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Gedanken zum 1. Buch Mose

 

C. H. MACKINTOSH

 

Charles Henry Mackintosh, dessen Initialen "C. H. M." vielen Christen in aller Welt wohlbekannt sind, wurde im Oktober 1820 in der Kaserne von Glenmalure in der Grafschaft Wicklow in Irland geboren. Sein Vater war Hauptmann im "Highlanders' Regiment" und hatte während des Aufstandes in Irland gedient. Seine Mutter war eine Tochter von Lady Weldon und entstammte einer alteingesessenen irischen Familie. Im Alter von achtzehn Jahren erlebte der junge Mann eine geistliche Er­weckung durch Briefe, die seine Schwester ihm nach ihrer Bekehrung schrieb. Er empfing Frieden durch die Lektüre der Schrift von J. N. Darby: "Die Wirksamkeit des Heiligen Geistes", wobei ihm besonders die Worte halfen, daß das Werk Christi für uns, nicht Sein Werk in uns Frieden gibt.

 

Als junger Christ nahm er eine Stelle in einem Geschäft in Limerick an. Er las viel in Gottes Wort und beschäftigte sich eifrig mit ver­schiedenen Studien. Im Jahre 1844 eröffnete er eine Schule in West­port und wandte sich mit großem Eifer der Erziehungsarbeit zu. Seine geistliche Haltung in dieser Zeit zeigt sich darin, daß es sein Ziel war, Christus den unangetasteten ersten Platz in seinem Leben einzuräumen und Sein Werk als die Hauptsache zu betrachten. Als er 1853 jedoch be­fürchtete, daß die Schularbeit sein Hauptinteresse wurde, gab er diesen Dienst auf.

 

In der Zwischenzeit hatte er bereits begonnen, seine Gedanken zu den fünf Büchern Mose niederzuschreiben. In Abständen erschienen danach je eine Betrachtung über das erste bis vierte, und zwei über das fünfte Buch Mose. Diese Bücher, die von einem starken evangelistischen Geist geprägt sind, erlebten in der Folge verschiedene hohe Auflagen. Das Vorwort dazu schrieb Andrew Miller, der auch den Druck weitgehend finanzierte. Mit Recht sagt er von diesen Betrachtungen: "Die vollkom­mene Verderbtheit des Menschen durch die Sünde und Gottes vollkom­mene Rettung in Christus werden ausführlich, deutlich und oftmals sehr treffend dargestellt".

 

Als Ausleger besaß C. 1‑1. M." einen leicht verständlichen Stil. Er ver­stand es, seine Ansichten kraftvoll darzustellen. Manche seiner Deu­tungen mochten vielen Gläubigen zunächst eigenartig erscheinen, aber in bezug auf Treue zu Gottes Wort und Vertrauen auf Christus sind sie immer wieder eine große Hilfe.

 

Nachdem er seinen Schuldienst aufgegeben hatte, ging "C. H. M." nach Dublin, wo er öffentlich zu predigen begann. Viele Jahre verkündigte und verteidigte er nun das Evangelium und die christliche Wahrheit, und Gott bekannte sich deutlich zu seinem Dienst. Als in den Jahren 1859‑60 die Erweckung Irland ergriff, war auch er aktiv dabei, und die ersten Bände der Zeitschrift "Things New and Old" ("Neues und Altes") zeugen von seiner Tätigkeit. Er war ein großer Glaubensmann, der im­mer gerne bezeugte, daß Gott ihn zwar oft in Prüfungen brachte, aber ihn nie Mangel leiden ließ, während er im Evangeliumsdienst stand und ohne Einkünfte aus materieller Arbeit war.

 

Seine letzten vier Lebensjahre verbrachte er in Cheltenham, wo er seinen schriftlichen Dienst fortsetzte, als er wegen seines Alters die mündliche Verkündigungsarbeit aufgeben mußte.

 

Es ist schwer, den Einfluß seiner Schriften zu schätzen. Aus aller Welt erreichten ihn Briefe, in denen Dank und Anerkennung für seine Er­klärungen zu den fünf Büchern Mose zum Ausdruck kamen. Seine erste Schrift aus dem Jahre 1843 trug den Titel: "Der Friede Gottes". Wenige Monate vor seinem Heimgang im Jahre 1896 übersandte er seinem Verleger ein Manuskript mit der Überschrift "Der Gott des Friedens". Seine "Miscellaneous Writings" (Gemischte Schriften) sind in sechs Bänden erschienen, ebenso seine Gedanken zu den fünf Büchern Mose. Er ging am 2. November 1896 in Frieden heim. Vier Tage später wurde er unter großer Anteilnahme neben seiner geliebten Frau beigesetzt. Bruder Dr. Wolston aus Edinburgh sprach über das Begräbnis Abrahams unter Zugrundelegung von 1. Mose 25, 8‑10 und Hebräer 8, 10. Zum Abschluß sangen die Versammelten das schöne Lied von J. N. Darby:

 

0 bright and blessed scenes, Where sin can never come; Whose sight our longing spirits weans From earth where yet we roam.

 

 

Kapitel 1

 

IM ANFANG SCHUF GOTT DIE HIMMEL UND DIE ERDE‑.

 

überraschend ist die Art und Weise, wie der Heilige Geist dieses ein­zigartige Buch beginnt. Er führt uns sofort in die Gegenwart Gottes, und zwar in die wesentliche Fülle Seines Seins und die Einsamkeit Seines Wirkens. Jede Einleitung wird ausgelassen. Wir werden unmittelbar zu Gott geführt. Wir hören Ihn gleichsam das Schweigen der Erde brechen und sehen, wie Er in ihre Finsternis mit Licht eindringt, um einen Be­reich zu schaffen, in dem Er Seine ewige Kraft und Göttlichkeit entfalten kann (Röm. 1, 20). Hier gibt es nichts, woran müßige Neugierde Nah­rung finden könnte, nichts für die Spekulationen des menschlichen Geistes. Wir finden hier die Erhabenheit und Wirklichkeit der göttlichen Wahrheit, wie sie in ihrer sittlichen Kraft auf Herz und Verständnis wirkt. Mögen die Geologen das Innere der Erde erforschen und von dort Ergebnisse zu Tage fördern, welche die göttliche Urkunde zu ver­vollständigen oder ihr auch zu widersprechen scheinen; mögen sie ihre Forschungen über versteinerte Körper anstellen ‑ der jünger des Herrn beugt sich mit heiliger Freude über das göttlich eingegebene Wort. Er liest, glaubt und betet an. Mögen auch wir in diesem Geist unsere Be­trachtung über das vor uns liegende inhaltsreiche Buch beginnen. Mögen wir verstehen, was es heißt, "zu forschen in seinem Tempel" (Ps. 27), und unsere Erforschungen des kostbaren Inhalts der Heiligen Schrift stets in einem Geist wahrer Anbetung fortsetzen.

 

„Im Anfang schuf Gott die Himmel und die Erde" (V. '1). Dieser erste Ausspruch der Heiligen Schrift versetzt uns in die Gegenwart dessen, der die unerschöpfliche Quelle aller wahren Segnung ist. Man findet hier keine ausführlichen Beweise für das Dasein Gottes. Wie könnte der Heilige Geist sich auf so etwas einlassen? Gott offenbart sich selbst.

