen Toten anrührt ... und sich nicht entsündigt, hat die Wohnung des HERRN verunreinigt; und selbige Seele soll ausgerottet werden aus Israel". Solche Worte konnten in der Tat sein Herz erschrecken und ihn ausrufen lassen: "Was soll ich tun? Unmöglich kann ich der Verunreinigung entgehen!" Aber wie war es dann mit der Asche der roten Kuh? was war es mit dem Wasser der Reinigung? Sie stellen das Gedächtnis an den Opfertod Christi vor, wie er durch die Kraft des Heiligen Geistes auf das Herz angewandt wird. "Selbiger soll sich am dritten Tage damit entsündigen, und am sieben­ten Tage wird er rein sein; und wenn er sich nicht entsündigt am drit­ten Tage, so wird er am siebenten Tage nicht rein sein." Nur wenn man von den gnädigen Vorkehrungen Gottes Gebrauch machte, konnte die Verunreinigung entfernt werden.

 

Es handelte sich also nicht darum, ein neues Opfer darzubringen, und auch nicht um eine neue Anwendung des Blutes. Dies klar zu verste­hen, ist besonders wichtig. Der Tod Christi kann nicht wiederholt wer­den. "Christus, aus den Toten auferweckt, stirbt nicht mehr; der Tod herrscht nicht mehr über ihn. Denn was er gestorben ist, ist er ein für allemal der Sünde gestorben; was er aber lebt, lebt er Gott" (Röm. 6, 9. 10). Durch Gottes Gnade stehen wir in dem vollen Verdienst und in dem Wert des Todes Christi. Aber wir sind auf allen Seiten von Ver­suchungen und Fallstricken umgeben; wir haben in uns böse Fähig­keiten und Neigungen; wir haben schließlich einen mächtigen Gegner, der immer bereitsteht, uns zu Fall zu bringen und von dem Weg der Wahrheit und Reinheit wegzubringen. Wir könnten deshalb keinen Schritt vorwärts kommen, wenn nicht Gott in Seiner Gnade allem, was wir brauchen, entsprochen hätte durch den kostbaren Tod und durch die Sachwalterschaft unseres Herrn Jesus Christus. Nicht nur hat das Blut Jesu Christi alle unsere Sünden abgewaschen und uns mit einem heiligen Gott versöhnt, sondern wir haben auch "einen Sach­walter bei dem Vater, Jesum Christum, den Gerechten". "Er lebt immer­dar, um sich für uns zu verwenden", und "Er vermag völlig zu erretten, die durch ihn Gott nahen." Er ist immer in der Gegenwart Gottes für uns. Er vertritt uns dort und erhält uns auf dem göttlich vollkomme­nen Platz, auf den Sein Versöhnungstod uns gebracht hat. Unsere Sache kann in den Händen eines solchen Sachwalters niemals verloren sein. Er müßte aufhören zu leben, bevor der schwächste Seiner Heiligen umkommen könnte. Wir sind eins mit Ihm, und Er ist es mit uns.

 

Wir haben jetzt lediglich noch ein Wort über die Schlußverse unseres Kapitels hinzuzufügen:. "Und es soll ihnen zur ewigen Satzung sein. Und wer das Wasser der Reinigung sprengt, soll seine Kleider waschen; und wer das Wasser der Reinigung anrührt, wird unrein sein bis an den Abend" (Kap. 19, 21. 22). Der 18. Vers sagt uns, daß ein reiner Mann den Unreinen besprengen mußte, und im 21. Vers sehen wir, daß man durch das Besprengen eines anderen sich selbst verunreinigte.

 

Wenn wir diese beiden Dinge zusammenbringen, dann lernen wir daraus, daß jeder verunreinigt wird, der mit der Sünde eines anderen zu tun hat, auch wenn er dies tut, weil es seine Pflicht ist und um von der Sünde zu reinigen. Er wird allerdings nicht in der Weise ver­unreinigt, wie der Schuldige es ist, aber wir können die Sünde nicht anrühren, ohne verunreinigt zu werden. Weiter lernen wir, daß ich, wenn ich einen anderen in die Freude der reinigenden Kraft des Werkes Christi hineinbringen will, selber in dieser Freude sein muß. Wer das Wasser der Absonderung auf andere gesprengt hatte, mußte seine Klei­der waschen und sich selbst im Wasser baden. Mögen unsere Seelen das wirklich begreifen! Möchten wir immer in dem Bewußtsein der vollkommenen Reinheit bleiben, in die der Tod Christi uns bringt und in der Sein priesterlicher Dienst uns erhält! Vergessen wir nie, daß jede Berührung mit dem Bösen verunreinigt! So war es in der mosaischen Haushaltung, und so ist es noch jetzt.

 

Kapitel 20

 

ISRAEL IN KADES. DER TOD MIRJAMS UND AARONS

 

"Und die Kinder Israel, die ganze Gemeinde, kamen in die Wüste Zin, im ersten Monat; und das Volk blieb zu Kades; und Mirjam starb daselbst und wurde daselbst begraben“ (V. 1).

 

Das 20. Kapitel gibt uns einen bemerkenswerten Bericht von dem Leben in der Wüste und den Erfahrungen dort. Es zeigt uns, wie Mose, der Knecht Gottes, einige der für ihn traurigsten Ereignisse durchlebt. Zuerst stirbt Mirjam. Die, die damals am Ufer des Roten Meeres ein Siegeslied angestimmt hatte, verläßt diesen Schauplatz, und ihre sterb­liche Hülle wird in der Wüste Kades beigesetzt. Ihr Tamburin ist beiseite gelegt, die Stimme des Gesanges ist verstummt im Schweigen es Todes. Mirjam kann nicht mehr den Reigen führen. Sie hatte in ihrem Leben besonders schön gesungen. Sie hatte damals den Anstoß zu dem Lobgesang gegeben, der am Auferstehungsufer des Roten Mee­res angestimmt worden war. Ihr kurzes Lied besang die Grundwahrheit der Erlösung: "Singet dem HERRN, denn hoch erhaben ist er; das Roß und seinen Reiter hat er ins Meer gestürzt!" Das war in der Tat ein erhabenes Lied und ein treffender Ausdruck in der Freude dieser Stunde.

 

jetzt aber ist die Prophetin nicht mehr da, und der Gesang verwandelt sich in Murren. Das Leben in der Wüste wird ermüdend. Die Versu­chungen dort stellen die Natur auf die Probe; sie decken auf, was im Her en ist. Vierzig Jahre voller Mühe und Arbeit bewirken in einem Menschen eine große Veränderung. Man findet wirklich selten Chri­sten, bei denen Kraft und Frische des geistlichen Lebens in allen Lagen erhalten geblieben oder gar noch gewachsen sind. Es sollte ja umge­kehrt sein, denn gerade in den Einzelheiten und in den ernsten Wirk­lichkeiten unseres Weges durch diese Welt erfahren wir, was Gott für uns ist. Er benutzt die Schwierigkeiten als Anlässe, um uns den Wert und die Zartheit Seiner Liebe, die keinen Wechsel kennt, zu zeigen. Nichts kann die Quellen, die in dem lebendigen Gott sind, ausschöpfen. Er bleibt immer, was Er ist, trotz aller unserer Verkehrtheiten. Und Gott wird Gott bleiben ‑ mag der Mensch sich auch als noch so glaubens­leer und fehlerhaft erweisen.

 

Das ist unser Trost, unsere Freude und die Quelle unserer Kraft. Wir haben es mit dem lebendigen Gott zu tun. Ganz gleich, was kommt ‑Er wird immer beweisen, daß Er über allen Ereignissen steht und für das, was in jedem Augenblick nötig ist, genügt. Seine langmütige Gnade kann unsere vielen Schwachheiten, Fehler und Versäumnisse ertragen. Seine Kraft erweist sich in unserer Schwachheit als vollkom­men. Seine Treue hört nie auf. Seine Gnade währt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Freunde täuschen und verlassen uns. Die beste Freundschaft kann in dieser kalten und herzlosen Welt zerreißen. Mitarbeiter ver­lassen ihre Gefährten. Mirjam und Aaron sterben. Aber Gott bleibt. Hier ist das tiefe Geheimnis aller wahren und unerschütterlichen Freude. Wenn wir sagen können: "Der HERR ist mein Hirte", so können wir voller Sicherheit hinzufügen: "Mir wird nichts mangeln".

 

Dennoch gibt es in der Wüste Ereignisse, die uns Kummer und Versu­chung bringen, und wir müssen durch sie hindurch. So erging es auch Israel in der Zeit, von der unser Kapitel redet. Sie sollten den Angriffen der Wüste standhalten, und sie taten es in Ungeduld und mit Un­zufriedenheit. "Es war kein Wasser da für die Gemeinde, und sie ver­sammelten sich wider Mose und wider Aaron. Und das Volk haderte mit Mose, und sie sprachen und sagten. Wären wir doch umgekommen, als unsere Brüder vor dem HERRN umkamen! Und warum habt ihr die Versammlung des HERRN in diese Wüste gebracht, daß wir daselbst sterben, wir und unser Vieh ... ?" (V. 2‑5)

 

Das war eine ernste Prüfung für das Herz Moses. Wir können uns keinen Begriff davon machen, was es sein mußte, sechshunderttausend Murrenden entgegenzutreten, ihre Schmähreden zu hören und von ihnen als Urheber alles Ungemachs beschuldigt zu werden, das ihr eige­ner Unglaube über sie gebracht hatte! Das war keine gewöhnliche Ge­duldsprobe, und wir sollten uns nicht darüber wundern, daß der treue und geehrte Knecht unter der Schwere der Probe wankte.

 

"Und Mose und Aaron gingen von der Versammlung hinweg zum Eingang des Zeltes der Zusammenkunft und fielen auf ihr Angesicht; und die Herrlichkeit des HERRN erschien ihnen" (V. 6). Es ist er­greifend, Mose immer wieder auf dem Angesicht vor Gott zu sehen. Es war eine Erleichterung für ihn, sich von einer tobenden Menge zurückziehen und seine Zuflucht zu Dem nehmen zu können, dessen Hilfsquellen allein einer solchen Lage gewachsen waren. "Sie fielen auf ihr Angesicht; und die Herrlichkeit des HERRN erschien ihnen." An­scheinend haben Mose und Aaron bei dieser Gelegenheit gar nicht erst versucht, dem Volk eine Antwort zu geben. "Sie gingen von der Ver­sammlung hinweg" und übergaben sich dem lebendigen Gott. Sie hät­ten nichts Besseres tun können. Wer anders als der Gott aller Gnade konnte den tausend Bedürfnissen des Wüstenlebens entsprechen? Die Schatzkammer Gottes ist unerschöpflich. Er kann ein Herz, das Ihm vertraut, nie täuschen. Vergessen wir das nie! Gott hat Wohlgefallen daran, wenn man mit Ihm rechnet. Er wird nie müde, für Sein Volk zu sorgen. Wenn wir uns dessen immer bewußt wären, dann wäre das Murren der Ungeduld und der Unzufriedenheit weniger zu hören, die schöne Sprache des Dankes und Lobes aber um so mehr. Doch das Leben in der Wüste ist, wie schon wiederholt bemerkt, ein Prüfstein für jedermann. Es offenbart, was in uns ist; aber es zeigt uns auch, was Gott für uns ist.

 

,' Und der HERR redete zu Mose und sprach: Nimm den Stab und ver­sammle die Gemeinde, du und dein Bruder Aaron, und redet vor ihren Augen zu dem Felsen, so wird er sein Wasser geben; und du wirst ihnen Wasser aus dem Felsen hervorbringen und die Gemeinde trän­ken und ihr Vieh. Und Mose nahm den Stab vor dem HERRN weg, so wie er ihm geboten hatte. Und Mose und Aaron versammelten die Versammlung vor dem Felsen; und er sprach zu ihnen: Höret doch, ihr Widerspenstigen! werden wir euch Wasser aus diesem Felsen hervor­bringen? Und Mose erhob seine Hand und schlug den Felsen mit seinem Stabe zweimal; da kam viel Wasser heraus, und die Gemeinde trank und ihr Vieh". (V. 7‑11).

 

In dieser Stelle sind zwei Dinge besonders wichtig: der Fels und der Stab. Beide stellen sie Christus dar, jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten. In 1. Kor. 10, 4 lesen wir: "Sie tranken aus einem geist­lichen Felsen, welcher nachfolgte. (Der Fels aber war der Christus.)­Das ist klar und bestimmt und läßt der Phantasie keinen Raum. "Der Fels war der Christus", Christus, geschlagen für uns.

 

Was den Stab betrifft, so müssen wir uns daran erinnern, daß es nicht der Stab Moses, also der Stab der Autorität und der Macht, war. Der wäre hier nicht passend gewesen. Er hatte sein Werk getan. Er hatte den Felsen einmal geschlagen, und das war genug. Das sehen wir in 2. Mose 17, 5, wo wir lesen: "Und der HERR sprach zu Mose: Gehe hin vor dem Volke, und nimm mit dir von den Ältesten Israels; und deinen Stab, womit du den Strom geschlagen hast, nimm in deine Hand und gehe hin. Siehe, ich will daselbst vor dir stehen auf dem Felsen am Horeb; und du sollst auf den Felsen schlagen, und es wird Wasser aus demselben herauskommen, daß das Volk trinke. Und Mose tat also vor den Augen der Ältesten Israels."

 

Hier wird uns ein Bild von Christus gezeigt, der von der Hand Gottes für uns im Gericht geschlagen wurde. Beachtenswert ist der Ausdruck: "den Stab, womit du den Strom geschlagen hast". Warum wird dieser besondere Schlag mit dem Stab hier erwähnt? 2. Mose 7, 20 gibt uns die Antwort: "Und Mose erhob den Stab und schlug das Wasser, das im Strome war, vor den Augen des Pharao und vor den Augen seiner Knechte. Da wurde alles Wasser, das im Strome war, in Blut ver­wandelt." Der Stab, der das Wasser in Blut verwandelt hatte, sollte „den Felsen, welcher Christus war", schlagen, damit Ströme des Lebens und der Erfrischung für uns daraus hervorfließen möchten.

 

Aber dieses Schlagen sollte nur einmal stattfinden. Es darf niemals wiederholt werden. Es kann keine Wiederholung des Todes Christi geben. Daher tat Mose unrecht, als er den Felsen zweimal mit seinem Stabe schlug. Es war falsch, daß er ihn hier überhaupt schlug. Er hatte den Auftrag, "den Stab", den Stab Aarons, den priesterlichen Stab, zu nehmen und zu dem Felsen zu reden. Das Versöhnungswerk ist voll­bracht, und nun ist unser großer Hoherpriester in die Himmel ein­gegangen, um dort vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen für uns. Die Ströme geistlicher Erfrischung fließen uns zu infolge der voll­brachten Erlösung und im Zusammenhang mit dem priesterlichen Dienst Christi, von dem Aarons sprossender Stab ein so treffendes Bild ist.

 

Es war daher ein Fehler von Mose, daß er den Felsen zum zweitenmal schlug; und es war ein Fehler, daß er seinen Stab überhaupt gebrauchte. Hätte er mit dem Stab Aarons geschlagen, so wären dessen schöne Blüten verdorben worden, wie wir uns leicht vorstellen können. Aber ein Wort in Verbindung mit dem Stab des Priestertums, dem Stab der Gnade, wäre genug gewesen. Mose erkannte dies nicht; er versagte hier darin, Gott zu verherrlichen. Er redete unbedacht. Die Folge davon war, daß er nicht über den Jordan gehen durfte. Sein Stab konnte das Volk nicht hinüberbringen; denn was hätte bloße Gewalt mit einem murren­den Volke ausrichten können? Aber auch ihm selbst wurde nicht er­laubt, hinüberzugehen, weil er den HERRN nicht vor den Augen der Versammlung geheiligt hatte.

 

Doch der HERR trug Sorge für Seine Verherrlichung. Er heiligte sich selbst vor dem Volk; denn trotz ihres aufrührerischen Murrens und trotz des traurigen Fehlers von Mose empfing die Versammlung des Herrn Wasser aus dem geschlagenen Felsen. Aber die Gnade trium­phierte nicht nur dadurch, daß sie den murrenden Heeren Israels zu trinken gab, sie strahlte auch herrlich in bezug auf Mose selbst, wie wir aus 5. Mose 34 ersehen können. Die Gnade war es, die Mose auf den Gipfel des Pisga führte und ihm von dort aus das Land Kanaan zeigte. Die Gnade war es, die den HERRN für Seinen Diener ein Grab bereiten und ihn darin begraben ließ. Es war besser, das Land in Gemeinschaft mit Gott zu sehen, als es in Gemeinschaft mit Israel zu betreten. Den­noch dürfen wir nicht vergessen, daß Mose wegen seines unbedachten Redens nicht in das Land hineingehen durfte. Nach Seiner Regierung hielt Gott Mose außerhalb Kanaans, in Seiner Gnade aber führte Er Mose auf den Pisga. Diese beiden Tatsachen in der Geschichte Moses zeigen sehr klar den Unterschied zwischen Gnade und Regierung. Die Gnade vergibt und segnet; aber die Regierung geht unabhängig hiervon ihren eigenen Gang. "Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ern­ten." Dieser Grundsatz zieht sich durch alle Regierungswege Gottes hin und das ist sehr ernst. Aber nichtsdestoweniger herrscht die Gnade "durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn" (Römer 5, 21).