 

Er macht sich bekannt durch Seine Werke. "Die Himmel erzählen die Herrlichkeit Gottes, und die Ausdehnung verkündet seiner Hände Werk" (Ps. 19, 1). 55 werden dich preisen alle deine Werke". ‑ "Groß und wunderbar sind deine Werke, Herr, Gott, Allmächtiger!" (Offb. 15, 3). Nur ein Ungläubiger oder ein Gottesleugner kann nach Beweisen für das Dasein dessen suchen, der Welten schuf durch das Wort Seines Mundes, und der sich selbst als der Allwissende, der Allmächtige, der ewige Gott zu erkennen gegeben hat. Wer außer "Gott" vermochte etwas zu erschaffen?" "Hebet zur Höhe eure Augen empor und sehet: Wer hat diese da geschaffen? Er, der ihr Heer herausführt nach der Zahl, ruft sie alle mit Namen: wegen der Größe seiner Macht und der Stärke seiner Kraft bleibt keines aus" (Jes. 40, 26). "Alle Götter der Völker sind Nichtigkeiten! der HERR aber hat die Himmel gemacht". Im Buch Hiob (Kap. 38 bis 41) finden wir in erhabenen Worten, wie der HERR sich selbst auf das Werk der Schöpfung beruft, als einen un­widerleglichen Beweis für Seine unumschränkte Oberhoheit, und wäh­rend dies einerseits dem Verständnis die gewaltige und lebendige Dar­stellung der Allmacht Gottes zeigt, berührt sie andererseits unsere Her­zen durch die Herablassung, die sich in ihr offenbart. Die Majestät und die Liebe, die Macht und die zärtliche Güte ‑ alles ist göttlich.

 

"Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis war über der Tiefe" (V. 2). Das war in Wahrheit ein Ort, wo allein Gott wirken konnte. Da hatte der Mensch noch keinen Platz, bis auch er wie alles andere ein Gegenstand der schöpferischen Macht wurde. Gott war allein in der Schöpfung. Er schaute aus Seiner ewigen Wohnstätte des Lichts herab auf die Wüstenei und erblickte hier die Stätte, wo Seine wunderbaren Pläne und Ratschlüsse zur Ausführung kommen sollten, und wo der Ewige Sohn leben, wirken, zeugen, bluten und sterben sollte, um staunenden Welten die herrlichen Vollkommenheiten der Gottheit zu offenbaren. Überall herrschten Finsternis und Unordnung, aber Gott ist ein Gott des Lichts und der Ordnung (l. Joh. 1, 5). Finsternis und Unordnung, mögen wir sie von einem natürlichen, sittlichen, geistigen oder geistlichen Gesichtspunkt aus betrachten, können in Seiner Gegen­wart nicht bestehen.

 

"Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern". Er schwebte gleichsam brütend über dem Ort Seines zukünftigen Wirkens. Wahrlich, ein finsterer Ort ‑ ein Ort, der dem Gott des Lichts und des Lebens einen unbegrenzten Raum zum Wirken bot. Er allein konnte die Finsternis erleuchten, Leben hervorbringen, Ordnung an die Stelle des Chaos setzen und zwischen den Wassern eine Ausdehnung schaffen, in der das Leben sich ohne Todesfurcht ausbreiten konnte. Das waren in der Tat Unternehmungen, die Gottes würdig waren.

 

"Und Gott sprach.‑ Es werde Licht! und es ward Licht" (V. 3). Wie einfach, und doch göttlich! "Denn er sprach, und es war; er gebot, und es stand da" (Ps. 33, 9). Der Unglaube mag fragen: "Wie und wann?" Die Antwort lautet: "Durch Glauben verstehen wir, daß die Welten durch Gottes Wort bereitet worden sind, so daß das, was man sieht, nicht aus Erscheinendem geworden ist" (Hebr. 11, 3). Das befriedigt eine Seele, die sich belehren lassen will. Die Weltweisheit mag verächt­lich darüber lächeln und es Unwissenheit oder Leichtgläubigkeit nennen, die zwar einem barbarischen Zeitalter angemessen, aber unwürdig für Menschen sind, die in einem aufgeklärten Jahrhundert der Weltge­schichte leben, wo uns die Wissenschaft mit Tatsachen vertraut gemacht hat, von denen jene inspirierten Schreiber nichts wußten. Welche Weis­heit! Welche Gelehrsamkeit! Nein, lieber welche Torheit! Welch ein Unsinn! Welche Unfähigkeit, den Zweck und die Absicht der Heiligen Schrift zu verstehen! Sicher ist es nicht die Absicht Gottes, uns zu Wissenschaftlern auszubilden. Seine Absicht ist es, uns in Seine Gegen­wart zu führen, und zwar als Anbeter, deren Herz und Verständnis durch Sein heiliges Wort belehrt und richtig geleitet werden. Doch das genügt dem sogenannten Philosophen nicht. Nein, er verachtet die nach seiner Meinung gewöhnlichen und engherzigen Vorurteile des frommen Jüngers des Wortes und greift vertrauensvoll zum Fernrohr und entdeckt damit ferne Welten. Oder er steigt hinab in die Tiefen der Erde, um ihre Schichten, Bildungen, Versteinerungen usw. zu er­forschen, die, wie er meint, die inspirierten Mitteilungen der Heiligen Schrift vervollständigen, wenn sie nicht gar im Widerspruch dazu stehen.

 

Mit solchen "Widersprüchen der fälschlich sogenannten Kenntnis" haben wir nichts zu schaffen. Wir glauben, daß alle wahren Entdeckungen, sei es im All oder auf der Erde, mit den Mitteilungen des Wortes Gottes stets in Einklang stehen werden. Tun sie es nicht, so sind sie nach dem Urteil eines jeden Freundes der Schrift zurückzuweisen. Das gibt dem Herzen große Ruhe in einer Zeit, die so reich ist an gelehrten Spekulationen und hochtrabenden Theorien, die leider nur zu oft Rationalismus und ausgeprägten Unglauben verraten. Es ist sehr nötig, daß das Herz bezüglich der Autorität, der Vollkommenheit und der göttlichen Eingebung des heiligen Buches fest gegründet ist, denn darin beruht die einzige wirksame Schutzwehr gegen Rationalismus einerseits und Aberglauben andererseits. Genaue Bekanntschaft mit dem Wort und völlige Unterwerfung unter das Wort sind gegenwärtig die wichtigsten Erfordernisse. Möge der Herr in Seiner großen Gnade das eine wie das andere in unserer Mitte reichlich vermehren.