 

In den Versen 14‑20 finden wir die Verhandlungen zwischen Mose und dem König von Edom. Es ist lehrreich und interessant, die Handlungs­weise eines jeden zu beobachten und sie mit der Geschichte in 1. Mose 32 und 33 zu vergleichen. Esau (Edom) hatte einen tiefen Groll gegen Jakob. Aber obwohl er durch Gottes unmittelbares Eingreifen seinem Bruder kein Haar krümmen durfte, sollte doch andererseits das von Jakob abstammende Volk die Besitzungen Edoms nicht antasten. Jakob hatte Esau verdrängt, Israel durfte Edom nicht beunruhigen. "Und gebiete dem Volk und sprich: Ihr werdet nun durch das Gebiet eurer Brüder, der Kinder Esau, ziehen, die in Seir wohnen, und sie werden sich vor euch fürchten; so habet wohl acht! Laßt euch nicht in Streit mit ihnen ein; denn ich werde euch von ihrem Lande auch nicht den Tritt einer Fußsohle geben; denn das Gebirge Seir habe ich dem Esau als Besitztum gegeben. Speise sollt ihr um Geld von ihnen kaufen, daß ihr esset, und auch Wasser sollt ihr um Geld von ihnen kaufen, daß ihr trinket" (5. Mose 2, 4‑6). So sehen wir, daß derselbe Gott, der Esau nicht erlaubte, seinem Bruder zu schaden (i. Mose 33), jetzt nicht duldete, daß Israel Edom anrührte.

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels ist sehr beeindruckend. (vgl. 2. Mose 4, 1‑17). Mose hatte gemeint, die Begleitung Aarons sei unum­gänglich nötig. Später entdeckte er, daß er für ihn ein schlimmer "Dorn im Fleische" war. Hier nun mußte er ihm die Kleider ausziehen und Abschied von ihm nehmen. Aaron wurde zu seinen Vätern versammelt. Alles das ist voller Warnungen für uns, von welcher Seite aus wir es auch betrachten mögen ‑ sei es im Blick auf Mose oder im Blick auf Aaron. Wir haben schon an früherer Stelle diesen Teil der Geschichte Moses erwähnt und brauchen deshalb hier nicht ausführlicher darauf einzugehen.

 

Kapitel 21

 

DIE EHERNE SCHLANGE

 

Dieses Kapitel enthält hauptsächlich die bekannte und schöne Verord­nung über die eherne Schlange, das große Bild des Evangeliums. "Und sie brachen auf vom Berge Hor, des Weges zum Schilfmeer, um das Land Edom zu umgehen. Und die Seele des Volkes wurde ungeduldig auf dem Wege; und das Volk redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt, daß wir in der Wüste sterben? denn da ist kein Brot und kein Wasser, und unsere Seele ekelt vor dieser elenden Speise" (V. 4. 5).

 

Es ist immer wieder dieselbe traurige Geschichte: das "Murren in der Wüste". Es war schön, aus Ägypten zu entkommen, als die schreck­lichen Gerichte Gottes in schneller Folge über dieses Land herein­brachen. Damals hatten die Fleischtöpfe, die Zwiebeln und der Knoblauch Ägyptens wenig Anziehendes für das Volk. Jetzt aber sind die Plagen vergessen, und nur die Fleischtöpfe sind in der Erinnerung vor­handen. "Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt, daß wir in der Wüste sterben? denn da ist kein Brot und kein Wasser, und unserer Seele ekelt vor dieser elenden Speise."

 

Was für eine Sprache! Der Mensch würde lieber in einem Land des Todes und der Finsternis bei den Fleischtöpfen sitzen als mit Gott durch die Wüste gehen und Brot vom Himmel essen. Der Herr hatte Seine Herrlichkeit mit dem Sand der Wüste in Verbindung gebracht, weil Seine Erlösten dort waren. Er war herabgekommen, um sie mit ihren Herausforderungen zu ertragen und sie durch die große und schreck­liche Wüste zu führen. Diese Gnade und diese Herablassung hätten sie zu dankbarer und demütiger Unterwerfung bringen müssen. Aber schon die erste geringfügige Probe genügte, um sie rufen zu lassen: "Wären wir doch im Land Ägypten gestorben!"

 

Sie mußten jedoch sehr schnell die bitteren Früchte ihres Murrens schmecken. "Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk, und sie bissen das Volk; und es starb viel Volks aus Israel" (V. 6). Die Schlange war der Ursprung ihrer Unzufriedenheit. Ihr Zustand, nach­dem sie von den Schlangen gebissen worden waren, konnte ihnen sehr gut das wahre Wesen ihrer Unzufriedenheit zeigen. Wenn das Volk Gottes nicht glücklich und zufrieden mit dem Herrn seinen Weg gehen will, muß es die Macht der Schlange erfahren ‑ eine schreckliche Macht, ganz gleich, in welcher Weise man sie auch erleben mag.

 

Der Biß der Schlange brachte Israel seine Sünde zum Bewußtsein. "Da kam das Volk zu Mose, und sie sprachen: wir haben gesündigt, daß wir wider den HERRN und wider dich geredet haben; flehe zu dem HERRN, daß er die Schlangen von uns wegnehme" (V. 7). Das war der Augenblick, in dem die Gnade Gottes sich zeigen konnte. Die Not des Menschen ist immer ein Anlaß zur Entfaltung der Gnade und Barm­herzigkeit Gottes. Von dem Augenblick an, als Israel sagen konnte: "Wir haben gesündigt", gab es für die Gnade kein Hindernis mehr. Gott konnte wirken, und das war genug. Als Israel murrte, war der Biß der Schlange das Ergebnis und als Israel seine Sünde bekannte, war die Gnade Gottes die Antwort. Im ersten Fall war die Schlange das Mittel, das sie ins Elend brachte, im zweiten Fall war sie das Werkzeug zu ihrer Wiederherstellung und Segnung. "Und der HERR sprach zu Mose: Mache dir eine feurige Schlange und tue sie auf eine Stange; und es wird geschehen, jeder, der gebissen ist und sie ansieht, der wird am Leben bleiben" (V. 8). Gerade das Bild dessen, was das Unglück bewirkt hatte, sollte der Kanal werden, durch den Gottes reiche Gnade auf arme, verwundete Sünder strömen konnte. Ein schönes und beein­druckendes Bild von Christus am Kreuz!

 

Es ist ein sehr weit verbreiteter Irrtum, den Herrn Jesus mehr als den, der Gottes Zorn abwandte, zu sehen und nicht in erster Linie als den Kanal der Liebe Gottes. Daß Er den Zorn Gottes über die Sünde trug, ist eine sehr wertvolle Wahrheit; aber da ist mehr als dies. Er ist auch in diese elende Welt gekommen, um an dem Fluchholz zu sterben, um durch Seinen Tod die ewigen Quellen der Liebe Gottes den Herzen armer, aufrührerischer Menschen zu erschließen. Nichts kann einen Sünder zurück in einen Zustand wahren Glücks und wahrer Heiligkeit bringen, als daß er völlig der Liebe Gottes glaubt und sich ihrer freut. Als die Schlange den Menschen im Garten Eden versuchte, richtete sich ihre erste Anstrengung darauf, sein Vertrauen auf die Freundlichkeit und die Liebe Gottes zu erschüttern und so Unzufriedenheit mit dem Platz zu verursachen, auf den Gott ihn gestellt hatte. Der Fall des Menschen war die unmittelbare Folge seines Zweifelns an der Liebe Gottes. Die Wiederherstellung des Menschen muß aus seinem Glauben an diese Liebe folgen. Der Sohn Gottes selbst sagt: "Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe­(Joh. 3, 16).

 

In unmittelbarer Verbindung mit dem soeben angeführten Wort lehrt der Herr ausdrücklich, daß Er das Gegenbild der ehernen Schlange ist. Als der vom Vater gesandte Sohn Gottes war Er die Gabe und der Ausdruck der Liebe Gottes einer verlorenen Welt gegenüber. Aber Er sollte auch am Kreuz erhöht werden als Sühnung für die Sünde, denn nur so konnte die göttliche Liebe dem begegnen, was der sterbende Sünder brauchte. "Gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also muß der Sohn des Menschen erhöht werden, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe." Die ganze menschliche Familie hat den tödlichen Biß der Schlange empfangen; aber der Gott aller Gnade hat ein Heilmittel gefunden in dem, der an dem Fluchholz erhöht wurde. jetzt ruft Er durch den vom Himmel ge­sandten Heiligen Geist allen, die den "Todesbiß" fühlen, zu, auf Jesus zu schauen, um Leben und Frieden zu erlangen. Christus ist das große Heilmittel Gottes. Durch Ihn wird dem Sünder ein völliges, freies, ge­genwärtiges und ewiges Heil verkündet, ein Heil, das so vollkommen, so wohlbegründet ist und so vollständig allen Eigenschaften und Rechten Gottes entspricht, daß Satan hier nichts in Frage zu stellen vermag. Die Auferstehung ist die göttliche Anerkennung des Werkes am Kreuz und die Verherrlichung dessen, der dort starb. So kann der Gläubige sich jetzt hinsichtlich der Sünde völliger Ruhe erfreuen. Gott hat Sein ganzes Wohlgefallen gefunden an Jesus, und weil Er alle Gläu­bigen in Ihm sieht, hat Er auch an ihnen Wohlgefallen.

 

Beachten wir, daß der Glaube das Mittel ist, durch das der Sünder das Heil in Christus ergreift. Der verwundete Israelit hatte nur hinzublic­ken, um am Leben zu bleiben. Er mußte nicht auf sich selbst sehen, nicht auf seine Wunden, nicht auf andere neben ihm, sondern unmittel­bar und ausschließlich auf das Heilmittel Gottes. Wenn er sich weigerte oder es versäumte, dorthin zu blicken, blieb ihm nur der Tod. Er mußte ganz und gar seinen Blick auf das Heilmittel Gottes richten, das so aufgestellt war, daß alle es sehen konnten. Es nützte nichts, wenn man anderswo hinsah, denn die Anordnung lautete: "jeder, der gebissen ist und sie ansieht, der wird am Leben bleiben." Die eherne Schlange war das einzige von Gott gegebene Heilmittel.

 

Genauso ist es heute. Der Sünder ist gerufen, einfach auf Jesus zu sehen. Ihm wird nicht gesagt, daß er auf Kirchen, Menschen oder Engel blicken soll. In alledem gibt es keine Hilfe für ihn. Er hat einzig und allein auf Jesus zu sehen, dessen Tod und Auferstehung die ewige Grundlage des Friedens und der Hoffnung des Gläubigen bilden. Gott versichert ihm, daß "jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe". Das sollte Herz und Gewissen vollkom­men zufriedenstellen. Gott ist zufriedengestellt und deshalb sollten auch wir es sein. Zweifel erheben heißt die Botschaft Gottes verneinen. Wenn ein Israelit angefangen hatte, sich mit der Hoffnungslosigkeit seiner Krankheit zu beschäftigen und der scheinbaren Nutzlosigkeit des Hinsehens auf die eherne Schlange, hätte das in Wirklichkeit eine Ablehnung Gottes bedeutet. Ebenso ist es mit dem Sünder. In dem Augenblick, in dem er im Glauben auf Jesus sieht, verschwinden seine Sünden. Das Blut Jesu bedeckt wie ein mächtiger reinigender Strom sein Gewissen, wäscht jede Verunreinigung ab, nimmt jeden Flecken weg ‑ und das im Licht der Heiligkeit Gottes selbst, wo kein Schatten von Sünde geduldet werden kann.

 

Abschließend mag es noch gut sein, zu bemerken, daß der Blick des ge­bissenen Israeliten auf die Schlange etwas ganz Persönliches war. jeder mußte für sich selbst hinsehen. Keiner konnte es für einen anderen tun. Keiner konnte durch Stellvertretung gerettet werden. Ein Blick gab das Leben ‑ aber dieser Blick mußte getan werden. Es war eine persönliche Verbindung, ein individueller Kontakt mit dem Heilmittel Gottes nötig.

 

Wie es damals war, ist es auch heute noch. Wir müssen persönlich zu tun haben mit Jesus. Weder die Kirche kann uns retten noch irgendein Priester oder Prediger. Ohne eine persönliche Verbindung mit dem Er­löser gibt es kein Leben. "Und es geschah, wenn eine Schlange jemand gebissen hatte, und er schaute auf zu der ehernen Schlange, so blieb er am Leben." Das war damals die Anordnung Gottes, und "gleichwie Moses in der Wüste die Schlange erhöhte, also muß der Sohn des Menschen erhöht werden". Übersehen wir die beiden Wörtchen "gleich­wie" und "also" nicht. Sie beziehen Bild und Gegenbild aufeinander in jeder Einzelheit. Glaube, Buße, Errettung sind persönliche Dinge. Vergessen wir das nie! Sicher hat im Christentum die Gemeinschaft ihren Platz, aber wir müssen jeder selbst mit Christus in Verbindung kommen, und wir müssen jeder persönlich mit Gott leben. Wir können niemals durch den Glauben eines anderen das Leben empfangen oder bewahren.

 

Zum Schluß sei noch auf die Verse 16‑18 hingewiesen. "Und von dort zogen sie nach Beer; das ist der Brunnen, von welchem der HERR zu Mose sprach: Versammle das Volk, und ich will ihnen Wasser geben. Damals sang Israel dieses Lied: Herauf, Brunnen! Singet ihm zul Brunnen, den Fürsten gegraben, den die Edlen des Volkes mit dem Gesetzgeber gehöhlt haben mit ihren Stäben!"

 

Es ist bemerkenswert, daß diese Stelle zu diesem Zeitpunkt und in einem solchen Zusammenhang vorkommt. Das Murren ist verstummt. Das Volk nähert sich den Grenzen des verheißenen Landes. Die Wir­kungen des Schlangenbisses sind vorbei. jetzt erhält das Volk Erfri­schung ohne Zuhilfenahme eines Stabes, ohne einen Schlag. Obwohl Amoriter, Moabiter und Ammoniter sie umgeben, obwohl die Macht Sihons ihnen im Weg steht, kann Gott ihnen, Seinem Volk, einen Brunnen geben und einen Lobgesang auf ihre Lippen legen. Welch ein Gott ist unser Gott! Wie gesegnet ist es, Seine Taten und Wege mit Seinem Volke in der Wüste zu betrachten! Möchten wir es lernen, Ihm bedingungsloser zu vertrauen und jeden Tag in heiliger und froher Unterwerfung mit Ihm unseren Weg zu gehen! Das würde Frieden und Segen für uns bedeuten.

 

Kapitel 22‑24

 

BILEAM

 

Diese drei Kapitel bilden einen besonderen Abschnitt in unserem Buch mit vielen wichtigen Belehrungen. Wir sehen zunächst den habsüchtigen Propheten und dann seine erhabenen Weissagungen. In der Geschichte Bileams liegt etwas Furchtbares. Offensichtlich liebte er das Geld, eine leider nicht ungewöhnliche Liebe. Balaks Gold und Silber erwiesen sich für den unglücklichen Mann als ein Lockmittel, das zu verführerisch war, als daß er ihm hätte widerstehen können. Satan kannte seinen Mann und den Preis, mit dem er gekauft werden konnte.

 

Wenn Bileam von Herzen aufrichtig gewesen wäre vor Gott, dann wäre er mit der Botschaft Balaks schnell fertig gewesen. Er hätte keinen Augenblick nachzudenken brauchen, um eine Antwort senden zu kön­nen. Aber sein Herz war verkehrt vor Gott; wir sehen ihn im 22. Kapi­tel in der düsteren Stimmung eines Menschen, der sich nach wider­sprüchlichen Gefühlen richtet. Sein Herz war darauf aus, zu gehen, weil es auf das Silber und das Gold versessen war; aber zugleich war da eine Art Verehrung Gott gegenüber, ein Schein von Religiosität, den Bileam wie einen Mantel über seine Habsucht hängte. Er verlangte nach dem Geld, aber er wollte es gern auf eine religiöse Weise erwer­ben. Unglücklicher Mann! Sein Name steht auf den von Gott eingege­benen Blättern der Bibel als der Ausdruck eines finsteren und schreck­lichen Abschnitts in der Geschichte des menschlichen Verfalls. "Wehe ihnen!" ruft Judas, „denn sie sind den Weg Kains gegangen und haben sich für Lohn dem Irrtum Balaams überliefert, und in dem Widerspruch Korahs sind sie umgekommen" (V. 11). Auch bei Petrus ist Bileam eine auffallende Figur in dem düsteren Gemälde, das er von der gefal­lenen Menschheit malt. Er spricht von solchen, die "Augen voll Ehe­bruch haben und von der Sünde nicht ablassen, indem sie unbefestigte Seelen anlocken; die ein Herz haben, in Habsucht geübt, Kinder des Fluchs, welche, da sie den geraden Weg verlassen haben, abgeirrt sind, indem sie dem Wege des Balaam nachfolgten, des Sohnes Bosors, der den Lohn der Ungerechtigkeit liebte, aber eine Zurechtweisung seiner eigenen Verkehrtheit empfing: ein sprachloses Lasttier, mit Menschen­stimme redend, wehrte der Torheit des Propheten" (2. Petr. 2, 14‑16).

 

Diese Stellen sind hinsichtlich des wahren Charakters und des Geistes von Bileam sehr eindeutig. Sein Herz war auf das Geld gerichtet, "er liebte den Lohn der Ungerechtigkeit". Seine Geschichte ist von dem Heiligen Geist als eine ernste Warnung für alle christlichen Bekenner niedergeschrieben, damit sie sich vor der Habsucht hüten mögen, die Götzendienst ist. Sehen wir uns einen Augenblick die beiden markante­sten Personen des Abschnitts an: den schlauen König und den hab­süchtigen, eigenwilligen Propheten! Sie zeigen sehr anschaulich, was für ein Übel die Geldgier ist und welch eine große moralische Gefahr darin liegt, das Herz an den Reichtum dieser Welt zu hängen, aber auch, welch ein großes Glück es ist, die Furcht Gottes vor Augen zu haben.