 

"Und Gott sah das Licht daß es gut war; und Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht" (V. 4. 5). Hier haben wir die beiden großen Sinnbilder, die im ganzen Wort so häufig Anwendung finden. Die Gegenwart des Lichts macht den Tag aus, seine Abwesenheit die Nacht. In der Ge­schichte der Seelen finden wir dasselbe. Es gibt "Söhne des Lichts" und "Söhne der Finsternis". Das ist eine scharf bezeichnete, ernste Unter­scheidung. Alle, auf die das Licht des Lebens geschienen hat, alle, die wirklich besucht worden sind von "dem Aufgang aus der Höhe" (Luk. 1, 78), alle, die den "Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi" (2. Kor. 4,6) geschaut haben ‑ alle diese, wer und wo sie auch sein mögen, gehören der ersten Klasse an: sie sind "Söhne des Lichts" und "Söhne des Tages". Alle aber, die sich noch von Natur in Finsternis, Blindheit und Unglauben befinden, alle, die in ihren Herzen noch nicht die Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit aufgenom­men haben ‑ diese alle sind noch in die Schalten geistlicher Nacht ge­hüllt. Sie sind "Söhne der Finsternis" und "Söhne der Nacht".

 

Lieber Leser! Denke einen Augenblick nach und frage dich in der Ge­genwart dessen, der die Herzen erforscht, welcher von diesen beiden Klassen du angehörst. Daß du entweder auf der einen oder auf der anderen Seite deinen Platz hast, bedarf keiner Frage. Du magst arm, verachtet und ungelehrt sein, aber wenn die Gnade ein Band gewirkt hat, das dich mit dem Sohn Gottes, dem "Licht der Welt", verbindet, dann bist du in Wahrheit ein Sohn des Tages und wirst bald für immer wie ein Stern in der himmlischen Herrlichkeit glänzen, in dem Bereich, deren Zentralsonne das "geschlachtete Lamm" in Ewigkeit sein wird. Das ist nicht dein eigenes Werk. Es ist das Ergebnis des Ratschlusses ‑und der Wirksamkeit Gottes selbst, der in Jesu und in Seinem vollkommenen Opfer dir Licht und Leben, Freude und Frieden geschenkt hat ' Aber wenn du die heilige Wirkung und den Einfluß des göttlichen Li noch nicht kennst und deine Augen noch nicht geöffnet worden sind, irgendwelche Schönheit in dem Sohne Gottes zu erblicken, dann bist du ‑ auch wenn du große Intelligenz und alle Schätze der Philosophie besitzt, und alle Ströme menschlicher Weisheit getrunken hast und dein Name alle Gelehrtentitel trägt, die Schulen und Universitäten verleihen können ‑ so bist du dennoch ein "Sohn der Nacht", ein "Sohn der Finsternis". Und überrascht dich der Tod in deinem gegenwärtigen Zustand, so fällst du in Finsternis und Schrecken einer ewigen Nacht. Darum lies keine Seite weiter, bevor du völlig befriedigt bist in bezug auf die Frage, ob du dem "Tage" oder der "Nacht" angehörst.

 

Der nächste Punkt, auf den ich eingehen möchte, ist die Erschaffung der Lichter. "Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Ausdehnung des Himmels, um den Tag von der Nacht zu scheiden, und sie seien zu Zeichen und zur Bestimmung von Zeiten und Tagen und Jahren; und Sie seien zu Lichtern an der Ausdehnung des Himmels, um auf die Erde zu leuchten! Und es war also. Und Gott machte die zwei großen Lichter: das große Licht zur Beherrschung des Tages, und das kleine Licht zur Beherrschung der Nacht, und die Sterne" (V. 14‑16).

 

Die Sonne ist der große Mittelpunkt des Lichts und der Mittelpunkt unseres Systems. Rings um sie her kreisen die kleineren Himmelskörper, und von ihr empfangen sie Licht. Daher kann sie mit Recht als ein passendes Sinnbild dessen betrachtet werden, der als die "Sonne der Gerechtigkeit mit Heilung in ihren Flügeln" aufgehen wird, um die Herzen derer zu erfreuen, die den Herrn fürchten. Das Passende und Schöne dieses Sinnbildes wird aber erst dem vollkommen klar, der nach durchwachter Nacht die aufgehende Sonne mit ihren glänzenden Strahlen den östlichen Himmel vergolden sieht. Die Nebel und Schatten der Nacht verschwinden, und die ganze Schöpfung scheint das wieder­kehrende Licht zu begrüßen. So wird es sein, wenn einst die Sonne der Gerechtigkeit aufgeht. Die Schatten der Nacht werden entfliehen, und die ganze Schöpfung wird erfreut sein über das Dämmern eines "Mor­gens ohne Wolken", über das Anbrechen eines glänzenden und nie endenden Tages der Herrlichkeit.

 

Der Mond, dunkel in sich selbst, läßt stets das Licht der Sonne wider­strahlen.*) Wenn die Sonne hinter dem Horizont versunken ist, so ist der Mond da, um die von ihr aufgefangenen Strahlen auf eine dunkle

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*) Es ist interessant, daß der Mond durch ein gutes Fernrohr den Anblick eines ruinierten Naturzustandes bietet.

 

Welt zurückzuwerfen. Sollte er aber während des Tages sichtbar sein, so zeigt er stets ein bleiches Licht ‑ die notwendige Folge seines Erscheinens in Gegenwart eines höheren Glanzes. Allerdings treten auch manchmal die Erde und ihre Einflüsse störend dazwischen und verber­gen durch Wolken und Nebel vor unseren Blicken sein silbernes Licht.

 

Wie nun die Sonne ein schönes und passendes Sinnbild von Christus ist, so erinnert uns der Mond in auffallender Weise an die Kirche oder Versammlung. Christus, die Quelle ihres Lichtes, ist dem natürlichen Auge verborgen. Die Welt sieht Ihn nicht, sie aber sieht Ihn und ist verantwortlich, Seine Strahlen auf eine umnachtete Welt zurückzuwer­fen. Die Kirche Gottes bietet der Welt einen Weg, um etwas von Christus zu lernen. Der Apostel sagt: "Ihr seid unser Brief ... gekannt und gelesen von allen Menschen; die ihr offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid"( 2. Kor. 3, 2. 3).

 

Welch eine verantwortliche Stellung! Wie ernst sollte die Kirche in allen ihren Wegen gegen alles wachen, was den Widerschein des himmlischen Lichtes Christi verhindern könnte! Wie aber soll sie dieses Licht zu­rückstrahlen lassen? Dadurch, daß sie es in seinem ungetrübten Glanz auf sich scheinen läßt. Würde die Kirche nur im Licht Christi wandeln, so ließe sie auch ohne Zweifel Sein Licht reflektieren, und dies würde sie stets in der ihr geziemenden Stellung erhalten. Der Mond hat kein eigenes Licht. Ebenso verhält es sich mit der Kirche. Sie ist nicht be­rufen, sich selbst in den Blickpunkt der Welt zu stellen. Sie ist nur schuldig, das Licht widerstrahlen zu lassen, das sie selbst empfängt. Sie hat die Verpflichtung, mit heiligem Fleiß den Weg, den Er ging, zu erforschen und durch die Energie des in ihr wohnenden Heiligen Geistes Ihm auf diesem Weg zu folgen. Aber ach! Die Welt mit ihren Nebeln und Wolken tritt oft störend dazwischen und verbirgt das Licht und befleckt den Brief. Man kann oft nur wenig von den Zügen des Charakters Christi bei denen entdecken, die sich nach Seinem Namen nennen; ja, bei manchen Gelegenheiten zeigen sie eher einen demütigen­den Gegensatz als eine Ähnlichkeit. Möchten wir Christus mehr unter Gebet betrachten, damit wir ein treueres Bild von Ihm darstellen können!