 

Sehen wir uns jetzt die wunderbaren Weissagungen an, die Bileam in der Gegenwart Balaks, des Moabiterkönigs, aussprach. Es ist sehr inter­essant, Zeuge der Szene auf den Höhen Baals zu sein, über die großen Fragen nachzudenken, um die es sich handelt, den Sprechenden zuhören und hinter die Szene sehen zu dürfen. Wie wenig ahnte Israel von dem, was zwischen dem HERRN und dem Feind vorging! Vielleicht murrten sie in ihren Zelten in demselben Augenblick, als Gott durch den Mund des geldgierigen Propheten ihre Vollkommenheit verkünden ließ. Balak wollte Israel verflucht sehen, aber Gott wird nicht zulassen, daß irgend jemand Sein Volk verflucht. Er mag sich selbst mit viel Bösem an ihnen zu beschäftigen haben; aber Er wird nie erlauben, daß ein anderer gegen sie spricht. Er mag sie vor ihren eigenen Augen bloßstellen müs­sen, aber Er wird nie gestatten, daß ein Fremder sie tadelt.

 

Das ist ein außerordentlich wichtiger Punkt. Es geht nicht so sehr darum, was der Feind von dem Volk Gottes denken mag, was dieses Volk von sich selbst denkt oder was sie voneinander denken; die wichtige Frage ist vielmehr: Was denkt Gott von Seinem Volk? Er weiß alles, was die Seinen betrifft, alles, was sie sind, was sie getan haben, was in ihnen ist. Nichts ist vor Seinem durchdringenden Auge verborgen. Die tiefsten Geheimnisse des Herzens, der Natur und des Lebens sind Ihm bekannt. Weder Engel noch Menschen, noch Teufel kennen uns so genau, wie Gott uns kennt. Gott kennt uns völlig, und mit Ihm haben wir es zu tun. Wir können mit dem Apostel triumphie­rend sagen: "Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" (Römer 8). Gott sieht uns, denkt an uns, spricht über uns, handelt für uns entsprechend dem, was Er selbst aus uns gemacht und was Er für uns gewirkt hat, der Vollkommenheit Seines eigenen Werkes entsprechend. Andere mögen viele Fehler finden; Gott aber sieht uns, was unsere Stellung betrifft, nur in der Schönheit Christi. Wir sind in Ihm vollkommen. Wenn Gott Sein Werk betrachtet, so sieht Er in ihm Sein eigenes Werk. Zur Ehre Seines heiligen Namens und zum Lob Seines Heils ist kein Flecken zu sehen an denen, die Sein sind und die Er in Seiner unum­schränkten Gnade zu Seinem Eigentum gemacht hat. Sein Wesen, Sein Name, Seine Herrlichkeit und die Vollkommenheit Seines Werkes be­stimmen die Stellung derer, mit denen Er sich selbst verbunden hat.

 

Sobald ein Feind oder Ankläger aufsteht, tritt deshalb der HERR selbst ihm entgegen, um die Anklage entgegenzunehmen und zu beantworten. Seine Antwort beruht nicht auf dem, was Sein Volk in sich selbst ist, sondern immer auf dem, was Gott durch die Vollkommenheit Seines Werkes aus ihm gemacht hat. Seine Herrlichkeit ist mit den Seinen ver­bunden, und indem Er Sein Volk verteidigt, hält Er Seine eigene Herr­lichkeit aufrecht. Er selbst stellt sich zwischen die Seinigen und jeden Ankläger. Seine Herrlichkeit verlangt, daß sie in der ganzen Schönheit, die Er ihnen gegeben hat, dargestellt werden. Wenn der Feind auftritt, um zu verfluchen und anzuklagen, so antwortet der HERR ihm damit, daß Er Seinem ewigen Wohlgefallen an denen Ausdruck gibt, die Er für sich auserwählt und die Er fähig gemacht hat, für immer in Seiner Gegenwart zu sein.

 

Ein herrliches Beispiel von dieser Handlungsweise Gottes finden wir im 3. Kapitel des Propheten Sacharja. Dort erscheint der Feind auch, um dem Stellvertreter des Volkes Gottes zu widerstehen. Wie antwortet Gott? Einfach dadurch, daß Er denjenigen, den Satan gern verwünschen und anklagen möchte, reinigt, bekleidet und krönt, so daß Satan kein Wort mehr zu sagen hat und für immer zum Schweigen gebracht ist. Die schmutzigen Kleider sind verschwunden, und aus dem wie ein Brand aus dem Feuer Gerissenen ist ein mit dem Kopfbund geschmück­ter Priester geworden. Er, dem nur die Flammen der Hölle zukamen, ist jetzt fähig, in den Höfen des Herrn zu sein.

 

Wir finden in dem Hohenlied genau dasselbe. Dort spricht der Bräuti­gam im Blick auf seine Braut: "Ganz schön bist du, meine Freundin, und kein Makel ist an dir" (Kap. 4, 7). Sie selbst aber kann, wenn sie von sich redet, nur ausrufen: "Ich bin schwarz" (Kap. 1, 5. 6). Ebenso sagt der Herr Jesus in Joh. 13, Seine Jünger seien "ganz rein", obwohl einer von ihnen wenige Stunden später Ihn verleugnete und schwor, Ihn nicht zu kennen. So unermeßlich groß also ist der Unterschied zwi­schen dem, was wir in uns Selbst, und dem, was wir in Christus sind, zwischen unserer Stellung und dem Zustand, in dem wir sein können.

 

Sollte diese herrliche Tatsache, daß wir unserer Stellung nach vollkom­men sind, uns im Hinblick auf unseren praktischen Zustand sorglos machen? Fern sei ein solch ungeheuerlicher Gedanke! Nein, gerade aus der Erkenntnis unserer ewig sicheren und vollkommenen Stellung in Christus macht der Heilige Geist den Maßstab für unser praktisches Leben. Hören wir, was der Apostel sagt: Wenn ihr nun mit dem Christus auferweckt worden seid, so suchet, was droben ist, wo der Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Sinnet auf das, was droben ist, nicht auf das, was auf der Erde ist; denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit dem Christus in Gott. Wenn der Christus, unser Leben, geoffenbart werden wird, dann werdet auch ihr mit ihm geoffenbart werden in Herrlichkeit. Tötet nur eure Glieder, die auf der Erde sind usw." (Kol. 3, 1‑5). Wir dürfen unsere Stellung nie an unserem Zustand messen; wir müssen unseren Zustand immer nach unserer Stellung beurteilen. Die Stellung um des Zustandes willen her­abzusetzen würde bedeuten, jeden Fortschritt im praktischen Christen­tum im Leben eines Christen unmöglich zu machen.

 

Die soeben gezeigten Tatsachen treten in den vier "Sprüchen" Bileams sehr schön und klar ans Licht. Menschlich gesprochen hätten wir Israel nie so herrlich gesehen, wie es in dem "Gesicht des Allmächtigen", ,vom Gipfel der Felsen, aus und von dem "Manne geöffneten Auges" dargestellt ist, wenn nicht Balak versucht hätte, das Volk zu verfluchen. Der HERR kann einem Menschen die Stellung Seines Volkes und Sein Urteil über die Seinen sehr schnell klar machen. Er nimmt das Vorrecht für sich in Anspruch, Seine Gedanken über Sein Volk darzulegen. Balak und Bileam mögen sich mit "allen Fürsten Moabs" versammeln, um zu hören, daß Israel verflucht wird. Sie mögen "sieben Altäre bauen“ und "auf jedem Altar einen Farren und einen Widder opfern". Balaks Silber und Gold mag vor den gierigen Blicken des falschen Propheten blinken. Doch die Anstrengungen der Erde und der Hölle, der Menschen und der Teufel zusammen können gegen das Israel Gottes nicht den leisesten Fluch und nicht die geringste Anklage hervor­bringen. Der Feind hätte ebensogut einen Mangel in der Schöpfung, die Gott "sehr gut" genannt hatte, suchen können. Die Erlösten des Herrn strahlen in der Schönheit, die Er ihnen gegeben hat. Um sie so zu sehen, brauchen wir nur "auf den Gipfel der Felsen" zu steigen und "geöffnete Augen" zu haben, so daß wir sie von dem Standpunkt Gottes aus, in "dem Gesicht des Allmächtigen“, betrachten können.

 

Nach diesem kurzen Überblick über den Inhalt dieser bemerkenswerten Kapitel wollen wir uns jetzt mit den vier Sprüchen im einzelnen be­schäftigen. Wir werden in jedem etwas Besonderes finden, einen be­stimmten Zug in dem Charakter und in dem Zustand des Volkes, wie es in "dem Gesicht des Allmächtigen" gesehen wird.

 

Im ersten Spruch wird die kennzeichnende Trennung des Volkes Gottes von allen Nationen in den Vordergrund gestellt. "Wie soll ich ver­fluchen, den Gott nicht verflucht, und wie verwünschen, den der HERR nicht verwünscht hat? Denn vom Gipfel der Felsen sehe ich es, und von den Höhen herab schaue ich es: siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und unter die Nationen nicht gerechnet wird. Wer könnte zählen den Staub Jakobs und, der Zahl nach, den vierten Teil Israels? Meine Seele sterbe den Tod der Rechtschaffenen, und mein Ende sei gleich dem ihrigen"*) (Kap. 23, 8‑10).

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*) Armer Bileam! Er wünschte den Tod der Rechtschaffenen zu sterben. Es gibt viele, die dasselbe sagen; aber sie vergessen, daß die Voraussetzung dafür, um "den Tod der Rechtschaffenen zu sterben", darin besteht, daß man das Leben der Rechtschaffenen besitzt und zeigt. Viele, leider sehr viele, die dieses Leben nicht haben, möchten gern diesen Tod sterben. Viele möch­ten Balaks Silber und Gold besitzen und doch zu dem Israel Gottes gehören. Vergeblicher Gedanke! Schreckliche Täuschung! Wir können nicht Gott dienen und dem Mammon.

 

Hier sehen wir Israel als ein herausgenommenes und abgesondertes Volk das nach den Gedanken Gottes zu keiner Zeit und um keiner Ur­sache und keines Zweckes willen mit anderen Nationen vermischt oder zu ihnen gezählt werden sollte. "Das Volk wohnt abgesondert." Das ist klar und bestimmt: Es gilt für den Samen Abrahams im buchstäblichen Sinn und es gilt für alle Gläubigen heute. Sehr praktische Folgen ergeben sich aus diesem wichtigen Grundsatz. Gottes Volk muß für Gott abgesondert sein, nicht weil es besser wäre als andere, sondern einfach um dessentwillen, was Gott ist und was Sein Volk nach Seinem Willen immer sein soll. Wir gehen hier nicht weiter darauf ein, aber jeder tut gut daran, diesen Gedanken im Licht des Wortes Gottes zu prüfen. "Siehe, ein Volk, das abgesondert wohnt und unter die Nationen nicht gerechnet wird" (Kap. 23, 9).

 

Aber wenn es Gott in Seiner unumschränkten Gnade gefällt, sich mit einem Volk zu verbinden; wenn Er es beruft, daß es ein abgesondertes Volk in der Welt sei, daß es abgesondert wohne und ein Licht für Ihn sei inmitten derer, die noch in "Finsternis und Todesschatten sitzen", dann muß dieses Volk unbedingt in einem Zustand sein, der Gott ent­spricht. Er muß sie zu solchen machen, wie Er möchte, daß sie seien ‑zu solchen nämlich, die zum Lobe Seines großen und herrlichen Namens sind. Daher muß der Prophet in dem zweiten Spruch nicht nur in nega­tiver, sondern auch in positiver Weise den Zustand des Volkes be­schreiben. "Da hob er seinen Spruch an und sprach: Stehe auf, Balak, und höre! Horche auf mich, Sohn Zippors! Nicht ein Mensch ist Gott, daß er lüge, noch ein Menschensohn, daß er bereue. Sollte er gesprochen haben und es nicht tun, und geredet haben und es nicht aufrecht halten? Siehe, zu segnen habe ich empfangen; und er hat gesegnet, und ich kann es nicht wenden. Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in Israel; der HERR, sein Gott, ist mit ihm, lind Jubelgeschrei wie um einen König ist in seiner Mitte. Gott hat ihn aus Ägypten herausgeführt; sein ist die Stärke des Büffels. Denn da ist keine Zauberei wider Jakob, und keine Wahrsagerei wider Israel ‑ Um diese Zeit wird von Jakob und von Israel gesagt werden, was Gott gewirkt hat. Siehe, ein Volk: gleich einer Löwin steht es auf, und gleich einem Löwen erhebt es sich. Es legt sich nicht nieder, bis es den Raub verzehrt und das Blut der Erschlagenen getrunken hat" (Kap. 23, 18‑24).

 

Hier befinden wir uns auf einer ebenso sicheren wie wirklich erhabenen Grundlage. Das ist in Wahrheit der "Gipfel der Felsen", ist die reine Luft und die Weite der Hügel, wo das Volk Gottes nur in „dem Gesicht des Allmächtigen" gesehen wird; wo man es so sieht, wie Er es sieht, ohne Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen. Alle seine Häßlich­keiten sind dem Blick verborgen, und nur die ganze Schönheit, die Gott ihm verliehen hat, ist sichtbar.

 

In diesem herrlichen Spruch werden die Segnung und die Sicherheit Israels nicht von dem Volk selbst, sondern von der Wahrheit und Treue des HERRN abhängig gemacht. "Nicht ein Mensch ist Gott, daß er lüge, noch ein Menschensohn, daß er bereue.‑ Das stellt Israel auf eine sichere Grundlage. Gott kann sich nicht verleugnen. Gibt es irgendeine Macht, die Ihn daran hindern könnte, Sein Wort und Seinen Eid zu erfüllen? Bestimmt nicht! "Er hat gesegnet, und ich kann es nicht wen­den." Gott will den Segen nicht wenden, und Satan kann es nicht.

 

So ist alles sicher geordnet. Im ersten Spruch hieß es: "Gott hat nicht verwünscht." Hier heißt es: "Er hat gesegnet." Es ist deutlich, daß das weiter geht. Indem Balak den geldgierigen Propheten von einem Ort zum anderen führt, gibt er dem HERRN Gelegenheit, immer neue Schönheiten Seines Volkes und neue Gesichtspunkte über die Sicherheit seiner Stellung aufzudecken. So zeigt Er nicht nur, daß es ein abgeson­dertes Volk ist, das alleine wohnt, sondern auch, daß es ein gerecht­fertigtes Volk ist, mit dem der Herr, sein Gott, ist und unter dem Jubel wie um einen König erklingt. "Er erblickt keine Ungerechtigkeit in Jakob und sieht kein Unrecht in Israel." Der Feind mag sagen: "Da ist andauernd Unrecht und Verkehrtheit." Ja, aber wer kann den HERRN zwingen, das Unrecht anzusehen, wenn es Ihm gefallen hat, es um Seines Namens willen auszulöschen? Wenn Er die Ungerech­tigkeit hinter sich geworfen hat, wer kann sie vor Sein Angesicht zu­rückbringen? "Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?" Gott sieht Sein Volk so völlig befreit von allem, was es verdammen könnte, daß Er inmitten des Volkes wohnen und Seine Stimme unter ihm hören lassen kann.

 

Wir können deshalb mit allem Grund ausrufen: "Was hat Gott getan!" Es heißt nicht: "Was hat Israel getan!" Balak und Bileam hätten genug Anlaß zum Verwünschen gefunden, wenn das, was Israel getan hatte, in Betracht gekommen wäre. Aber der Grund, auf dem das Volk Gottes steht, ist das, was Er getan hat, und dieser Grund ist so unbeweglich fest wie der Thron Gottes selbst. "Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" Wenn Gott zwischen uns und jedem Feind steht, was haben wir dann zu fürchten? Wenn Er es unternimmt, jedem Ankläger zu ant­worten, dann ist mit Sicherheit ein vollkommener Friede unser Teil. Aber der König von Moab hoffte immer noch, sein Ziel zu erreichen. Zweifellos hoffte es auch Bileam, denn beide hatten sich miteinander gegen das Israel Gottes verbündet. Sie erinnern uns auf diese Weise sehr stark an das Tier und den falschen Propheten, die noch kommen und in der Zukunft Israels eine schreckliche Rolle spielen werden, wie die Offenbarung uns sagt.

 

"Und als Bileam sah, daß es gut war in den Augen des HERRN, Israel zu segnen, so ging er nicht, wie die anderen Male, auf Wahrsagerei aus [was für eine schreckliche Enthüllung ist das!], sondern richtete sein Angesicht nach der Wüste hin. Und Bileam erhob seine Augen und sah Israel gelagert nach seinen Stämmen; und der Geist Gottes kam über ihn. Und er hob seinen Spruch an und sprach: Es spricht Bileam, der Sohn Beors, und es spricht der Mann geöffneten Auges; es spricht, der da hört die Worte Gottes, der ein Gesicht des Allmächtigen sieht, der hinfällt und enthüllter Augen ist: Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel! Gleich Tälern breiten sie sich aus, gleich Gärten am Strome, gleich Aloebäumen, die der HERR gepflanzt hat, gleich Zedern am Gewässer! Wasser wird fließen aus seinen Eimern, und sein Same wird in großen Wassern sein; und sein König wird höher sein als Agag; und sein Königreich wird erhaben sein. Gott hat ihn aus Ägypten herausgeführt; sein ist die Stärke des Büf­fels. Er wird die Nationen, seine Feinde, fressen [schreckliche Ankündi­gung für Balak!] und ihre Gebeine zermalmen und mit seinen Pfeilen sie zerschmettern. Er duckt sich, er legt sich nieder wie ein Löwe und wie eine Löwin; wer will ihn aufreizen? Die dich segnen, sind gesegnet, und die dich verfluchen, sind verflucht" (Kap. 24, 1‑9)!

 

"Höher und immer höher!" ist hier das Motto. "Immer herrlicher!" mögen wir wohl ausrufen, wenn wir auf den Gipfel der Felsen steigen und auf die herrlichen Worte hören, die der falsche Prophet aussprechen muß. Die Sache wird immer besser für Israel und immer schlechter für Balak. Er muß nicht nur hören, wie Israel gesegnet, sondern auch, wie er selbst verflucht wird, weil er das Volk hatte verfluchen wollen.

 

Beachten wir besonders die reiche Gnade, die wir in diesem dritten Spruch sehen! "Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!" Wenn jemand hinabgestiegen wäre und sich diese Zelte und Wohnungen angesehen hätte, dann wären sie ihm wohl "schwarz wie die Zelte Kedars" erschienen, aber "in dem Gesicht des Allmächtigen', betrachtet waren sie schön, und wer dies nicht erkennen konnte, hatte nötig, daß ihm "geöffnete Augen" gegeben wurden. Wenn ich die Kinder Gottes "vom Gipfel der Felsen" aus betrachte, so werde ich sie sehen, wie Gott sie sieht, werde sehen, daß sie mit der ganzen Schön­heit Christi bekleidet sind, vollkommen in Ihm, begnadigt in dem Ge­liebten. Das wird mich befähigen, mit ihnen auszukommen, Gemein­schaft mit ihnen zu haben, ihre Flecken und Fehler, ihre Gebrechen und Schwachheiten zu übersehen.*) Wenn ich sie nicht von diesem hohen, göttlichen Standpunkt aus betrachte, dann wird mein Auge mit Sicher­heit an irgendeinem kleinen Fehler hängen bleiben. Das wird meine Gemeinschaft beeinträchtigen und meine Zuneigung schwächen.

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*) Diese Behauptung berührt in keiner Weise die Frage der Zucht im Hause Gottes. Wir sind verpflichtet, sittlich Böses und Irrtum in der Lehre zu richten (l. Kor. 5, 12, 13).

 

Was Israel betrifft, so werden wir schon im nächsten Kapitel sehen, in was für eine schreckliche Sünde es fiel. Änderte dies das Urteil Gottes? Gewiß nicht! "Er ist nicht ein Menschensohn, daß er bereue." Er richtete und züchtigte sie um ihrer Sünde willen, weil Er heilig ist und in Seinem Volk nie etwas dulden kann, was Seiner Natur wider­spricht. Aber Er konnte niemals Sein Urteil über sie widerrufen. Er kannte sie völlig. Er wußte, was sie waren und was sie tun würden; aber dennoch sagte Er: "Ich erblicke keine Ungerechtigkeit in Jakob und sehe kein Unrecht in Israel. Wie schön sind deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!" Bedeutete das, ihre Sünde zu verharmlosen? Nein! Er konnte sie wegen ihrer Sünden züchtigen; aber sobald ein Feind auf­tritt, um sie zu verfluchen oder anzuklagen, steht Er vor Seinem Volk und sagt: "Ich sehe kein Unrecht" ‑ "wie schön sind deine Zelte!"

 

Aber nicht nur die Zelte Israels sind schön in den Augen des HERRN, sondern auch das Volk selbst wird vorgestellt als ein Volk, das nahe bei den Quellen der Gnade und des lebendigen Dienstes bleibt, die sich in Gott finden. "Gleich Tälern breiten sie sich aus, gleich Gärten am Strome, gleich Aloebäumen, die der HERR gepflanzt hat, gleich Cedern am Gewässer!" Wie unendlich schön! Und was für ein Gedanke, daß wir diese erhabenen Aussprüche dem gottlosen Bündnis zwischen Balak und Bileam zu verdanken haben!

 

Doch das ist noch nicht alles. Wir sehen nicht nur Israel selbst an den ewigen Quellen der Gnade und des Heils trinken, sondern es wird auch, wie dies immer der Fall sein muß, zu einem Kanal des Segens für andere. "Wasser wird fließen aus seinen Eimern." Es ist der feste Plan Gottes, daß die zwölf Stämme Israels zu einem Mittel reichen Segens für alle Enden der Erde werden sollen. Wir sehen das in Schriftstellen wie Hes. 47 und Sach. 14, die die wunderbare Fülle und Schönheit des­sen zeigen, was die herrlichen Sprüche Bileams andeuten. Man kann mit großem geistlichen Nutzen über diese und ähnliche Schriftstellen nach­denken; nur muß man sich vor der verhängnisvollen falschen Vergeist­lichung der Weissagungen hüten, die vor allem darin besteht, daß man den besonderen Segen des Hauses Israel auf die Kirche überträgt und Israel nur die Flüche eines gebrochenen Gesetzes läßt. Israel ist geliebt um der Väter willen und "die Gnadengaben und die Berufung Gottes sind unbereubar" (Röm. 11, 29).

 

Wir schließen diesen Abschnitt mit einem kurzen Hinweis auf den letzten Spruch Bileams. Als Balak ein so glühendes Zeugnis über die Zukunft Israels und die Vernichtung aller seiner Feinde hörte, war er tief enttäuscht und sehr aufgebracht. "Da entbrannte der Zorn Balaks wider Bileam, und er schlug seine Hände zusammen; und Balak sprach zu Bileam: Meine Feinde zu verwünschen habe ich dich gerufen, und siehe, du hast sie sogar gesegnet, nun dreimal! Und nun fliehe an deinen Ort. Ich hatte gesagt, ich wolle dich hoch ehren; und siehe, der HERR hat dir die Ehre verwehrt. Und Bileam sprach zu Balak“ Habe ich nicht auch zu deinen Boten, die du zu mir gesandt hast, geredet und gesagt“. Wenn Balak mir sein Haus voll Silber und Gold gäbe [gerade das, nach dem sein Herz sich so sehr sehnte!], so vermöchte ich nicht, den Befehl des HERRN zu übertreten, um aus meinem eigenen Herzen Gutes oder Böses zu tun; was der HERR reden wird, das werde ich reden! Und nun siehe, ich gehe zu meinem Volke. Komm, ich will dir anzeigen, was dieses Volk deinem Volk tun wird am Ende der Tage. Und er hob seinen Spruch an und sprach: Es spricht Bileam, der Sohn Beors, und es spricht der Mann geöffneten Auges; es spricht der da hört die Worte Gottes, und der die Erkenntnis des Höchsten besitzt, der ein Gesicht des Allmächtigen sieht, der hinfällt und enthüllter Augen ist: Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich schaue ihn, aber nicht nahe; es tritt hervor ein Stern aus Jakob, und ein Zepter erhebt sich aus Israel und zerschlägt die Seiten Moabs und zerschmettert alle Söhne des Getümmels" (V. '10‑17).

 

Das macht das, was diese Sprüche sagen, so vollständig. Dem präch­tigen Gebäude wird hier der Schlußstein eingefügt. Das ist wirklich Gnade und Herrlichkeit. Im ersten Spruch sehen wir die völlige Ab­sonderung des Volkes, im zweiten seine vollkommene Rechtfertigung, im dritten seine moralische Schönheit und seine Fruchtbarkeit, und im vierten stehen wir jetzt in der Tat auf der Spitze der Hügel, auf dem höchsten Punkt der Felsen und überblicken die weiten Ebenen der Herr­lichkeit in ihrer ganzen Länge und Breite, wie sie sich in eine unbe­grenzte Zukunft hinein erstrecken. Wir sehen, wie der Löwe aus dem Stamme Juda sich duckt; wir hören sein Brüllen; wir sehen, wie er sich auf alle seine Feinde stürzt und sie vernichtet. Der Stern aus Jakob geht auf, um nie wieder unterzugehen. Der wahre David besteigt den Thron seines Vaters, Israel ist das erste Volk auf der Erde, und alle seine Feinde sind mit Schande und ewiger Verachtung bedeckt.

 

Unmöglich kann man sich etwas Erhabeneres vorstellen als diese Sprüche, und sie sind um so bemerkenswerter, als sie gerade am Schluß der Wanderungen Israels durch die Wüste ausgesprochen werden, wäh­rend der sie so reichliche Beweise von dem abgeliefert hatten, was sie waren, und was ihre Fähigkeiten und ihre Neigungen waren. Aber Gott stand über allem, und nichts kann Seine Liebe verändern. Wen Er liebt, den liebt Er bis ans Ende mit derselben Liebe. Daher mußte die Verbindung zwischen Balak und Bileam mißlingen. Israel war von Gott gesegnet und sollte von niemandem verwünscht werden. ‑ "Und Bileam machte sich auf und ging und kehrte zurück an seinen Ort; und auch Balak zog seines Weges."

 

Kapitel 25

 

IN SITTIM. PINEHAS

 

Hier erschließt sich uns eine neue Szene. Wir sind auf der Spitze des Pisga gewesen und haben dem Zeugnis Gottes über Israel zugehört. Dort war alles strahlend und hell ohne eine Wolke, ohne einen Flecken. Aber sobald wir in die Ebene Moabs hinabsteigen, sehen wir alles verändert. Vorher hatten wir es mit Gott und Seinen Gedanken zu tun, hier begegnen wir dem Volk und seinen Wegen. Was für ein Gegen­satz! Er erinnert uns an den Anfang und den Schlug von 2. Kor. 12. Die ersten Verse zeigen die herrliche Stellung des Christen, die letzten den Zustand, in den er geraten kann, wenn er nicht wachsam ist. In den ersten Versen sehen wir einen "Menschen in Christus‑, der fähig ist, jeden Augenblick ins Paradies entrückt zu werden, in den letzten dagegen Heilige Gottes, die fähig sind, in allerlei Sünden und Tor­heiten zu verfallen.

 

Derselbe Gegensatz begegnet uns bei Israel, je nachdem ob wir es "von dem Gipfel der Felsen", in "dem Gesicht des Allmächtigen" oder in den Ebenen Moabs betrachten. Von dort aus zeigt sich seine voll­kommene Stellung, hier sein unvollkommener Zustand. Die Sprüche Bileams geben uns Gottes Urteil über die Stellung Seines Volkes be­kannt, während der Speer des Pinehas uns Sein Gericht über seinen Zustand zeigt. Gott wird Seinen Beschluß hinsichtlich der Stellung Seines Volkes nie ändern; doch muß Er es richten und züchtigen, wenn ihre Wege nicht mit dieser Stellung übereinstimmen. Es ist Sein gnä­diger Wille, daß ihr Zustand ihrer Stellung entspricht. Aber an dieser Stelle kommt leider das Versagen hinzu. Der Natur wird erlaubt, auf mancherlei Weise zu wirken, und unser Gott ist gezwungen, die Zucht­rute zu nehmen, damit das Böse, dem wir erlaubt haben, daß es sich offenbare, vernichtet und unterdrückt wird.

 

So ist es in diesem 25. Kapitel. Nachdem Bileams Versuch, Israel zu verfluchen, gescheitert war, trachtete er danach, sie durch List zur Sünde zu verführen; er hoffte auf diese Weise sein Ziel zu erreichen. Leider gelang ihm das nur zu gut. Wir lesen: "Und Israel hängte sich an den Baal‑Peor; und der Zorn des HERRN entbrannte wider Israel. Da sprach der HERR zu Mose: Nimm alle Häupter des Volkes und hänge sie dem HERRN auf vor der Sonne, damit die Glut des Zornes des HERRN sich von Israel abwende" (V. 3. 4). Dann folgt der Bericht von dem Eifer und der Treue des Pinehas. "Und der HERR redete zu Mose und sprach: Pinehas, der Sohn Eleasars, des Sohnes Aarons, des Priesters, hat meinen Grimm von den Kindern Israel abgewendet, indem er in meinem Eifer in ihrer Mitte geeifert hat, so daß ich die Kinder Israel nicht in meinem Eifer vertilgt habe. Darum sprich: Siehe, ich gebe ihm meinen Bund des Friedens; und er wird ihm und seinem Samen nach ihm ein Bund ewigen Priestertums sein, darum daß er für seinen Gott geeifert und für die Kinder Israel Sühnung getan hat" (V. 10‑13).

 

Die Ehre Gottes und das Wohl Israels waren die beiden Dinge, durch die sich Pinehas bei dieser Gelegenheit leiten ließ. Es war ein entschei­dender Augenblick. Er fühlte, daß sehr ernst gehandelt werden mußte. Es war nicht die Zeit für falsche Nachsicht. Es gibt in der Geschichte des Volkes Gottes Augenblicke, in denen Nachsicht gegen Menschen zur Untreue gegen Gott wird, und es ist sehr wichtig, daß man fähig ist, solche Augenblicke zu erkennen. Das entschlossene Handeln des Pine­has rettete die ganze Gemeinde, verherrlichte den HERRN in der Mitte Seines Volkes und vereitelte die Absicht des Feindes. Bileam fiel unter den gerichteten Midianitern, Pinehas aber erlangte ein ewiges Prie­stertum.

 

Das ist die ernste Belehrung, die in diesem kurzen Abschnitt unseres Buches enthalten ist. Möchten wir daraus lernen. Möchte der Geist Gottes uns ein tiefes, bleibendes Gefühl von der Vollkommenheit unserer Stellung in Christus geben, damit unser praktisches Leben mehr damit in Übereinstimmung sei!

 

Kapitel 26

 

DIE ZWEITE ZÄHLUNG DES VOLKES

 

obwohl dieses Kapitel eines der längsten in unserem Buch ist, braucht es doch nicht viele Bemerkungen oder Erklärungen. Es berichtet uns von der zweiten Zählung des Volkes, als es im Begriff stand, in das verheißene Land hineinzugehen. Welch ein trauriger Gedanke ist es, daß von den sechshunderttausend Kriegsmännern der ersten Zählung nur zwei übriggeblieben waren: Josua und Kaleb! Alle übrigen waren "in der Wüste gefallen". Die beiden Männer mit ihrem einfachen Glau­ben waren am Leben geblieben, um den Lohn ihres Glaubens zu empfangen.

 

Wie ernst ist das! Was für eine Lehre und was für eine Warnung ist das für uns! Der Unglaube hinderte die erste Generation daran, in das Land Kanaan einzugehen. Er war die Ursache, daß sie in der Wüste starben. Auf diese Tatsache gründet der Heilige Geist Seine so ein­dringlichen Warnungen und Ermahnungen in Hebr. 3, 7‑4, 2, an deren Schluß es heißt: "Denn auch uns ist eine gute Botschaft verkündigt worden, gleichwie auch jenen; aber das Wort der Verkündigung nützte Jenen nicht, weil es bei denen, die es hörten, nicht mit dem Glauben vermischt war."

 

Hier liegt ein großes Geheimnis für die Praxis: das Wort Gottes, mit dem Glauben vermischt. Eine wertvolle Vermischung! Es ist das einzige, was einem Menschen wirklich nutzen kann. Wir mögen vieles hören, vieles reden, ein hohes Bekenntnis ablegen; aber wir können sicher sein, daß das Maß von wirklich geistlicher Kraft, von der Kraft, die die Schwierigkeiten und die Welt zu überwinden vermag, einfach dem Maß entspricht, in dem das Wort Gottes mit dem Glauben gemischt ist.

 

Dieses Wort ist für ewig fest in den Himmeln; und wenn es durch den Glauben in unseren Herzen befestigt ist, so ist ein göttliches Band vorhanden, das uns mit dem Himmel und mit allem verbindet, was dem Himmel angehört. In demselben Verhältnis aber, wie unsere Herzen mit dem Himmel und mit Christus, der dort ist, verbunden sind, wer­den wir in der Praxis von dieser gegenwärtigen Welt getrennt und über ihren Einfluß erhoben. Der Glaube ergreift Besitz von allem, was Gott gegeben hat. Er tritt in den Raum innerhalb des Vorhangs ein. Er harrt aus, als sähe er den Unsichtbaren. Er beschäftigt sich mit dem, was unsichtbar und ewig, und nicht mit dem, was sichtbar und zeitlich ist. Menschen halten irdischen Besitz für sicher. Der Glaube kennt nichts Sichereres als Gott und Sein Wort. Er nimmt Gottes Wort und bewahrt es im Innersten seines Herzens als einen verborgenen Schatz ‑das einzige, was ein Schatz genannt zu werden verdient. Der glückliche Besitzer dieses Schatzes wird völlig unabhängig von der Welt. Er mag hinsichtlich der vergänglichen Reichtümer dieser Welt arm sein; aber wenn er reich ist im Glauben, dann besitzt er einen unermeßlichen Schatz, bleibende Reichtümer und Gerechtigkeit, Aen unausforschlichen Reichtum des Christus" (Eph. 3, 8).

 

Nun, es war der Mangel an diesem Glauben, der Israel außerhalb Kanaans hielt, und der verursachte, daß sechshunderttausend Leiber in der Wüste fielen. Der Mangel an diesem Glauben ist es auch, der Tausende von Kindern Gottes in Knechtschaft und Finsternis hält, wäh­rend sie in der Freiheit und im Licht leben sollten. Er drückt sie nieder und hält sie in Dunkelheit, während sie in der Freude und Kraft des vollkommenen Heils Gottes und in der Hoffnung der Herrlichkeit ihren Weg gehen sollten.