 

Die Sterne sind ferne Lichter. Sie leuchten in anderen Welten und stehen nicht in unmittelbarer Verbindung mit unserem Sonnensystem, außer daß ihr Flimmern gesehen werden kann. Es unterscheidet sich Stern von Stern an Herrlichkeit". So wird es in dem kommenden Reich des Sohnes sein. Er wird in lebendigem und ewigem Glanz strahlen, Sein Leib, die Kirche, wird Seine Strahlen auf ihre Umgebung zurückfallen lassen, und die einzelnen Gläubigen werden in der Sphäre scheinen, den der gerechte Richter ihnen zum Lohn für treuen Dienst in der Nacht Seiner Abwesenheit zuweist. Dieser Gedanke sollte uns ermuntern, unserem abwesenden Herrn ähnlicher zu werden (Luk. 19,12‑19).

 

Nun treten die niedrigen Ordnungen der Schöpfung in Erscheinung. Das Meer und die Erde sollen von lebendigen Wesen wimmeln. Einige glauben, in den Verrichtungen jedes Schöpfungstages ein Vorbild der verschiedenen Haushalte und ihrer großen charakteristischen Grund­sätze erblicken zu müssen. Ich möchte dazu nur bemerken, daß es not­wendig ist, wenn man die Schrift in dieser Weise behandeln will, über die Einbildungskraft zu wachen, sowie streng die Aufmerksamkeit auf die allgemeine Übereinstimmung der Schrift zu richten, denn sonst liegt die Gefahr nahe, in traurige Irrtümer zu verfallen. Ich jedenfalls möchte mich nicht auf diese Art der Auslegung einlassen und werde mich daher nur auf das beschränken, was ich als den klaren Sinn des Textes zu erkennen glaube.

 

Wir kommen jetzt zu dem Platz des Menschen, als gesetzt über die Werke der Hand Gottes. Nachdem alles geordnet war, brauchte die Schöpfung ein Haupt. "Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen in unserem Bilde, nach unserem Gleichnis; und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und über das Gevögel des Himmels und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das sich auf der Erde regt! Und Gott schuf den Menschen in seinem Bilde, im Bilde Gottes schuf er ihn; Mann und Weib schuf er sie. Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan; und herrschet über die Fische des Meeres und über das Gevögel des Himmels und über alles Getier, das sich auf der Erde regt" (V. 26‑28). Auffallend ist die Ab­wechslung in den Ausdrücken: "Er schuf ihn" und "Er schuf sie". Zwar wird uns erst im nächsten Kapitel die Erschaffung der Frau mit­geteilt, jedoch finden wir hier, daß Gott "sie" segnet und ihnen ge­meinschaftlich den Platz der Regierung über die Erde einräumt. Alle niedrigeren Ordnungen der Schöpfung werden unter ihre vereinte Herr­schaft gestellt. Eva empfing alle ihre Segnungen in Adam. In ihm er­ langt sie auch ihre Würde. Obwohl sie noch nicht tatsächlich ins Dasein gerufen war, wurde sie doch in dem Ratschluß Gottes als ein Teil des Mannes betrachtet. "Meinen Keim sahen deine Augen, und in dein Buch waren sie alle eingeschrieben; während vieler Tage wurden sie gebildet, als nicht eines von ihnen war" (Ps. 139, 16).

 

Ebenso ist es mit der Kirche, der Braut des zweiten Menschen. Sie wurde von Ewigkeit her in Christo, ihrem Haupt und Herrn, gesehen, wie wir in Eph. 1, 4 lesen: "Wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, daß wir heilig und tadellos seien vor ihm in Liebe". Bevor noch ein einziges Glied der Versammlung lebte, waren alle schon nach Gottes ewigem Willen "zuvorbestimmt dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein". Nach den Ratschlüssen Gottes ist die Kirche notwendig zur Vollendung des geheimnisvollen Menschen. Darum ist sie berufen, "die Fülle dessen zu sein, der alles in allem erfüllt". Das ist ein wun­derbarer Titel. Er enthält die Würde, die Wichtigkeit und 2.ic Herrlich­keit der Versammlung.

 

Man hat sich vielfach daran gewöhnt, die Segnung und Sicherheit einzel­ner Seelen als das einzige Ziel der Erlösung zu betrachten, aber wie gering und unvollständig ist eine solche Meinung von der Erlösung! Daß wir auch individuell vollkommen sichergestellt sind, unterliegt keinem Zweifel. Dennoch ist da‑, der kleinste Teil der Erlösung. Die Herrlichkeit Christi ist in die Existenz der Kirche oder Versammlung eingeschlossen und damit verbunden, und das ist eine Tatsache von weit höherer Würde und Kraft. Wenn ich nach den Worten der Heiligen Schrift berechtigt bin, mich als einen Bestandteil von dem zu betrachten, was Christus unumgänglich bedarf, so kann ich an der völligen Vor­sorge bezüglich meiner persönlichen Bedürfnisse nicht länger zweifeln. Und ist die Kirche für Christus nicht unumgänglich nötig? Ohne Zwei­fel. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, seines Gleichen". Und wiederum: "Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib vom Manne; denn der Mann wurde auch nicht um des Weibes willen geschaffen, sondern das Weib um des Mannes willen ... Dennoch ist weder das Weib ohne den Mann, noch der Mann ohne das Weib im Herrn. Denn gleichwie das Weib vom Manne ist, also ist auch der Mann durch das Weib; alles aber von Gott" (l. Kor. 11, 8‑12). Wie ohne Eva eine Lücke in der Schöpfung gewesen wäre, so wäre ohne die Braut, die Kirche, eine Lücke in der neuen Schöpfung.

 

Laßt uns jetzt untersuchen, in welcher Weise Eva ins Dasein gerufen wurde. Wir müssen dabei auf den Inhalt des nächsten Kapitels vor­greifen. In der ganzen Schöpfung wurde keine Hilfe für Adam ge­funden. Ein "tiefer Schlaf" mußte auf ihn fallen und eine Gefährtin aus ihm selbst gebildet werden, um seine Herrschaft und Segnung zu teilen. "Und Gott der HERR ließ einen tiefen Schlaf auf den Menschen fallen, und er entschlief. Und er nahm eine von seinen Rippen und verschloß ihre Stelle mit Fleisch; und Gott der HERR baute*) aus der Rippe, die er von dem Menschen genommen hatte, ein Weib, und er brachte sie zu dem Menschen. Und der Mensch sprach: Diese ist einmal Gebein von meinen Gebeinen und Fleisch von meinem Fleisch; diese soll Männin heißen, denn vom Manne ist diese genommen" (Kap. 2,21‑23).

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*) Das hebräische Wort, das hier mit "baute" übersetzt ist, wird in der Septuaginta mit okodomesen wiedergegeben. In Eph. 2, 20. 22 sind die Worte "aufgebaut" und "mitaufgebaut" Ableitungen desselben griechischen Wortes.

 

Wenn wir nun Adam und Eva als ein Vorbild von Christus und der Kirche betrachten, wozu uns die Schrift völlig berechtigt, so sehen wir, daß der Tod Christi eine vollendete Tatsache sein mußte, bevor die Kirche gebildet werden konnte, obwohl sie nach dem Vorsatz Gottes vor Grundlegung der Welt in Christus gesehen und auserwählt wurde. Zwischen dem verborgenen Ratschluß Gottes und seiner Offenbarung und Ausführung, besteht ein großer Unterschied. Bevor der Ratschluß Gottes in bezug auf die Kirche verwirklicht werden konnte, mußte der Sohn verworfen und gekreuzigt werden. Er mußte Seinen Platz im Himmel einnehmen und, um die Gläubigen zu einem Leibe zu taufen, den Heiligen Geist herniedersenden. Das heißt natürlich nicht, daß einzelne Seelen nicht schon vor dem Tod Christi lebendig gemacht und errettet worden waren. Ohne Zweifel war das der Fall. Adam und viele tausend andere im Lauf der Zeiten wurden durch das Opfer Christi errettet, obwohl dieses Opfer noch nicht vollbracht war. Aber die Er­rettung einzelner Seelen und die Bildung der Kirche durch den Heiligen Geist sind zwei verschiedene Dinge. Leider wird dieser Unterschied nicht genug beachtet, und selbst da, wo er der Lehre nach verteidigt wird, findet man nur selten die praktischen Ergebnisse, die aus einer so hohen Wahrheit hervorgehen sollten. Der einzigartige Platz der Kirche, ihr besonderes Verhältnis zu dem "zweiten Menschen, dem Herrn vom Himmel", ihre besonderen Vorrechte und Würden ‑ alles das würde, wenn es durch die Kraft des Heiligen Geistes aufgenommen und erfaßt würde, reiche 'und liebliche Früchte hervorbringen (Siehe Eph. 5, 23‑32).

 

Wenn wir nun das vorliegende Bild betrachten, können wir uns eine ge­wisse Vorstellung von den Ergebnissen machen, die aus dem Ver­ständnis über die Stellung der Kirche hervorgehen sollten. Wieviel Liebe schuldete Eva dem Adam! Welche Nähe genoß sie! Wie eng war die Gemeinschaft! Wie nahm sie teil an allen seinen Gedanken! In all seiner Würde, in all seiner Herrlichkeit war sie vollständig eins mit ihm. Er herrschte nicht über sie, sondern mit ihr. Er war Herr der ganzen Schöpfung, und sie war eins mit ihm, ja, sie wurde, wie bereits be­merkt, in ihm gesehen und gesegnet. Um des "Mannes" willen wurde sie ins Dasein gerufen. Zuerst wurde der Mann geschaffen, dann das Weib in ihm gesehen und aus ihm gebildet.

 

In Psalm 8 finden wir eine schöne Darstellung des Menschen, den Gott über das Werk Seiner Hände gesetzt hat: "Wenn ich anschaue deinen Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, und des Men­schen Sohn, daß du auf ihn acht hast? Denn ein wenig hast du ihn unter die Engel erniedrigt; und mit Herrlichkeit und Pracht hast du ihn ge­krönt. Du hast ihn zum Herrscher gemacht über die Werke deiner Hände; alles hast du unter seine Füße gestellt: Schafe und Rinder alle­samt und auch die Tiere des Feldes, das Gevögel des Himmels und die Fische des Meeres, was die Pfade der Meere durchwandert" (Ps. 8, 3‑8). Hier wird uns der Mensch ohne Erwähnung des Weibes vorgestellt. Das ist durchaus richtig, denn das Weib wird im Mann gesehen.

 

In keinem Teil des Alten Testaments finden wir eine direkte Offen­barung des Geheimnisses der Kirche. Der Apostel sagt ausdrücklich: "Welches in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden, wie es jetzt geoffenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten (des Neuen Testaments) im Geiste" (Eph. 3, 5). Aus diesem Grund wird in Psalm 8 nur der "Mann" vor unsere Augen gestellt, aber wir wissen, daß Mann und Weib gleichsam unter einer Überschrift betrachtet werden. Dies alles wird in den zukünftigen Zeitaltern sein vollkommenes Gegenbild finden. Dann wird der wahre Mensch, der Herr vom Himmel, Seinen Platz auf dem Thron einnehmen und in Gemeinschaft mit Seiner Braut, der Kirche, über eine wiederhergestellte Schöpfung herrschen. Die Kirche, die lebendig aus dem Grab Christi hervorging, ist ein Teil von seinem Leibe, von seinem Fleische und von seinen Gebeinen". Der Herr Jesus als das Haupt und die Kirche als der Leib machen einen Menschen aus, wie wir in Kapi­tel 4 des Epheserbriefes lesen: "Bis wir alle hingelangen zu der Einheit des Glaubens und der Erkenntnis des Sohnes Gottes, zu dem erwachse­nen Manne, zu dem Maße des vollen Wuchses der Fülle des Christus". Da die Kirche einen Teil von Christus bildet, wird sie in der Herrlichkeit einen besonderen, nur für sie allein bestimmten Platz einnehmen. Kein anderes Geschöpf stand Adam so nahe wie Eva, denn keins war ein Teil von ihn. Ebenso wird die Kirche in der zukünftigen Herrlichkeit den allernächsten Platz bei Christus einnehmen.

 

Doch nicht nur, was die Kirche sein wird, sondern auch was sie ist, ruft unsere Bewunderung hervor. Sie ist jetzt der Leib Christi. Sie ist jetzt der Tempel, in dem Gott selbst Wohnung gemacht hat. Wenn aber das die gegenwärtige und die zukünftige Würde der Versammlung ist, von der wir durch Gottes Gnade einen Teil bilden, dann geziemt uns ein heiliger, unterwürfiger und abgesonderter Lebensweg.

 

Möge der Heilige Geist diese Dinge unseren Herzen deutlicher offen­baren, damit sich unser Verantwortungsgefühl immer mehr vertieft, unserer hohen Berufung durch würdiges Verhalten zu entsprechen. "Damit ihr, erleuchtet an den Augen eures Herzens, wisset, welches die Hoffnung seiner Berufung ist, und welches der Reichtum der Herrlich­keit seines Erbes in den Heiligen, und welches die überschwengliche Größe seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke, in welcher er gewirkt hat in dem Christus, indem er ihn aus den Toten auferweckte; und er setzte ihn zu seiner Rechten in den himmlischen Örtern, über jedes Fürstentum und jede Gewalt und Kraft und Herrschaft und jeden Namen, der genannt wird, nicht allein in diesem Zeitalter, sondern auch in dem zukünftigen, und hat alles seinen Füßen unterworfen und ihn als Haupt über alles der Versamm­lung gegeben, welche sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt" (Eph. 1, 18‑23).

 

Kapitel 2

 

DER SIEBTE TAG UND DER "STROM‑

 

Das 2. Kapitel lenkt unsere Aufmerksamkeit auf zwei wichtige Dinge, nämlich auf den "siebenten Tag" und auf den "Strom". Der siebte Tag verdient besondere Beachtung.