 

Kapitel 27

 

DIE TÖCHTER ZELOPHCHADS. JOSUAS BERUFUNG

 

Das Betragen der Töchter Zelophchads, worüber uns der Anfang dieses Kapitels berichtet, steht in einem auffallenden und schönen Gegensatz zu dem Unglauben, den wir soeben gesehen haben. Diese Frauen gehörten jedenfalls nicht zu denen, die immer bereit sind, den göttlichen Boden zu verlassen, den göttlichen Maßstab herabzusetzen und auf Vorrechte zu verzichten, die die göttliche Gnade gegeben hat. Sie waren durch die Gnade entschlossen, mit heiliger und kühner Entschiedenheit von dem Besitz zu ergreifen, was Gott gegeben hatte. Wir lesen:

 

"Und es nahten herzu die Töchter Zelophchads, des Sohnes Hephers, des Sohnes Gileads, des Sohnes Makirs, des Sohnes Manasses, von den Geschlechtern Manasses, des Sohnes Josephs; und dies waren die Na­men seiner Töchter: Machla, Noa und Chogla und Milka und Tirza. Und sie traten vor Mose und vor Eleasar, den Priester, und vor die Für­sten und die ganze Gemeinde an den Eingang des Zeltes der Zusam­menkunft und sprachen: Unser Vater ist in der Wüste gestorben; er war aber nicht unter der Rotte derer, die sich in der Rotte Korahs wider den HERRN zusammenrotteten, sondern er ist in seiner Sünde gestor­ben; und er hatte keine Söhne. Warum soll der Name unseres Vaters abgeschnitten werden aus der Mitte seines Geschlechts, weil er keinen Sohn hat? Gib uns ein Eigentum unter den Brüdern unseres Vaters

(V. 1‑4)!

 

Wie außerordentlich schön ist das! Es ist gut, solche Worte zu lesen in einer Zeit wie der unsrigen, in der die wahre Stellung und das Teil des Volkes Gottes so gering gemacht werden und wo so viele sich damit begnügen, jahraus und jahrein dahinzuleben, ohne nach den Dingen zu fragen, die ihnen von Gott so freigebig geschenkt sind. Es ist trau­rig, die Nachlässigkeit und die völlige Gleichgültigkeit zu sehen, mit der viele Gläubige so große und wichtige Fragen wie die der Stellung, des praktischen Lebens und der Hoffnung sowohl des Gläubigen als auch der Kirche Gottes behandeln. Wir sündigen gegen die reiche Gnade, die uns geschenkt ist und verunehren zugleich den Herrn, wenn wir .nur einen Punkt der göttlichen Offenbarungen über die Stellung und das Teil der Kirche Gottes oder des einzelnen Gläubigen gleichgültig hinnehmen. Wenn es Gott in Seiner großen Gnade gefallen hat, uns als Christen wertvolle Vorrechte zu geben, sollten wir dann nicht mit allem Ernst danach streben, diese Vorrechte kennenzulernen? Sollten wir nicht suchen, sie uns in einfachem Glauben anzueignen? Behandeln wir unseren Gott und Seine Offenbarung auf würdige Weise, wenn es uns gleichgültig ist, ob wir Knechte oder Söhne sind, ob der Heilige Geist in uns wohnt oder nicht, ob wir uns unter dem Gesetz oder unter der Gnade befinden, ob unsere Berufung eine himmlische oder eine ir­dische ist?

 

Sicher nicht. Wenn etwas klar und bestimmt in der Schrift gelehrt wird, so ist es dies, daß Gott Sein Wohlgefallen an denen hat, die die Vor­sorge Seiner Liebe schätzen und genießen, die ihre Freude in Ihm selbst finden. Wir sehen hier diese Töchter Josephs (so können wir sie nen­nen) ohne Vater ‑ hilflos und verlassen, wenn man sie vorn Stand­punkt der Natur aus betrachtet. Der Tod hatte das sichtbare Band zer­schnitten, das sie mit dem Erbteil des Volkes Gottes verknüpfte. Was nun? Begnügten sie sich damit, es aufzugeben? War es ihnen gleich­gültig, ob sie mit dem Israel Gottes einen Platz und ein Teil haben sollten? Nein, diese hervorragenden Frauen offenbaren etwas, das wir uns sehr gut ansehen und das wir nachzuahmen versuchen sollten; etwas, das ‑ wie wir wohl sagen dürfen ‑ das Herz Gottes erquickte. Sie waren überzeugt, daß es im Land der Verheißung für sie ein Teil geben würde, das ihnen weder der Tod noch irgend etwas, was in der Wüste geschehen war, jemals rauben konnte. "Warum soll der Name unseres Vaters abgeschnitten werden aus der Mitte seines Geschlechts, weil er keinen Sohn hat?" Konnten Tod und das Fehlen männlicher Nachkommen, konnte irgend etwas die Güte Gottes aufheben? Unmög­lich! "Gib uns ein Eigentum unter den Brüdern unseres Vaters."

 

Was für schöne Worte ‑ Worte, die unmittelbar zu dem Thron und dem Herzen des Gottes Israels emporstiegen! Sie waren ein mächtiges Zeugnis, das vor den Ohren der ganzen Gemeinde abgelegt wurde. Mose war verblüfft. Hier war etwas, was über den Zuständigkeits­bereich des Gesetzgebers hinausging. Mose war ein Knecht, und zwar ein gesegneter und geehrter Knecht. Aber im Verlauf dieses wunder­baren Buches der Wüste erheben sich immer wieder Fragen, die er nicht beantworten kann, z. B. bei den Verunreinigten in Kapitel 9 und hier bei den Töchtern Zelophchads.

 

"Und Mose brachte ihre Rechtssache vor den HERRN. Und der HERR redete zu Mose und sprach: Die Töchter Zelophchads reden recht; du sollst ihnen sicherlich ein Erbbesitz unter den Brüdern ihres Vaters geben, und sollst das Erbteil ihres Vaters auf sie übergehen lassen­(V. 5‑7).

 

Das war ein herrlicher Sieg in der Gegenwart der ganzen Gemeinde. Ein kühner und einfacher Glaube kann immer sicher sein, daß er be­lohnt wird. Er verherrlicht Gott, und Gott ehrt ihn. In der ganzen Heiligen Schrift, im Alten und Neuen Testament, begegnen wir übe all derselben Wahrheit, daß Gott an einem kühnen und einfachen Glauben Sein Wohlgefallen hat, an einem Glauben, der alles das, was Gott gegeben hat, ergreift und festhält, der sich entschieden weigert, selbst angesichts der Schwachheit der Natur und des Todes den geringsten Teil des von Gott verliehenen Erbteils aufzugeben. Obwohl die Gebeine Zelophchads im Staub der Wüste lagen, obwohl keine männlichen Nachkommen vorhanden waren, um seinen Namen zu erhalten, konnte sich dennoch der Glaube über alles das erheben und mit der Treue des HERRN rechnen, daß Er alles das erfüllen würde, was Er verheißen hatte.

 

"Die Töchter Zelophchads reden recht." Sie tun es immer. Ihre Worte sind Worte des Glaubens, und als solche sind sie nach dem Urteil Got­tes immer recht. Es ist etwas Schreckliches, dem "Heiligen Israels" Schranken zu setzen. Er hat Gefallen daran, wenn man Ihm vertraut und Ihn handeln läßt. Es ist völlig unmöglich, daß der Glaube zu hohe Anforderungen an Gott stellen könnte. Gott kann den Glaubenden ebensowenig enttäuschen, wie Er sich selbst verleugnen kann. Er kann dem Glaubenden nie antworten: "Du hast dich verrechnet. Du hast einen zu hohen und zu kühnen Standpunkt. Steige herab und verringere deine Erwartungen." Nein, das einzige, was in dieser Welt das Herz Gottes wirklich erfreut, ist der Glaube, der einfach auf Ihn vertraut.

 

Und wir dürfen sicher sein, daß der Glaube, der Ihm zu vertrauen vermag, auch zugleich der Glaube ist, der Ihn lieben, Ihm dienen und Ihn preisen kann.

 

Wir sind darum den Töchtern Zelophchads sehr zu Dank verpflichtet. Sie geben uns eine Belehrung von unschätzbarem Wert. Außerdem gab ihre Handlungsweise Anlaß zur Enthüllung einer neuen Wahrheit, die die Grundlage einer göttlichen Regelung für alle späteren Generationen bilden sollte. Der Herr befahl Mose und sprach: Wenn ein Mann stirbt und keinen Sohn hat, so sollt ihr sein Erbteil auf seine Tochter übergehen lassen."

 

Hier wird hinsichtlich des Erbrechts ein Grundsatz aufgestellt, von dem wir, menschlich gesprochen, ohne den Glauben und das entsprechende Verhalten dieser bemerkenswerten Frauen nichts erfahren hätten. Wären sie zaghaft und ungläubig gewesen und hätten sie sich gescheut, vor die ganze Gemeinde hinzutreten und die Rechte des Glaubens in Anspruch zu nehmen, dann hätten nicht nur sie ihr eigenes Erbteil und ihren Segen verloren, sondern alle verwaisten Töchter Israels in spä­teren Tagen ebenfalls. So aber bewahrten sie ihr Erbteil, empfingen den Segen, erhielten ein Zeugnis von Gott und ihre Namen erscheinen auf den Blättern der Heiligen Schrift. Ihr Verhalten gab Anlag zu einer göttlichen Verordnung, die für alle künftigen Geschlechter maßgebend war.

 

Wir müssen uns jedoch daran erinnern, daß anderseits eine Gefahr gerade aus der Würde und Erhabenheit erwächst, die der Glaube denen verleiht, die durch die Gnade fähig sind, ihn auszuleben. Gegen diese Gefahr müssen wir sorgfältig auf der Hut sein. Das zeigt sich treffend in der ferneren Geschichte der Töchter Zelophchads, wie sie uns im letzten Kapitel unseres Buches erzählt wird. "Und es traten herzu die Häupter der Väter vom Geschlecht der Söhne Gileads, des Sohnes Makirs, des Sohnes Manasses, aus den Geschlechtern der Söhne Jo­sephs; und sie redeten vor Mose und vor den Fürsten, den Häuptern der Väter der Kinder Israel, und sprachen: Der HERR hat meinem Herrn geboten, den Kindern Israel das Land durchs Los als Erbteil zu geben; und meinem Herrn ist von dem HERRN geboten worden, das Erbteil Zelophchads, unseres Bruders, seinen Töchtern zu geben. Werden sie nun einem von den Söhnen der anderen Stämme der Kinder Israel zu Weibern, so wird ihr Erbteil dem Erbteil unserer Väter entzogen und zu dem Erbteil des Stammes hinzugefügt werden, wel­chem sie angehören werden; und dem Lose unseres Erbteils wird es entzogen werden. Und auch wenn das Jubeljahr der Kinder Israel kommt, wird ihr Erbteil zu dem Erbteil des Stammes hinzugefügt werden, welchem sie angehören werden; und ihr Erbteil wird dem Erbteil des Stammes unserer Väter entzogen werden. Da gebot Mose den Kindern Israel, nach dem Befehle des HERRN, und sprach: Der Stamm der Kinder Joseph redet recht" (Kap. 36, 1‑5).

 

Die "Väter" des Hauses Joseph müssen ebenso gehört werden wie die "Töchter". Der Glaube der letzteren war sehr schön, aber gerade in dem bevorzugten Platz, zu dem ihr Glaube sie erhoben hatte, lag die Ge­fahr für sie, die Rechte anderer zu vergessen und die Grenzen zu ver­setzen, die das Erbteil ihrer Väter sicherten. Das durfte nicht sein. So war es weise von den Vätern, für den Fall einer Heirat der Töchter Zelophchads mit Männern aus einem anderen Stamm Vorsorge zu treffen. Wir brauchen Bewahrung in jeder Hinsicht, damit der Glaube unverletzt und das Zeugnis rein erhalten bleibt. Wir sollen nicht die Dinge mit erhobener Hand und starkem Willen durchsetzen wollen ‑mag auch unser Glaube noch so stark sein ‑ sondern wir sollen immer bereit sein, uns der korrigierenden Macht der ganzen Wahrheit Gottes zu überlassen.

 

"Dies ist das Wort, welches der HERR betreffs der Töchter Zelophchads geboten hat, indem er sprach: Sie mögen dem, der in ihren Augen gut ist, zu Weibern werden; nur sollen sie einem aus dem Geschlecht des Stammes ihres Vaters zu Weibern werden, damit nicht ein Erbteil der Kinder Israel von Stamm zu Stamm übergehe; denn die Kinder Israel sollen ein jeder dem Erbteil des Stammes seiner Väter anhangen.

 

» So wie der HERR dem Mose geboten hatte, also taten die Töchter Zelophchads. Und Machla, Tirza und Chogla und Milka und Noa, die Töchter Zelophchads, wurden den Söhnen ihrer Oheime zu Weibern. Männern aus den Geschlechtern der Kinder Manasse, des Sohnes Josephs, wurden sie zu Weibern. Und so verblieb ihr Erbteil bei dem Stamme des Geschlechts ihres Vaters."

 

So ist alles geordnet. Das Wirken des Glaubens wird von der Wahrheit Gottes geleitet, und persönliche Rechte werden mit den Interessen aller in Übereinstimmung gebracht. Zugleich wird der Ehre Gottes so voll­kommen entsprochen, daß für die Zeit des Jubeljahres eine Verwirrung in den Grenzen Israels ausgeschlossen und die Unversehrtheit des Erb­teils gemäß der göttlichen Anordnung gesichert ist.

 

Der letzte Abschnitt unseres Kapitels ist ernst. Die Wege der Regierung Gottes werden in einer Weise gezeigt, die uns tief beeindruckt. "Und der HERR sprach zu Mose: Steige auf dieses Gebirge Abarim und sieh das Land, das ich den Kindern Israel gegeben habe. Und hast du es gesehen, so wirst auch du zu deinen Völkern versammelt werden, so wie dein Bruder Aaron versammelt worden ist; weil ihr in der Wüste Zin, beim Hadern der Gemeinde, widerspenstig gewesen seid gegen meinen Befehl, mich durch das Wasser vor ihren Augen zu heiligen" (V. 12‑14).

 

Mose darf nicht über den Jordan gehen. Es ist nicht nur so, daß nicht er das Volk offiziell hinüberführen kann, sondern auch er selbst darf nicht gehen. Das war der Regierungsbeschluß Gottes. Aber anderseits sehen wir die Gnade in ungewöhnlichem Glanz strahlen in der Tat­sache, daß Mose von Gottes eigener Hand auf den Gipfel des Pisga geführt wird. Von dort aus sieht er das Land der Verheißung in seiner ganzen Pracht, nicht nur so, wie Israel es nachher besaß, sondern so, wie Gott es ursprünglich gegeben hatte.

 

Das war die Frucht der Gnade, die sich noch deutlicher am Schluß des 5. Buches Mose zeigt. Dort wird uns Zugleich erzählt, daß Gott seinen Knecht begrub. Ist das nicht wunderbar? Es gibt wirklich nichts Ver­gleichbares in der Geschichte der Heiligen Gottes. Mose hatte mit seinen Lippen unbedacht geredet, und deshalb durfte er nicht den Jordan überschreiten. Das war Gott in Seiner Regierung. Aber dann wurde er auf den Pisga hinaufgeführt, um dort in Gemeinschaft mit dem HERRN das ganze Erbteil zu sehen. Und schließlich machte der HERR ein Grab für Seinen Knecht und begrub ihn darin. Das war Gott in Gnade, in dieser wunderbaren, unvergleichlichen Gnade, die immer "aus dem Fresser Fraß und aus dem Starken Süßigkeit" kommen läßt. Wie herr­lich ist es, Gegenstand einer solchen Gnade zu sein!

 

Wir schließen diesen Abschnitt mit einem kurzen Hinweis auf die schöne Uneigennützigkeit Moses bei der Bestimmung seines Nachfolgers. Die­ser gesegnete Mann Gottes zeichnete sich immer aus durch einen Geist der Uneigennützigkeit, diese seltene und bewundernswerte Gnade. Wir sehen ihn nie seine eigenen Interessen suchen; im Gegenteil, wenn sich ihm eine Gelegenheit bot, seinen eigenen Ruf und sein Glück zu suchen, zeigte er wieder und wieder, daß die Ehre Gottes und das Wohl Seines Volkes sein Herz so sehr ausfüllten, daß für persönliche Rück­sichten kein Raum blieb.

 

So ist es auch in diesem Abschnitt unseres Kapitels. Als Mose hörte, daß er nicht über den Jordan gehen soll, bewegen ihn nicht Trauer und Schmerz, sondern er denkt einzig und allein an die Interessen der Ge­meinde. "Und Mose redete zu dem HERRN und sprach: Es bestelle der HERR, der Gott der Geister alles Fleisches, einen Mann über die Gemeinde, der vor ihnen her aus‑ und einziehe, und der sie aus ‑ und einführe; damit die Gemeinde des HERRN nicht sei wie Schafe, die keinen Hirten haben" (V. 15‑17).