 

Es gibt wohl wenige Punkte, über die so viel Mißverständnis und Widerspruch herrscht, wie über die Lehre vom "Sabbath". Dabei ist nicht der geringste Grund dazu vorhanden, denn der ganze Gegenstand ist im Wort klar und einfach entwickelt. Das bestimmte Gebot, den "Sabbathtag zu heiligen", wird uns, wenn der Herr es erlaubt, in unserer Betrachtung des zweiten Buches Mose beschäftigen. Im vorliegenden Kapitel wird dem Menschen kein Gebot gegeben, sondern nur die Mitteilung gemacht, daß Gott am siebten Tag ruhte. Wir lesen: "So wurden vollendet der Himmel und die Erde und all ihr Heer. Und Gott hatte am siebenten Tage sein Werk vollendet, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebenten Tage von all seinem Werk, das er ge­macht hatte. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an demselben ruhte er von all seinem Werk, das Gott geschaffen hatte, indem er es machte" (V. 1‑3). Hier finden wir also kein Gebot. Es wird uns lediglich erzählt, daß Gott Seine Ruhe genoß, weil alles, was die Schöpfung betraf, vollendet war. Es gab nichts mehr zu tun, und deshalb beendete Er Sein Werk und ruhte, nachdem Er sechs Tage gearbeitet hatte. Alles war vollendet, sehr gut, und so, wie Er es ge­macht hatte, und Er ruhte darin. Die Morgensterne jubelten miteinan­der, und alle Söhne Gottes jauchzten" (Hiob 38, 7). Das Werk der Schöpfung war vollendet, und Gott feierte einen Sabbath.

 

Das ist auch der wahre Charakter des Sabbaths. Es war der einzige Sabbath, der, so weit uns das Wort darüber belehrt, von Gott je gefeiert worden ist. Später lesen wir, daß Gott dem Menschen die Heili­gung des Sabbaths gebot, und daß der Mensch dieses Gebot ganz außer acht ließ, aber nirgends lesen wir wieder die Worte: "Gott ruhte". Es heißt im Gegenteil: "Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke" (Joh. 5, 17). Der Sabbath konnte im genauen Sinn des Wortes nur dann ge­feiert werden, wenn es nichts mehr zu tun gab. Er konnte nur in einer makellosen Schöpfung gefeiert werden, wo es keinen Flecken von Sünde gab. Gott kann nicht da ruhen, wo Sünde ist, und ein Blick um uns her wird uns überzeugen, daß es Gott unmöglich ist, in der jetzigen Schöpfung Ruhe zu genießen. Dornen und Disteln und tausend andere traurige und demütigende Früchte einer seufzenden Schöpfung zeigen uns, daß Gott jetzt wirken muß und nicht ruhen kann. Sollte Er ruhen können inmitten von Dornen und verkrüppelten Sträuchern? Sollte Er ruhen können trotz der Seufzer und Tränen, der Mühen und Sorgen, trotz Krankheit und Tod und der Schuld einer verderbten Weit? Sollte Er Sich da niederlassen und inmitten solcher Umstände einen Sabbath feiern können?

 

Wie man auch diese Fragen beantworten mag, die Heilige Schrift be­lehrt uns, daß Gott bis jetzt keinen Sabbath gefeiert hat, außer dem, der in 1. Mose 2 erwähnt wird. Der "siebente Tag" und kein anderer war der Sabbath. Er bezeugte die Vollendung des Schöpfungswerkes, aber das Schöpfungswerk ist verdorben und die Sabbathruhe unterbro­chen worden, und darum hat Gott vom Sündenfall an gewirkt.

 

Auch Christus hatte keinen Sabbath, als Er auf der Erde war. Er voll­endete Sein Werk, aber wo brachte Er den Sabbath zu? Im Grab! Der Herr Jesus, Gott, geoffenbart im Fleische, der Herr des Sabbaths, der Schöpfer und Erhalter des Himmels und der Erde, brachte den siebten Tag im Grabe zu. Will uns das nichts sagen? Hätte der Sohn Gottes am siebten Tag im Grabe liegen können, wenn dieser Tag in Ruhe und Frieden und in dem vollen Bewußtsein verbracht werden sollte, daß jedes Wirken beendet war? Unmöglich! Wir brauchen keinen weiteren Beweis für die Unmöglichkeit einer Sabbathfeier als den, der uns in dem Grab Jesu. dargeboten wird. Der Mensch ist ein gefallenes, verderb­tes, schuldbeladenes Geschöpf. Auf dem Gipfel seiner bösen Laufbahn hat er den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt und nach vollbrachter Tat einen großen Stein vor die Öffnung des Grabes gewälzt, um Ihn, wenn möglich, zu hindern, das Grab zu verlassen. Und was tat er, während der Sohn Gottes im Grabe lag? Er feierte den Sabbath! Welch ein Gedanke! Christus liegt im Grab, um den gebrochenen Sabbath wieder­herzustellen, und der Mensch versucht, den Sabbath zu halten, als wäre er nie gebrochen worden. Gewiß, es war des Menschen und nicht Gottes Sabbath. Es war ein Sabbath ohne Christus, und darum eine leere, kraft ­und wertlose Form.

 

Man wird einwenden: "Der Tag ist verändert worden, während die ihm eigenen Grundsätze dieselben geblieben sind". Aber die Schrift liefert zu einem solchen Gedanken keinen Grund. Oder gibt es ein gött­liches Zeugnis für diese Behauptung? Nein. Im Gegenteil, die Unter­scheidung wird im Neuen Testament klar beibehalten. Zum Beweis führe ich die bemerkenswerte Stelle an: "Aber spät am Sabbath, in der Dämmerung des ersten Wochentages" (Matth. 28, 1). Hier ist keine Rede davon, daß der siebte Tag in den ersten Tag umgewandelt, oder daß der Sabbath auf einen anderen Tag verlegt worden sei. Der erste Tag der Woche ist nicht ein veränderter Sabbath, sondern ein neuer Tag. Er ist der erste Tag eines neuen Zeitabschnitts, und nicht der letzte Tag eines alten. Der siebte Tag steht mit der Erde und der irdischen Ruhe in Verbindung, während der erste Tag der Woche uns in den Himmel und in die himmlische Ruhe führt.

 

Dieser Unterschied ist von großer Bedeutung. Feiere ich den siebten Tag, so kennzeichnet mich das als einen irdischen Menschen, da dieser Tag die Ruhe der Erde, die Schöpfungsruhe, ausdrückt. Verstehe ich aber durch die Belehrung des Wortes und des Geistes Gottes die Be­deutung des ersten Tages der Woche, so werde ich seine unmittelbare Verbindung mit der neuen und himmlischen Ordnung begreifen, deren ewige Grundlage der Tod und die Auferstehung Christi bilden. Der siebte Tag gehörte Israel und der Erde, der erste Tag der Woche gehört der Kirche und dem Himmel an. Israel wurde geboten, den siebten Tag zu feiern, während die Kirche das Vorrecht besitzt, sich des ersten Tages der Woche zu erfreuen. Der siebte Tag war der Prüfstein des sittlichen Zustandes Israels. Der erste Tag ist ein Beweis für die ewige Annahme der Kirche. Jener machte offenbar, was Israel für Gott tun konnte. Dieser stellt ans Licht, was Gott für uns getan hat.