 

Was für uneigennützige Worte sind das! Wie wertvoll müssen sie für das Herz Gottes gewesen sein, der Sein Volk so sehr liebte und so unermüdlich umsorgte! Wenn nur dem entsprochen war, was Israel brauchte, war Mose zufrieden. Wenn nur das Werk ausgeführt wurde ‑ ihm lag nichts daran, wer es tat. Im Blick auf seine Person, seine Interessen und seine Bestimmung konnte er ruhig alles der Hand Gottes überlassen. Er wußte, daß Gott für ihn sorgen würde; aber er ist wegen des geliebten Volkes Gottes bewegt. In demselben Augen­blick, als er Josua als dessen Führer eingesetzt sieht, ist er bereit, Abschied zu nehmen und ewig auszuruhen. Gesegneter Knecht! Glück­licher Mann! Möchte es doch unter uns nur einige wenige geben, die sich in geringem Maß durch diesen vortrefflichen Geist der Selbst­verleugnung und der eifersüchtigen Sorge für die Ehre Gottes und das Wohl Seines Volkes auszeichnen! Aber müssen wir nicht mit immer stärkerem Nachdruck die Worte des Apostels wiederholen: "Alle suchen das ihrige, nicht das, was Jesu Christi ist?" Möchten wir doch die Wahrheit lernen, nicht uns selbst, sondern dem zu leben, der für uns gestorben ist, der unserer Sünden wegen vom Himmel auf diese Erde gekommen und von der Erde in den Himmel zurückgegangen ist, wo Er sich mit unseren Schwachheiten beschäftigt, und der bald wieder­kommen wird zu unserem ewigen Heil und zu unserer immerwähren­den Herrlichkeit!

 

Kapitel 28 und 29

 

DIE OPFER ZUM LIEBLICHEN GERUCH

 

Diese beiden Kapitel bilden eine Einheit, einen besonderen Abschnitt unseres Buches. Der 2. Vers des 28. Kapitels gibt kurz den Inhalt des ganzen Abschnittes wieder. Und der HERR redete zu Mose und sprach: Gebiete den Kindern Israel und sprich zu ihnen: Meine Opfer­gabe, meine Speise zu meinen Feueropfern, mir zum lieblichen Geruch, sollt ihr acht haben mir darzubringen zu ihrer bestimmten Zeit" (Kap. 28, 1. 2).

 

Diese Worte geben den Schlüssel zu diesem Teil des 4. Buches Mose. "Meine Opfergabe", "meine Speise", "mein Feueropfer", "mir zum lieblichen Geruch", alles das ist stark betont, und wir können daraus leicht den großen Grundgedanken erkennen: Es ist Christus in Seiner Beziehung zu Gott; nicht so sehr Christus, wie Er dem entspricht, was wir brauchen ‑ obwohl Er das in segensreicher Weise tut ‑ sondern vielmehr Christus, wie Er das Herz Gottes erfreut. Er ist die Speise Gottes ‑ ein wirklich wunderbarer Ausdruck, an den wir selten den­ken und den wir nur wenig verstehen. Wir alle sind so sehr geneigt Christus nur als den Urheber unseres Heils zu betrachten, als den, durch den wir Vergebung empfangen haben und vor der Hölle gerettet wurden, als den Kanal, durch den alle Segnungen uns zufließen. Das alles ist Er, Sein Name sei ewig dafür gepriesen! Er ist der Urheber ewigen Heils für alle, die Ihm gehorchen. Er trug unsere Sünden an Seinem Leib auf dem Holz. Er starb, der Gerechte für die Ungerechten, damit Er uns zu Gott führe. Er errettete uns von unseren Sünden, von ihrer gegenwärtigen Macht und von ihren zukünftigen Folgen.

 

Alles das ist wahr, und daher wird auch in den vor uns liegenden beiden Kapiteln in jedem Abschnitt das Sündopfer eingeführt (siehe Kap. 28, 15. 22. 30; 29, 5. 11. 16. 19. 22. 25. 28. 31. 34. 38). Mehr als dreizehnmal wird das Sündopfer erwähnt, und dennoch bleibt es wahr, daß die Sünde oder die Sühnung der Sünde nicht das wichtigste Thema dieser Kapitel ist. In dem eingangs genannten Vers wird das Sündopfer nicht erwähnt, obwohl dieser Vers offensichtlich den Hauptinhalt der beiden Kapitel angibt. Vor dem 15. Vers wird das Sündopfer überhaupt nicht genannt.

 

Es ist kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß das Sündopfer insofern wesentlich ist, als es sich um den Menschen handelt und der Mensch ein Sünder ist. Man kann unmöglich von einem Hinzunahen des Men­schen zu Gott, von seinem Gottesdienst oder von seiner Gemeinschaft mit Gott reden, ohne den Versöhnungstod Christi als die notwendige Grundlage alles dessen zu nennen. Aber ist in Christus und Seinem Opfertod nicht mehr enthalten als nur das Aufsichnehmen unserer Sünden? Geht es dabei nicht um mehr als darum, daß Er allem ent­spricht, was wir bedürfen? Ganz gewiß! Von den siebzig Versen des vorliegenden Abschnitts erwähnen nur dreizehn das Sündopfer, wäh­rend die übrigen siebenundfünfzig sich ausschließlich mit den "Opfern lieblichen Geruchs" beschäftigen.

 

Das besondere Thema dieses Abschnitts ist also das Wohlgefallen Got­tes an Christus. Morgens und abends, Tag für Tag, Woche für Woche, von einem Neumond zum anderen, vom Anfang bis zum Schluß des Jahres ist es Christus in Seinem Wohlgeruch und in Seiner Kostbarkeit vor Gott. Daß unsere Sünde gesühnt, gerichtet und für immer weggetan ist, daß unsere Übertretungen vergeben sind und unsere Schuld ver­nichtet ist, ist die eine Wahrheit. Doch außer und über diesem wird das Herz Gottes durch Christus erquickt und erfreut. Was war das Lamm, das am Morgen und am Abend geopfert wurde? War es ein Sündopfer oder ein Brandopfer? Hören wir die Antwort in Gottes eige­nen Worten: "Und sprich zu ihnen: Dies ist das Feueropfer, das ihr dem HERRN darbringen sollt: zwei einjährige Lämmer ohne Fehl, täglich als beständiges Brandopfer. Das eine Lamm sollst du am Mor­gen opfern, und das zweite Lamm sollst du opfern zwischen den zwei Abenden; und zum Speisopfer ein zehntel Epha Feinmehl, gemengt mit einem viertel Hin zerstoßenen Öles; (ein beständiges Brandopfer, das am Berge Sinai eingesetzt wurde, zum lieblichen Geruch, ein Feueropfer dem HERRN)" (V. 3‑6).

 

Waren ferner die zwei Lämmer, die am Sabbath dargebracht werden mußten, ein Sündopfer oder ein Brandopfer? "Es ist das Brandopfer des Sabbaths an jedem Sabbath" (V. 10). Es mußte ein doppeltes Brandopfer sein, weil der Sabbath ein Bild von der Ruhe war, die für das Volk Gottes noch übrigbleibt und in der Christus doppelt gewürdigt werden wird. Doch der Charakter des Opfers ist klar: es stellt dar, was Christus für Gott ist. Das ist der Hauptgedanke im Brandopfer. Das Sündopfer stellt dar, was Christus für uns ist. In dem einen han­delt es sich um die Häßlichkeit der Sünde, in dem anderen um die Kost­barkeit und Vortrefflichkeit Christi.

 

Auch am Anfang ihrer Monate sollten sie ein Brandopfer bringen (V. 11), beim Fest der Erstlinge (V. 26‑31), beim Fest des Posaunen­halls (Kap. 29, 1‑6), beim Laubhüttenfest (V. 7‑38). Kurz, die ganze Reihe der Feste steht unter dem Leitgedanken: Christus, ein Wohl­geruch. Das Sündopfer fehlt nicht; aber den "Opfern zum lieblichen Geruch" ist der erste Platz angewiesen. Unmöglich kann man diesen bemerkenswerten Teil der Schrift mit Aufmerksamkeit lesen, ohne den Gegensatz zwischen dem Platz des Sündopfers und dem des Brand­opfers zu bemerken. Bei dem ersteren wird nur von "einem Ziegen­bock" gesprochen, wogegen uns das letztere in "vierzehn Lämmern", "dreizehn Farren" und dergleichen vorgestellt wird. So hervorragend also ist der Platz, den die "Opfer zum lieblichen Geruch" in diesen Schriftstellen einnehmen.

 

Aber es könnte gefragt werden, warum man dieser Tatsache so viel Gewicht beilegen soll. Deshalb, weil sie den wahren Charakter des Got­tesdienstes zeigt, den Gott sucht und an dem Er Sein Wohlgefallen hat. Das ganze Wohlgefallen Gottes ruht auf Christus, und daher sollte es unser beständiges Streben sein, Gott das zu bringen, woran Er Sein Wohlgefallen hat. Christus sollte immer der Inhalt unseres Gottesdien­stes sein, und dies wird in dem Maß der Fall sein, in dem wir durch den Geist Gottes geleitet werden. Wie oft ist es so ganz anders! Wie oft ist in der Versammlung wie auch, wenn man allein vor Gott ist, das Herz niedergedrückt und der Geist trübe und beschwert! Wir sind nicht mit Christus, sondern mit uns selbst beschäftigt, und statt daß der Heilige Geist von den Dingen Christi nehmen und sie uns verkündigen könnte, muß Er uns im Selbstgericht mit uns selbst beschäftigen, weil unser Wandel nicht gut war.

 

Alles das ist sehr traurig und verlangt unsere Beachtung. Warum ist das geistliche Niveau in unseren Zusammenkünften häufig so niedrig? Warum ist so viel Schwachheit, Dürre und Zerstreutheit vorhanden? Warum sind die Lieder und die Gebete so weit vom Thema entfernt? Warum ist so wenig von dem vorhanden, was den Namen "Gottes­dienst" wirklich verdient? Warum bringen wir so wenig von dem dar, was das Herz Gottes erquickt, was Er wirklich nennen kann: "Meine Speise zu meinen Feueropfern, mir zum lieblichen Geruch"? Wir sind mit uns selbst beschäftigt und mit dem, was uns umgibt, mit dem, was wir bedürfen, mit unserer Schwachheit, unseren Prüfungen und Schwie­rigkeiten, und so lassen wir Gott ohne die Speise Seines Opfers. Wir rauben Ihm in Wirklichkeit das, was Ihm gebührt und was Sein lieben­des Herz wünscht.

 

Sollen wir denn unsere Prüfungen, Schwierigkeiten und Schwachheiten ganz unbeachtet lassen? Gewiß nicht! Aber wir können sie Ihm über­geben. Er fordert uns auf, alle unsere Sorgen auf Ihn zu werfen, indem Er uns zugleich die beruhigende Zusicherung gibt, daß Er für uns sorgen will. Er lädt uns ein, unsere Last in der Zuversicht, daß Er uns unterstützen wird, auf Ihn zu werfen. Er denkt immer an uns. Ist das nicht genug? Sollten wir nicht, wenn wir uns in Seiner Gegenwart ver­sammeln, so weit von uns absehen können, daß wir Ihm etwas anderes als unsere eigenen Angelegenheiten darzubringen vermögen? Er hat für uns Vorsorge getroffen. Er hat für uns alles gut gemacht. Allen unseren Sünden und unseren Sorgen ist in göttlicher Weise begegnet. Wir sollen nicht denken, daß diese Dinge die Speise des Opfers Gottes seien. Er hat sie zu Gegenständen Seiner Sorge gemacht, aber sie können nicht Seine Speise genannt werden.

 

Sollten wir nicht an diese Dinge denken, sowohl in bezug auf die Ver­sammlung als auch hinsichtlich unserer persönlichen Gemeinschaft mit Ihm im Gebet? Sollten wir nicht nach einem Seelenzustand streben, der uns befähigt, Gott das darzubringen, was Er nach Seinem Wohl­gefallen "Seine Speise" genannt hat? Wir haben in Wahrheit nötig, daß sich unsere Herzen mehr mit Christus als einem Wohlgeruch für Gott beschäftigen. Das heißt nicht, daß wir das Sündopfer weniger schätzen sollten. Doch laßt uns daran denken, daß es in Jesus Christus, unserem teuren Herrn, mehr gibt als die Vergebung unserer Sünden und das Heil unserer Seelen. Was stellen das Brandopfer, das Speis­opfer und das Trankopfer dar? Christus als einen lieblichen Geruch, als

 

die Speise der Opfer Gottes, als die Wonne Seines Herzens. Aber sind wir nicht zu sehr geneigt, unsere Gedanken über Christus auf das zu beschränken, was Er für uns getan hat, und somit mehr oder weniger auszuschließen, was Er für Gott ist? Darüber sollten wir trauern und es richten. Wir sollten versuchen, es zu ändern, und ich glaube, daß ein sorgfältiges Erforschen der vorliegenden Kapitel ein gutes Hilfsmittel dafür ist.

 

Da ich in den "Gedanken zum 3. Buch Mose" schon geschrieben habe, was Gott uns an Licht über die Opfer und Feste geschenkt hat, glaube ich, hier nicht länger bei diesem Thema stehenbleiben zu müssen.

 

Kapitel 30

 

GELÜBDE UND EIDE

 

Die Bedeutung dieses kurzen Abschnitts steht in Verbindung mit der damaligen Haushaltung Gottes. Er bezieht sich auf Israel und behandelt die Frage der Gelübde und Eide. Der Mann und die Frau nehmen im Hinblick auf dieses Thema eine unterschiedliche Stellung ein. "Wenn ein Mann dem HERRN ein Gelübde tut oder einen Eid schwört, ein Verbündnis auf seine Seele zu nehmen, so soll er sein Wort nicht bre­chen: nach allem was aus seinem Munde hervorgegangen ist, soll er tun" (V. 3).

 

Hinsichtlich der Frau war die Sache anders. "Und wenn ein Weib dem HERRN ein Gelübde tut oder ein Verbindnis auf sich nimmt im Hause ihres Vaters, in ihrer Jugend, und ihr Vater hört ihr Gelübde oder ihr Verbindnis, das sie auf ihre Seele genommen hat, und ihr Vater schweigt gegen sie: so sollen alle ihre Gelübde bestehen, und jedes Verbindnis, das sie auf ihre Seele genommen hat, soll bestehen. Wenn aber ihr Vater ihr gewehrt hat an dem Tage, da er es hörte, so sollen alle ihre Gelübde und alle ihre Verbindnisse, die sie auf ihre Seele ge­nommen hat, nicht bestehen; und der HERR wird ihr vergeben, weil ihr Vater ihr gewehrt hat" (V. 4‑6). Dasselbe galt, wenn es sich um eine verheiratete Frau handelte. Ihr Mann konnte alle ihre Gelübde entweder bestätigen oder aufheben.

 

So lautete das Gesetz hinsichtlich der Gelübde. Der Mann durfte sein Gelübde nicht aufheben. Er war verpflichtet, alles zu tun, was er gesagt hatte. Was er sich auch zu tun vornahm, er war feierlich und unwider­ruflich gehalten, es auszuführen. Für ihn gab es keine "Hintertür", kein Ausweichen.

 

Nun, wir wissen, wer in vollkommener Gnade diese Stelle einnahm und sich freiwillig verpflichtete, den Willen Gottes zu erfüllen, ganz gleich, worin er bestehen mochte. Wir wissen, wer es ist, der da sagt: "Ich will dem HERRN meine Gelübde bezahlen, ja, in der Gegenwart

 

seines ganzen Volkes" (Ps 116, 14). Es ist „der Mensch Jesus Christus", der, nachdem Er die Gelübde auf sich genommen hatte, sie zur Ehre Gottes und zur ewigen Glückseligkeit Seines Volkes vollkommen er­füllte. Es gab keine Möglichkeit des Zurückweichens für Ihn. Wir hören Ihn in der tiefen Angst Seiner Seele im Garten Gethsemane rufen: "Wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!" Aber es war nicht möglich. Er hatte das Werk der Errettung des Men­schen auf sich genommen und mußte deshalb durch die tiefen und finsteren Wasser des Todes, des Gerichts und des Zornes Gottes gehen und alle Folgen des Zustandes der Menschen erfahren. Er mußte mit einer Taufe getauft werden und war beengt, bis sie vollbracht war. Mit anderen Worten: Er mußte sterben, um durch den Tod die Schleu­sen öffnen und den mächtigen und göttlichen Strom der ewigen Liebe in seiner ganzen Fülle auf Sein Volk fliegen lassen zu können.

 

Was nun die Frau betrifft, mochte es eine Jungfrau oder eine Ehefrau sein, so ist sie das Bild des Volkes Israel, und zwar in zweierlei Hin­sicht: unter der Regierung und unter der Gnade. Vom Gesichtspunkt der Regierung aus betrachtet, hat der HERR, der zugleich Vater und Ehemann des Volkes Israel ist, zu den Worten des Volkes geschwie­gen, so daß seine Gelübde bestehen und das Volk bis auf diesen Tag die Folgen trägt und die Bedeutung der Worte fühlen muß ‑ "Besser, daß du nicht gelobst, als daß du gelobst und nicht bezahlst" (Pred. 5, 5).

 

Betrachten wir aber die Sache von dem Gesichtspunkt der Gnade aus, so sehen wir, daß der Vater und Ehemann alles auf sich selbst genommen hat, so daß Israel Vergebung erlangen und später den vollen Segen erfahren kann; nicht aufgrund erfüllter Gelübde und bestätigter Ver­bindnisse, sondern aufgrund der unumschränkten Gnade und Barm­herzigkeit Gottes und durch das Blut des ewigen Bundes.

 

Ich glaube, daß hiermit der Hauptgedanke dieses Kapitels genannt ist. Zweifellos kann es in zweiter Linie auch auf einzelne Personen ange­wendet werden, denn es ist wie alle Schrift zu unserer Belehrung ge­schrieben. Es ist für einen aufrichtigen Christen immer eine Freude, die Wege Gottes, sei es in Gericht oder in Gnade, zu erforschen. Das gilt für Seine Wege mit Israel, für die mit der Kirche sowie für die Wege mit allen insgesamt und mit jedem einzelnen persönlich. Möchten wir mit weitem Herzen und erleuchtetem Verständnis in der Heiligen Schrift forschen!

 

Kapitel 31

 

DIE RACHE AN MIDIAN

 

Dieses Kapitel zeigt gewissermaßen die Schlußszene des öffentlichen Lebens Moses, während wir in 5. Mose 34 den Abschluß seiner per­sönlichen Geschichte finden. "Und der HERR redete zu Mose und sprach: übe Rache für die Kinder Israel an den Midianitern; danach sollst du zu deinen Völkern versammelt werden. Und Mose redete zu dem Volke und sprach: Rüstet von euch Männer zum Heere aus, daß sie wider Midian ziehen, um die Rache des HERRN an Midian auszu­führen. Je tausend vom Stamme, von allen Stämmen Israels, sollt ihr zum Heere absenden. Und es wurden aus den Tausenden Israels tau­send von jedem Stamme ausgehoben: zwölftausend zum Heere Gerü­stete. Und Mose sandte sie, tausend von jedem Stamme, zum Heere ab, sie und Pinehas, den Sohn Eleasars, des Priesters, zum Heere; und die heiligen Geräte, die Trompeten zum Lärmblasen, waren in seiner Hand. Und sie stritten wider Midian, so wie der HERR dem Mose ge­boten hatte, und töteten alles Männliche" (V. 1‑7).

 

Das ist eine bemerkenswerte Stelle. Der Herr spricht zu Mose: "übe Rache für die Kinder Israel an den Midianitern, und Mose sagt zu Israel: "Führet die Rache des HERRN an Midian aus." Das Volk war durch die Ränke der Töchter Midians verführt worden. Nun wird es aufgefordert, sich von all der Befleckung zu reinigen, die es aus Mangel an Wachsamkeit über sich gebracht hatte. Das Schwert muß gegen Midian gezogen werden, und alle Beute muß entweder durch das Feuer des Gerichts oder durch das Wasser der Reinigung gehen. Selbst nicht eine Spur des Bösen darf ungerichtet bleiben.

 

Wir können diesen Krieg regelwidrig nennen. Eigentlich hätte das Volk keinen Anlaß haben sollen, ihn überhaupt zu führen. Er gehörte nicht zu den Kriegen Kanaans, sondern war einfach die Folge ihrer Untreue, die Frucht ihres gottlosen Umgangs mit den Unbeschnittenen. Daher wird auch Josua, der Sohn Nuns, obwohl er als Nachfolger Moses zum Führer der Gemeinde bestimmt war, in diesem Krieg gar nicht erwähnt. Pinehas, dem Sohn Eleasars, des Priesters, wird die Führung des Kriegs­zuges übergeben, und er unternimmt ihn "mit den heiligen Geräten und den Trompeten".

 

Alles das ist sehr charakteristisch. Der Priester ist die Hauptperson, und die heiligen Geräte sind die Hauptwerkzeuge. Es handelt sich für Israel darum, sich von der Befleckung zu reinigen, der es sich durch seine unheilige Verbindung mit dem Feind schuldig gemacht hatte. Darum steht statt eines Feldherrn mit Schwert und Speer ein Priester mit heiligen Geräten im Vordergrund. Wohl ist das Schwert da. Aber nicht dies, sondern der Priester mit den heiligen Geräten ist die Haupt­sache, und dieser Priester ist derselbe Mann, der über das Böse, das hier gerächt werden sollte, zuerst Gericht geübt hatte.

 

Die Belehrung, die in diesem allem für uns liegt, ist klar und von prak­tischem Wert. Die Midianiter sind ein Bild von dem besonderen Ein­flug, den die Welt auf die Herzen der Kinder Gottes ausübt, von der bezaubernden und verführerischen Macht der Welt, die Satan benutzt, um uns am Genuß unseres wahren, himmlischen Teils zu hindern. Israel hätte nichts mit den Midianitern zu tun haben sollen; aber nach­dem es einmal in einem unbedachten Augenblick mit ihnen in Ver­bindung gekommen war, blieb nichts anderes übrig als Krieg gegen sie mit dem Ziel, sie völlig auszurotten.

 

Genauso ist es mit uns als Christen. Es ist unsere Aufgabe, als Fremde und als Pilger durch diese Welt zu gehen, mit der wir nichts anderes zu tun haben sollen als in ihr die geduldigen Zeugen der Gnade Christi zu sein und so in der uns umgebenden Finsternis als Lichter zu schei­nen. Leider halten wir nur allzu oft diese scharfe Trennung nicht auf­recht. Wir lassen uns in Verbindungen mit der Welt ein und kommen dadurch in Unruhe und in Kämpfe, die eigentlich gar nicht unsere Auf­gabe wären. Der Krieg mit Midian gehörte, wie gesagt, an sich nicht zu dem Werk Israels in der Wüste. Sie hatten diesen Krieg sich selbst zuzuschreiben. Gott aber ist gnädig. Daher wurden sie durch den beson­deren priesterlichen Dienst in die Lage versetzt, nicht nur die Midianiter zu besiegen, sondern auch große Beute zu machen. Gott läßt in Seiner unendlichen Güte aus dem Bösen Gutes erwachsen. Doch das Böse mußte völlig gerichtet werden. "Alles Männliche" mußte getötet, die dem Bösen innewohnende Kraft mußte vollständig zerstört werden. Danach aber hatten das Feuer des Gerichts und das Wasser der Reini­gung ihr Werk an der Beute zu tun, bevor Gott oder Sein Volk auch nur ein Stäubchen davon anrühren konnten.

 

Kapitel 32

 

RUBEN, GAD UND DER HALBE STAMM MANASSE

 

Der Inhalt dieses Kapitels hat schon zu manchen Streitigkeiten Anlaß gegeben. Die Meinungen über das Verhalten der zweieinhalb Stämme sind sehr verschieden. Die Frage ist: Taten sie recht oder unrecht, als sie ihr Erbteil auf der zur Wüste hin liegenden Seite des Jordans wähl­ten? War ihre Handlungsweise ein Ausdruck von Kraft oder von Schwachheit?

 

Zunächst muß man eine Gegenfrage stellen: Wo lag das Teil Israels, sein göttlich bestimmtes Erbteil? Ganz gewiß auf der anderen Seite des Jordan, im Lande Kanaan! Hätte diese Tatsache nicht ausreichen sollen? Hätte ein aufrichtiges, Gott ergebenes Herz ein anderes Teil wählen können, als das, das Gott ihm zugewiesen und gegeben hatte? Un­möglich! So brauchen wir auch nicht weiter zu gehen, um uns ein Gott gemäßes Urteil über diese Angelegenheit zu bilden. Es war von den Stämmen Ruben und Gad und dem halben Stamm Manasse ein Fehler, ein Mangel und ein Zurückbleiben hinter dem Ziel Gottes, wenn sie sich eine andere Grenze wählten als die, die der Jordan bildete. Sie wur­den in ihrem Verhalten durch weltliche und eigennützige Rücksichten, durch das, was ihre Augen sahen, durch fleischliche Beweggründe ge­leitet. Sie sahen "das Land Jaser und das Land Gilead" und schätzten es, ohne Rücksicht auf das Urteil und den Willen Gottes, nach ihren eigenen Interessen ein. Hätten sie einfach auf Gott geblickt, so wäre die Frage einer Niederlassung diesseits des Jordans nie entstanden.

 

Wenn wir nicht ganz aufrichtig sind, geraten wir in Situationen, die zu allerlei Fragen Anlaß geben. Es ist etwas Großes, durch die Gnade Got­tes befähigt zu sein, eine Handlungslinie zu verfolgen und einen Weg zu gehen, die so eindeutig sind, daß sich keine Frage erheben kann. Es ist unser heiliges und frohmachendes Recht, uns so zu verhalten, daß nie eine Unklarheit entstehen kann. Aber um das zu können, müssen wir mit Gott leben und unser Betragen völlig durch Sein Wort leiten und regieren lassen. Daß Ruben und Gad sich nicht in dieser Weise leiten ließen, geht aus der ganzen Geschichte deutlich hervor. Sie waren Menschen mit "halbem Herzen", mit gemischten Grund­sätzen, Menschen, die ihr eigenes Interesse suchten und nicht die Inter­essen Gottes. Hätten die Dinge Gottes ihr Herz ausgefüllt, dann hätte nichts sie dazu bringen können, außerhalb der wirklichen Grenze zu wohnen!

 

Offensichtlich war Mose mit ihrem Vorschlag nicht einverstanden. Daß er selbst nicht über den Jordan gehen durfte, war ein Gericht des Herrn wegen seines Verhaltens. Sein Herz aber war in dem verheißenen Land, und er sehnte sich danach, persönlich dorthin zu gelangen. Wie hätte er daher das Verhalten derer gutheißen können, die nicht nur bereit waren, anderswo zu wohnen, sondern das sogar wünschten? Der Glaube kann sich nie mit einer Lösung begnügen, die geringer ist als die wahre Stellung und das volle Recht des Volkes Gottes. Das Interesse eines treuen Herzens richtet sich allein auf das, was Gott gegeben hat. Daher verurteilte Mose sogleich den Vorschlag Rubens und Gads. Allerdings milderte er nachher sein Urteil und gab seine Zustimmung zu ihren Plänen. Ihr Versprechen, den Jordan gerüstet vor ihren Brüdern her zu überschreiten, rief bei Mose eine Art Beifall hervor. Es schien ein außerordentliches Zeichen von Uneigennützigkeit und Energie zu sein, wenn sie alle ihre Lieben zurückließen und den Jordan überschritten, nur um für ihre Brüder zu kämpfen. Aber fragen wir: Wo eigentlich ließen sie die Ihrigen zurück? Sie nahmen ihnen den Platz im Land der Verheißung, das Erbteil, von dem Gott zu Abraham, Isaak und Jakob gesprochen hatte. Und das lediglich deshalb, um für ihr Vieh gute Weide zu bekommen! Wegen eines armseligen Zwecks verließen die zweieinhalb Stämme ihren Platz innerhalb der wahren Grenzen des Israels Gottes.

 

Werfen wir jetzt einen Blick auf die Folgen dieser Handlung! In Jos. 22 finden wir die erste traurige Wirkung des Betragens von Ruben und Gad. Sie müssen einen Altar bauen, einen "Altar, groß von Ansehen", damit nicht später ihre Brüder sie verleugnen könnten. Das beweist, daß es sehr verkehrt war von ihnen, diesseits des Jordans zu bleiben.

 

Beachten wir die Verwirrung und Erregung, die dieser Altar für die ganze Gemeinde mit sich brachte! Im ersten Augenblick schien seine Errichtung eine Empörung zu bedeuten. "Als die Kinder Israel es hör­ten, da versammelte sich die ganze Gemeinde der Kinder Israel nach Silo, um wider sie hinaufzuziehen zum Kriege. Und die Kinder Israel sandten zu den Kindern Ruben und zu den Kindern Gad und zu dem halben Stamm Manasse,*) in das Land Gilead, Pinehas, den Sohn Eleasars, des Priesters, und zehn Fürsten mit ihm, je einen Fürsten für ein Vaterhaus, von allen Stämmen Israels; und sie waren ein jeder das Haupt ihres Vaterhauses unter den Tausenden Israels. Und sie kamen zu den Kindern Ruben und zu den Kindern Gad und zu dem halben Stamm Manasse*) in das Land Gilead, und redeten mit ihnen und sprachen: So spricht die ganze Gemeinde des HERRN [gehörten die zweieinhalb Stämme nicht zu ihr?]: "Was ist das für eine Treu­losigkeit, die ihr gegen den Gott Israels begangen habt, daß ihr euch heute abwendet von der Nachfolge des HERRN, indem ihr euch einen Altar bauet, um euch heute wider den HERRN zu empören? Ist es uns zu wenig an der Ungerechtigkeit Peors, von welcher wir uns noch nicht gereinigt haben bis auf diesen Tag, und doch kam die Plage über die Gemeinde des HERRN! Und es wird geschehen, empöret ihr euch heute wider den HERRN, so wird er morgen über die ganze Gemeinde Israel erzürnen. jedoch wenn das Land eures Eigentums unrein ist, so kommet herüber in das Land des Eigentums des HERRN, wo die Wohnung des HERRN weilt [welch eindringliche Worte!] und machet euch ansässig in unserer Mitte; aber empöret euch nicht wider den HERRN und empöret euch nicht wider uns, indem ihr euch einen Altar bauet außer dem Altar des HERRN, unseres Gottes" (Jos. 22, 12‑19).

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*) als ob die zweieinhalb Stämme wirklich von dem Volk Israel getrennt gewesen wären

 

Dieses ganze Mißverständnis, diese ganze Verwirrung und Aufregung war nichts anderes, als die Folge des Fehlers, den Ruben und Gad begangen hatten. Wohl konnten sie bezüglich des Altars ihre Brüder durch überzeugende Erklärungen zufriedenstellen, aber es wären kein Altar und keine Erklärung nötig gewesen, es wäre auch keine Auf­regung entstanden, wenn sie nicht eine so zweifelhafte Stellung ein­genommen hätten. Das war die Quelle des ganzen Übels, und es ist wichtig, diesen Punkt klar zu sehen und die große praktische Lehre zu verstehen, die darin enthalten ist. Es kann für einen geistlichen Christen, der über diesen Gegenstand nachdenkt, kein Zweifel darüber bestehen, daß die zweieinhalb Stämme unrecht hatten, als sie vor dem Jordan stehenblieben. Wenn noch ein weiterer Beweis dafür nötig ist, so finden wir ihn in der Tatsache, daß diese Stämme die ersten waren, die dem Feind in die Hände fielen (siehe 1. Kön. 22, 3).

 

Aber vielleicht fragt jemand: "Was will das alles denn uns sagen? Welche Lehre enthält dieser Teil der Geschichte Israels denn für uns?" Er ruft uns sehr ernst zu: "Achtet darauf, daß ihr euch nicht mit weni­ger als eurer Stellung begnügt und damit hinter dem zurückbleibt, was eigentlich euer Teil ist; daß ihr nicht mit den Dingen zufrieden seid, die dieser Welt angehören, sondern die Stellung des Todes und der Auferstehung einnehmet, von der der Jordan ein geistliches Bild ist."*)

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*) Zweifellos gibt es viele aufrichtige Christen, die die himmlische Berufung und Stellung der Kirche nicht verstehen und damit das, was der Epheserbrief lehrt, nicht begreifen, die aber doch nach dem Maß ihres Lichts auf. richtig sind. Aber ich bin überzeugt, daß solche Christen unendlich viel Segen einbüßen und weit hinter dem, was das Christentum lehrt, zurückbleiben.

 

Das ist die Lehre, die dieser Teil unseres Buches uns gibt. Es ist sehr wichtig, entschieden und eindeutig für Christus zu sein. Es wird der Sache Gottes und dein Zeugnis Christi großer Schaden zugefügt von denen, die bekennen, Christen zu sein, die aber ihre himmlische Beru­fung und ihr himmlisches Wesen praktisch verleugnen und leben, als wären sie Bürger dieser Welt. Ein solches Verhalten ist ein gutes Werkzeug in den Händen Satans. Die bei den Bekennern fehlende Verwirklichung hat der Sache Gottes viel mehr Schaden zugefügt als alle Formen moralischen Verderbens zusammengenommen. Diese Behauptung mag hart erscheinen, aber sie ist wahr. Christliche Beken­ner, die bloß "Grenznachbarn" sind, Menschen mit gemischten Grund­sätzen, Leute mit nicht eindeutigem Verhalten ‑ das sind gerade die­jenigen, die der Sache Christi am meisten schaden und die Absichten des Feindes Christi fördern, Was wir brauchen, sind Männer mit gan­zem Herzen: entschiedene Zeugen für Jesus Christus, Männer, die offen bekennen, daß sie ein besseres Vaterland suchen, ernste, fromme Män­ner, die dieser Welt fremd sind. Es ist besonders traurig und entmuti­gend, wenn die, die ein hohes Bekenntnis ablegen und auf ihre erhabe­nen Lehren und himmlischen Vorrechte stolz sind, so leben, daß ihre Wege das widerlegen, was sie sagen. Sie lieben die Welt und die Dinge dieser Welt. Sie lieben das Geld und trachten danach, so viel wie möglich zu verdienen.

 

Möchten wir auf diese Dinge achten! Richten wir uns mit allem Ernst in der Gegenwart Gottes, und werfen wir alles von uns, was darauf abzielt, unsere völlige Hingabe an den zu verhindern, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat! Möchten wir, um in der Spra­che von Jos. 22 zu reden, uns so betragen, daß nicht ein Altar, groß von Ansehen, oder irgend etwas Ähnliches nötig ist, um zu erkennen zu geben, wohin wir gehören, wo wir anbeten, wessen wir sind und wem wir dienen! Dann wird im Blick auf uns alles klar, unser Zeugnis wird bestimmt und der "Ton unserer Trompete" deutlich sein. Unser Friede wird sein wie ein Strom, und unser ganzes Leben, unser ganzes Wesen wird zum Lob dessen sein, dessen Name über uns angerufen ist. Möge der treue Gott in diesen Tagen der Gleichgültigkeit, der Lauheit und eines kraftlosen Bekenntnisses die Herzen Seiner Kinder zu wirk­licher Selbstverleugnung, wahrer Hingabe an die Sache Christi und unerschütterlichem Glauben an den lebendigen Gott zurückführen!