 

Es ist unmöglich, den Wert und die Wichtigkeit des "Tages des Herrn",*) wie der erste Tag der Woche in Offb. 1 genannt wird, hoch

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*) Griech.. he kyriakb hem&a = des Herrn Tag, oder der dem Herrn gehörende Tag ‑ ein besonderer Ausdruck, der nur hier und in 1. Kor. 11, (dort in Verbindung mit dem Abendmahl) vorkommt.

 

genug zu schätzen. Da es der Tag ist, an dein Christus aus den Toten auferstand, so stellt er uns nicht die Vollendung der Schöpfung, sondern den vollkommenen und herrlichen Triumph der Erlösung vor Augen. Wir sollten die Feier des ersten Tages der Woche nicht als eine knechti­sche Verpflichtung, als ein auf den Christen gelegtes Joch betrachten. Nein, es ist die Freude des Christen, diesen wunderbaren Tag zu feiern. Daher finden wir, daß die ersten Christen vorzugsweise am ersten Tag der Woche zusammenkamen, um das Brot zu brechen, und im ersten Abschnitt der Geschichte der Kirche wurde der Unterschied zwi­schen dem Sabbath und dem ersten Tag der Woche völlig aufrecht er­halten. Die Juden feierten den Sabbath dadurch, daß sie sich in ihren Synagogen versammelten, um das "Gesetz und die Propheten" zu lesen. Die Christen feierten den ersten Wochentag dadurch, daß sie zusammen­kamen, um das Brot zu brechen. Es gibt keine einzige Stelle in der Schrift, in welcher der erste Tag der Woche der Sabbath genannt wird, während es Beweise genug für die Verschiedenheit der beiden Tage gibt.

 

Verlieren wir jedoch nicht die wichtige Wahrheit aus dem Auge, daß der Sabbath in dem Lande Israel und in der ganzen Schöpfung einmal gefeiert werden wird. "Also bleibt noch eine Sabbathruhe dem Volke Gottes übrig" (Hebr. 4, 9). Wenn der Sohn Abrahams, der Sohn Davids, der Sohn des Menschen Seine regierende Stellung über die ganze Erde ein­nehmen wird, dann wird ein herrlicher Sabbath anbrechen, eine Ruhe, die nicht mehr durch die Sünde gestört werden wird. Doch jetzt ist Er verworfen, und alle, die Ihn kennen und lieben, sind berufen, mit Ihm den Platz Seiner Verwerfung zu teilen. Sie sind berufen, hinauszugehen außerhalb des Lagers, seine Schmach tragend (Hebr. 13, 13). Könnte die Erde einen Sabbath feiern, so wäre keine Schmach mehr vorhanden.

 

Betrachten wir jetzt die Verbindung zwischen dem Sabbath und dem aus Eden fließenden Strom. Es liegt viel Schönes darin. Zum ersten Mal hören wir von dem "Strome Gottes", der hier in Verbindung mit der Ruhe Gottes erwähnt wird. Als Gott in Seinen Werken ruhte, da fühlte die ganze Schöpfung die Segnung und Erquickung dieser Ruhe. Es war für Gott unmöglich, einen Sabbath zu feiern, ohne daß die Erde davon einen heiligen Einfluß fühlte. Leider wurden die Ströme, die aus Eden, dem Ort der irdischen Ruhe, flossen, bald unterbrochen, weil die Ruhe der Schöpfung durch die Sünde gestört wurde.

 

Doch Gott sei gepriesen! Die Sünde beendete nicht das Wirken Gottes, sondern bot Seiner Tätigkeit nur einen neuen Bereich, und wo irgend man Gott wirken sieht da spürt man auch das Fliegen des "Stromes Wenn Er mit starker Hand und ausgestrecktem Arm Seine erlösten Scha­ren durch die Wüste führt, sehen wir auch den Strom fließen, nicht aus Eden, sondern aus dem geschlagenen Felsen ‑ eine passende und schöne Darstellung der Grundlage, auf der die freie Gnade dem Bedürfnis des Sünders entspricht. Hier ist es Erlösung und nicht bloß Schöpfung. "Der Fels aber war der Christus", Christus, geschlagen, um 2.em Bedürfnis Seines Volkes zu begegnen. Der geschlagene Felsen stand in Verbindung mit dem Platz des HERRN in der Stiftshütte, und in dieser Verbindung liegt eine große Schönheit. Gott wohnt "unter Teppichen" und Israel trinkt aus dem geschlagenen Felsen ‑ welch eine Sprache für jedes offene Ohr, und welch eine Unterweisung für jedes "beschnittene Herz! (2. Mose 17, 6).

 

Wenn wir die Geschichte der Wege Gottes weiter verfolgen, so finden wir den Strom, wie er in einem anderen Bett dahinfließt. "An dem letzten, dem großen Tag des Festes aber stand Jesus und rief und sprach: Wenn jemand dürstet, so komme er zu mir und trinke. Wer an mich glaubt, gleichwie die Schrift gesagt hat, aus dessen Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen" (Joh. 7, 37. 38). Hier sehen wir also den Strom aus einer anderen Quelle hervorkommen und sich durch ein anderes Bett ergießen. Obwohl in einem Sinn die Quelle des Stromes stets dieselbe blieb, nämlich Gott selbst, wurde Gott doch jetzt in einer neuen Beziehung und auf einem neuen Grundsatz er­kannt. Der Herr Jesus nahm daher in der eben angeführten Stelle im Geist Seinen Platz außerhalb der bestehenden Ordnung ein und stellte sich als die Quelle des Stromes des lebendigen Wassers, und den Gläubigen als den Kanal dieses Stromes dar. Einst war Eden als Schuldner der ganzen Erde bestimmt, die befruchtenden Ströme von sich ausgehen zu lassen. In der Wüste wurde der Felsen, nachdem er ge­schlagen war, ein Schuldner der dürstenden Israeliten. So ist jetzt jeder, der an Jesus glaubt, ein Schuldner seiner Umgebung, um auf sie "Ströme lebendigen Wassers“ von sich ausfließen zu lassen.

 

Der Christ sollte sich stets als Kanal betrachten, durch den sich die vielfältige Gnade Christi zum Besten einer hilfsbedürftigen Welt er­gießen will, und je reichlicher er austeilt, um so reichlicher wird er emp­fangen. "Da ist einer, der ausstreut, und er bekommt noch mehr; und einer, der mehr spart als recht ist, und es ist nur zum Mangel« (Spr. 11, 24). Dies ist für den Gläubigen ein herrliches Vorrecht, zugleich aber auch eine ernste Verantwortung. Er ist berufen, der beständige Zeuge und Darsteller der Gnade dessen zu sein, an den er glaubt.