 

Kapitel 33 und 34

 

DIE ZOGE DER KINDER ISRAEL UND DIE GRENZEN IHRES ERBTEILS

 

Das erste dieser beiden Kapitel gibt uns eine wunderbar genaue Be­schreibung der Wüstenwanderungen des Volkes Gottes. Es ist un­möglich, sie zu lesen, ohne von der Liebe und Sorgfalt Gottes, die sich während der ganzen Reise so deutlich gezeigt hatten, berührt zu sein. Welch ein Gedanke, daß es Ihm gefallen hat, eine solche Erzählung von den Zügen Seines armen Volkes aufzubewahren, die von dem Augen­blick an, als es Ägypten verließ, alles enthält, bis es den Jordan über­schritt, um aus dem Land des Todes und der Finsternis in das Land zu gelangen, das von Milch und Honig überfließt! "Er kannte dein Zie­hen durch diese große Wüste: diese vierzig Jahre ist der HERR, dein Gott, mit dir gewesen; es hat dir an nichts gemangelt" (5. Mose 2, 7), Bei jedem Schritt des Weges ging Er vor ihnen her. Er durchwanderte jeden Abschnitt der Wüste. "In allen ihren Bedrängnissen war Er be­drängt." Er sorgte für sie. Er ließ in diesen vierzig Jahren ihre Kleider nicht alt werden, ihre Füße nicht schwellen. Und hier zeichnet Er noch einmal den ganzen Weg nach, den sie an Seiner Hand gezogen sind, indem Er jeden Abschnitt dieser bemerkenswerten Reise und jeden Ort in der Wüste, wo sie Halt gemacht hatten, sorgfältig vermerkt. Was für eine Wanderung! Was für ein Reisegefährte!

 

Es ist für den müden Wanderer sehr tröstlich, zu wissen, daß jeder Abschnitt seiner Wüstenreise von der unendlichen Liebe und der un­fehlbaren Weisheit Gottes gekennzeichnet ist. Er leitet Sein Volk auf dem richtigen Weg heimwärts zu sich selbst, und es gibt in ihrem Leben nichts, was nicht von Ihm selbst zu ihrem gegenwärtigen Nutzen und ihrer ewigen Glückseligkeit sorgfältig geordnet wäre. Es sollte unsere Sorge sein, Tag für Tag in einfachem Vertrauen auf Ihn zu leben, indem wir alle unsere Sorgen auf Ihn werfen und uns selbst sowie alles, was uns angehört, Seinen Händen überlassen! Das ist die wahre Quelle des Friedens und des Segens während der ganzen Reise. Und wenn dann unsere Wanderung durch die Wüste vorüber und der letzte Ab­schnitt der Wüste durchschritten ist, wird Er uns heimholen, damit wir für immer bei Ihm seien.

 

Das 34. Kapitel gibt die von der Hand des HERRN gezogenen Grenzen des Erbteils an. Dieselbe Hand, die die Wanderungen Israels geleitet hat, bestimmt hier die Grenzen ihrer Wohnung. Leider nahmen sie nie das Land, wie es ihnen von Gott gegeben war, ganz in Besitz. Er gab ihnen das ganze Land, und zwar für immer. Sie aber nahmen nur einen Teil davon, und auch das nur für eine Zeitlang. Doch der Augenblick kommt, in dem der Same Abrahams zu dem vollen und ewigen Besitz seines schönen Erbteils gelangen wird. Der HERR wird mit Sicherheit alle Seine Verheißungen erfüllen und Sein Volk in alle die Segnun­gen einführen, die ihm in dem ewigen Bund, der durch das Blut des Lammes besiegelt worden ist, zugesichert sind. Nichts wird unerfüllt bleiben. Alle Seine Verheißungen sind ja und Amen in Christus Jesus, welcher derselbe ist gestern und heute und in Ewigkeit.

 

Kapitel 35

 

DIE ZUFLUCHTSTÄDTE

 

Die ersten Zeilen dieses interessanten Kapitels zeigen uns die gnädige Vorsorge, die der HERR für Seine Knechte, die Leviten, traf. Jeder der Stämme Israels hatte das Recht ‑ um nicht zu sagen: die Pflicht ‑, je nach Vermögen den Leviten eine gewisse Anzahl von Städten mit deren Bezirken zu geben. "Alle die Städte, die ihr den Leviten geben sollt, sie und ihre Bezirke, sollen achtundvierzig Städte sein. Und was die Städte betrifft, die ihr von dem Eigentum der Kinder Israel geben sollt ‑ von dem Stamme, der viel hat, sollt ihr viel nehmen, und von dem, der wenig hat, sollt ihr wenig nehmen; jeder Stamm soll nach Verhältnis seines Erbteils, das er erben wird, von seinen Städten den Leviten geben" (V. 7. 8).

 

Die Diener des Herrn waren hinsichtlich dessen, was sie erhielten, gänz­lich von dem Herrn abhängig. Sie hatten weder Erbteil noch Besitz, außer in Gott selbst. Was für ein gesegnetes Erbe und was für ein kost­bares Teil! Nach dem Urteil des Glaubens kommt ihm nichts gleich. Glückselig alle, die in Wahrheit zu dem Herrn sagen können: "Du bist das Teil meines Erbes und meines Bechers" (Ps. 16, 5)! Gott sorgte für Seine Diener und erlaubte der ganzen Gemeinde Israel, Seine Mitar­beiter zu sein bei der Versorgung derjenigen, die sich selbst willig Seinem Dienst geweiht und alles andere verlassen hatten.

 

So sehen wir denn, daß in den zwölf Stämmen Israels achtundvierzig Städte mit ihren Bezirken den Leviten übergeben werden sollten, und diese wiederum hatten das Vorrecht, aus dieser Zahl sechs Städte zu Zufluchtstädten für den Totschläger auszuwählen.

 

Von den Zufluchtstädten lagen drei auf der Ostseite und drei auf der Westseite des Jordans. Mochten Ruben und Gad recht oder unrecht tun, indem sie sich ostwärts von dieser wichtigen Grenzlinie niederließen, Gott wollte in Seiner Gnade den Totschläger nicht ohne eine Zuflucht­stätte vor dem Bluträcher lassen. So ordnete Er in Seiner Liebe an, daß diese Städte auch ihrer Lage nach dem Schutzbedürfnis des Totschlägers entsprachen. In jedem Fall lag eine Stadt im Bereich desjenigen, der dem Schwert des Rächers ausgesetzt sein mochte. Das war unseres Gottes würdig. Wenn es vorkam, daß ein Totschläger in die Hände des Blut­rächers fiel, so war es nicht deshalb, weil ein naher Zufluchtsort fehlte, sondern weil der Totschläger nicht in den Zufluchtsort geflohen war. Alle erforderlichen Vorkehrungen waren getroffen. Die Städte waren benannt, genau bestimmt und öffentlich bekannt. Alles war so klar, so einfach und so leicht wie möglich gemacht. Es waren die gnädigen Wege Gottes.

 

Zweifellos war der Totschläger dafür verantwortlich, seine ganze Kraft einzusetzen, um den geheiligten Bezirk zu erreichen, und sicher tat er es auch. Es wäre wohl niemand so blind und töricht gewesen, gleichgültig zu sagen: "Wenn es mein Los ist zu entrinnen, so werde ich entrinnen, und daher ist meine Anstrengung zwecklos. Und wenn es mein Los ist, nicht zu entrinnen, so kann ich nicht entrinnen, mag ich mich auch noch so sehr anstrengen." Man kann sich nicht vorstellen, daß ein Totschlä­ger so dumm geredet haben sollte. Er wußte ganz gut, daß, wenn es dem Bluträcher gelang, ihn zu ergreifen, alle solche Überlegungen völlig wertlos sein würden. Es gab für ihn nur eins: um seines Lebens willen zu eilen, um dem drohenden Gericht zu entfliehen und hinter den Toren der Zufluchtstadt einen sicheren Aufenthaltsort zu finden. Wenn er dort angelangt war, konnte er frei aufatmen. Kein Übel konnte ihn dort mehr erreichen. In dem Augenblick, in dem er das Tor passiert hatte, war er so sicher, wie die Vorsorge Gottes ihn nur machen konnte. Hätte ihm innerhalb der Grenzen der Stadt ein Haar gekrümmt werden kön­nen, so wäre das für die Einrichtung Gottes eine Unehre und eine Schmach gewesen. Wohl hatte er sich sehr in acht zu nehmen. Er durfte es nicht wagen, vor das Tor zu gehen. Innerhalb der Stadt war er in vollkommener Sicherheit; außerhalb war er dem Bluträcher schutzlos preisgegeben. Er durfte selbst seine Freunde nicht besuchen. Er war aus dem Haus seines Vaters verbannt. Er war ein "Gefangener auf Hoff­nung". Abwesend von der Heimat, wohin ihn sein Herz zog, wartete er auf den Tod des Hohenpriesters. Dieser Tod würde ihn vollkommen freimachen, ihn wieder in sein Erbe einsetzen und zu seinem Volk zu­rückführen.

 

Diese schöne Einrichtung hat in besonderer Weise Bezug auf Israel. Die Juden haben den Fürsten des Lebens getötet. Betrachtet Gott sie nun als Mörder oder als Totschläger? Im ersten Fall gibt es keine Zuflucht und keine Hoffnung. Kein Mörder konnte in der Zufluchtstadt Schutz fin­den. Das Gesetz für den Totschläger, wie wir es in Jos. 20 finden, lau­tet: "Und der HERR redete zu Josua und sprach: Rede zu den Kindern Israel und sprich: Bestimmet euch die Zufluchtstädte, von welchen ich durch Mose zu euch geredet habe, daß dahin fliehe ein Totschläger, der jemand aus Versehen, unabsichtlich, erschlagen hat; und sie seien euch zur Zuflucht von dem Bluträcher. Und er soll in eine von diesen Städten fliehen, und an dem Eingang des Stadttors stehen und vor den Ohren der Ältesten jener Stadt seine Sache vorbringen; und sie sollen ihn zu sich in die Stadt aufnehmen und ihm einen Ort geben, daß er bei ihnen wohne. Und wenn der Bluträcher ihm nachjagt, so sollen sie den Tot­schläger nicht in seine Hand ausliefern; denn er hat seinen Nächsten unabsichtlich erschlagen, und er haßte ihn vordem nicht. Und er soll in jener Stadt wohnen, bis er vor der Gemeinde zu Gericht gestanden hat, bis zum Tode des Hohenpriesters, der in jenen Tagen sein wird; als­dann mag der Totschläger zurückkehren und in seine Stadt und in sein Haus kommen, in die Stadt, aus welcher er geflohen ist" (V. 1‑6). Aber hinsichtlich eines Mörders war das Gesetz streng und unbeugsam. Er sollte unbedingt getötet werden, und zwar sollte der Bluträcher ihn töten; "wenn er ihn antrifft, soll er ihn töten" (vgl. 4. Mose 35, 18. 19).

 

Israel wird der wunderbaren Gnade Gottes nach als ein Totschläger und nicht als ein Mörder behandelt werden. "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun." Diese Worte stiegen zu dem Gott Israels empor. Sie wurden gehört und erhört. Doch dürfen wir nicht meinen, daß die Erhörung am Pfingsttag aufhörte. Nein, sie gilt noch, und ihre Wirkungskraft wird sich in der zukünftigen Geschichte des Hauses Israel erweisen. Sie sind jetzt*) aus dem Lande und der Heimat ihrer Väter verbannt.

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*) C. H. Mackintosh lebte im 19. Jahrhundert! (Anm. d. Herausg.)

 

Doch die Zeit kommt, in der sie wieder ganz in ihr Land gebracht sein werden, nicht durch den Tod des Hohenpriesters ‑Er kann nie mehr sterben ‑, sondern dadurch, daß Er Seine gegenwärtige Stellung verlassen und sich in einem neuen Charakter als der königliche Priester darstellen wird, um sich auf Seinen Thron zu setzen. Dann werden alle Verbannten in ihre Heimat und in ihr Erbteil zurück­kehren. Der Totschläger muß bis zur festgesetzten Zeit außerhalb seines Besitzes bleiben. Doch soll er nicht als Mörder behandelt werden, weil er unwissend gehandelt hat. "Mir ist Barmherzigkeit zuteil ge­worden sagt der Apostel Paulus, indem er als ein Vorbild Israels spricht, "weil ich es unwissend im Unglauben tat" (i. Tim. 1, 13). ,Und jetzt, Brüder", sagt Petrus, "ich weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleichwie auch eure Obersten" (Apg. 3, 17).

 

Diese Stellen, zusammen mit der wichtigen Fürbitte dessen, der ge­schlagen wurde, stellen Israel klar auf den Boden des Totschlägers und nicht auf den des Mörders. Gott hat für Sein geliebtes Volk eine Zu­fluchtstätte bereitet, und zu Seiner Zeit wird das ganze Volk in seine lange verlorenen Wohnungen zurückkehren, in das Land, das der HERR Seinem Freund Abraham für immer als Geschenk gegeben hat.

 

Das ist wohl die Erklärung der Verordnung über die Zufluchtstädte. Wollten wir sie auf einen Sünder anwenden, der seine Zuflucht zu Christus nimmt, so könnte das nur begrenzt geschehen, denn wir wür­den überall mehr Widerspruch als Übereinstimmung finden. Erstens war der Totschläger in der Zufluchtstadt nicht vom Gericht befreit, wie wir in Jos. 20, 6 sehen, während für den, der an Christus glaubt, kein Gericht mehr ist noch sein kann, weil Christus an seiner Statt das Gericht getragen hat. Ferner konnte der Totschläger immer noch in die Hände des Rächers fallen, wenn er es wagte, die Stadt zu verlassen. Derjenige aber, der an Jesus glaubt, kann nie mehr umkommen. Er ist so sicher wie der Erlöser selbst. Für den Totschläger endlich handelt es sich um zeitliche Sicherheit und um ein Leben in dieser Welt. Für den an Jesus Glaubenden dagegen handelt es sich um eine ewige Errettung und um ewiges Leben in der zukünftigen Welt. So sehen wir also, daß fast in allen Einzelheiten mehr Widerspruch da ist als Ähnlichkeit.

 

Folgendes ist jedoch beiden gemein: die Tatsache, daß beide, der Tot­schläger und der Sünder, einer schrecklichen Gefahr ausgesetzt sind, und das dringende Bedürfnis nach einer Zuflucht. Der Totschläger hätte eine große Torheit begangen, wenn er nicht mit allen Mitteln versucht hätte, die Zufluchtstadt so schnell wie möglich zu erreichen; und es ist eine noch unglaublichere Torheit, wenn der Sünder wartet oder zögert, zu Christus zu kommen. Dem Rächer gelang es vielleicht nicht, den Totschläger zu ergreifen, wenn er die rettende Stadt noch nicht erreicht hatte; aber der Sünder ist außerhalb von Christus dem Gericht un­weigerlich verfallen. Es gibt keine Möglichkeit zu entrinnen. Was für ein ernster Gedanke! Möchte er in seiner ganzen Tragweite das Herz des Lesers treffen, der noch in seinen Sünden dahingeht! Möchte dieser Leser keinen Augenblick Ruhe finden, bis er in eine Zufluchtstadt geflohen ist, bis er die Hoffnung ergriffen hat, die ihm im Evangelium angeboten wird! Das Gericht droht ‑ ein sicheres, gewisses und ernstes Gericht. Es muß auf alle kommen, die ohne Christus sind.

 

Wenn du noch unbekehrt und sorglos bist und dieses Buch in deine Hände fallen sollte, dann höre die warnende Stimme! Fliehe um deines Lebens willen! Zögern ist die größte Torheit. Du kennst die Stunde nicht, in der dein Leben zu Ende ist und du dahin kommst, wo kein Hoffnungsstrahl dich erreichen kann, an den Platz ewiger Nacht und ewiger Qual, wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt. Lieber Freund, laß mich dich in den letzten Zeilen dieses Buches bitten: Komm jetzt, so wie du bist, zu Jesus, der mit offenen Armen und lie­bendem Herzen bereitsteht, dich aufzunehmen, zu schützen, zu erretten und zu segnen nach der ganzen Liebe Seines Herzens und der vollkommenen Wirksamkeit Seines Namens und Seines Opfers. Möge Gott, der ewige Geist, durch Seine unendliche Kraft dich leiten, jetzt zu kom­men! "Kommet her zu mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen" , sagt der liebende Herr und Heiland, "und ich werde euch Ruhe geben!.

 

Hiermit schließen wir die Gedanken über diesen bemerkenswerten Teil des Buches Gottes. (Das 36. Kapitel ist bereits bei der Betrachtung des 27. Kapitels behandelt worden.) Ich bin von der Tiefe und dem Reichtum der Fundgrube durchdrungen, zu der ich den Leser zu führen versucht habe, aber auch von der Schwachheit und Armut der Gedanken, die ich habe sagen können. Dennoch vertraue ich, daß der lebendige Gott durch Seinen Heiligen Geist den gläubigen Leser in die Freude an Sei­ner kostbaren Wahrheit führen und ihn so mehr und mehr zu Seinem Dienst in diesen letzten bösen Tagen fähig machen wird, damit der Name unseres Herrn Jesus verherrlicht wird und Seine Wahrheit in le­bendiger Kraft erhalten bleibt. Gott gebe es in Seiner reichen Gnade, um Jesu Christi willen!