 

je mehr er in das Vorrecht eindringt, um so mehr wird er der Ver­antwortlichkeit entsprechen. Wenn er gewohnt ist, sich von Christus zu nähren, so kann er gar nicht anders als Ihn darstellen. je mehr der Heilige Geist das Auge des Christen auf Jesus gerichtet hält, um so mehr wird dessen Herz mit der anbetungswürdigen Person des Herrn beschäftigt sein, und um so mehr werden sein Leben und sein Charakter ein eindeutiges Zeugnis von Seiner Gnade ablegen. Der Glaube ist die Kraft des Dienstes und zugleich die Kraft des Zeugnisses und die Kraft der Anbetung. Wenn wir nicht leben „durch den Glauben an den Sohn Gottes, der uns geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat", so werden wir weder wirksame Diener, noch treue Zeugen, noch wahre Anbeter sein. Wir mögen dann viel wirken, aber es ist kein Dienst für Christus. Wir mögen viel reden, aber es ist kein Zeugnis für Christus. Wir mögen viel Gottseligkeit und Hingabe zur Schau tragen, aber das ist keine geistliche und wahre Anbetung.

 

Schließlich sehen wir den Strom Gottes im letzten Kapitel der Offen­barung*): "Und er zeigte mir einen Strom von Wasser des Lebens, glänzend wie Kristall, der hervorging aus dem Throne Gottes und des, Lammes" (Offb. 22, 1). Ein Strom ‑ seine Bäche erfreuen die Stadt Gottes, das Heiligtum der Wohnungen des Höchsten" (Ps. 46, 4). Das ist die letzte Stelle, in der wir den Strom finden. Sein Wasser kann nie wieder getrübt, und sein Kanal nie wieder zerstört werden. Der "Thron Gottes" drückt eine ewige Beständigkeit aus, und die Gegen­wart des Lammes zeigt uns seine unmittelbare Gründung auf eine voll­brachte Erlösung. Es ist nicht der Thron Gottes in der Schöpfung oder in der Vorsehung, sondern in der Erlösung. Wenn ich das Lamm sehe, so erkenne ich seine Verbindung mit mir als Sünder. Der Thron Gottes" als solcher würde mich erschrecken, aber wenn Gott sich in der Person des Lammes offenbart, so zieht Freude in das Herz und Ruhe in das Gewissen ein.

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*) Vergleiche Hesekiel 47, 1‑12 und Sacharja 14, 8.

 

Das Blut des Lammes reinigt das Gewissen von jedem Makel und Flecken der Sünde und stellt es mit Freimütigkeit in die Gegenwart einer Heiligkeit, die keine Sünde dulden kann. Auf dem Kreuz sind alle Forderungen der göttlichen Heiligkeit vollkommen befriedigt worden, so daß ich das Kreuz um so mehr schätzen werde, je mehr ich die Heilig­keit Gottes verstehe. Je höher unsere Würdigung der Heiligkeit ist, um so höher wird auch unsere Würdigung des Werkes am Kreuz sein. "Die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben durch Jesum Christum, unseren Herrn". Darum fordert der Psalmist die Heiden auf, dem Gedächtnis der Heiligkeit Gottes Dank zu opfern. Dies ist eine kostbare Frucht einer vollkommenen Erlösung. Bevor ein Christ bei der Erinnerung an die Heiligkeit Gottes danken und loben kann, muß er fähig sein, sie durch den Glauben von der Auferstehungsseite des Kreuzes aus zu betrachten.

 

Nachdem wir so den "Strom" vom i. Buch Mose bis zur Offenbarung hin verfolgt haben, wollen wir noch auf die Stellung Adams in Eden einen kurzen Blick werfen. Wir haben ihn als ein Bild von Christus gesehen. Wir haben ihn jedoch nicht nur als ein treffendes Bild von dem "zweiten Menschen vom Himmel" zu betrachten, sondern auch in seiner Stellung persönlicher Verantwortlichkeit. Mitten in der herrlichen Schöpfung richtete Gott der HERR ein Zeugnis auf, und dieses Zeugnis war zugleich ein Prüfstein für das Geschöpf. Er redete vom Tod mitten im Leben. "Welches Tages du davon issest, wirst du gewißlich sterben". Eine ernste und feierliche, zugleich aber auch eine notwendige Stimme! Das Leben Adams wurde abhängig gemacht von seinem Gehorsam. Das Band, das ihn mit Gott dem HERRN verband,*) war der Gehorsam,

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*) Im 2. Kapitel finden wir den Ausdruck Gott" in "Gott der HERR" um­geändert. Dieser Unterschied ist von Bedeutung. Wenn Gott im Blick auf den Menschen in Tätigkeit tritt, so nimmt Er den Titel: "Gott der HERR" (Jahwe Elohim) an, aber bevor der Mensch erscheint, wird der Ausdruck "HERR ­nicht gebraucht. Ich will aus den vielen Stellen, in denen der Unterschied scharf hervortritt, nur drei hervorheben. "Und die hineingingen, waren ein Männliches und Weibliches von allem Fleische, wie Gott (Elohim) ihm ge­boten hatte. Und der HERR schloß hinter ihm zu" (l. Mose 7, 16). Gott (Elohim) stand im Begriff, die Welt, die Er gemacht hatte, zu zerstören, aber, der HERR (Jahwe) trug Sorge für den Menschen, mit dem Er in Beziehung stand. Weiterhin lesen wir: "Die ganze Erde soll erkennen, daß Israel einen Gott (Elohim) hat. Und diese ganze Versammlung soll erkennen, daß der HERR rettet usw." (i. Sam. 17, 46. 47). Die ganze Erde sollte die Gegenwart Elohims erkennen, während Israel berufen war, die Taten Jahwes zu erfahren, mit dem es in Verbindung stand. Endlich wird uns gesagt: "Josaphat schrie; und der HERR half ihm, und Gott (Elohim) lenkte sie von ihm ab" (2. Chr. 18, 31). Der HERR (Jahwe) trug Sorge für Seinen armen Knecht, aber Gott (Elohim) wirkte auf die Herzen der unbeschnittenen Syrer, obgleich diese Ihn nicht kannten.

 

der sich auf das Vertrauen zu dem gründete, der ihm seine hohe Würde verliehen hatte, auf das Vertrauen zu Seiner Wahrheit und Seiner Liebe. Wir werden die Wahrheit und Kraft hiervon deutlicher im nächsten Kapitel sehen.

 

Ich möchte hier auf den Gegensatz aufmerksam machen, der zwischen dem Zeugnis in Eden und dem gegenwärtigen Zeugnis besteht. Damals, als sich überall das Leben zeigte, redete Gott vom Tod, und jetzt wo im Gegenteil alles vom Tod gekennzeichnet ist, spricht Gott vom Leben. Damals galt das Wort: "Welches Tages du davon issest, wirst du sterben“, und jetzt heißt es: "Glaube und lebe!" So wie in Eden der Feind das Zeugnis Gottes bezüglich der Folgen der Übertretung des Gebots unglaubwürdig zu machen suchte, bemüht er sich jetzt, das Zeugnis Gottes über die Ergebnisse des Glaubens an das Evangelium wirkungslos zu machen. Als Gott einst sagte: "Welches Tages du davon issest, wirst du gewißlich sterben sprach die Schlange: "Mitnichten werdet ihr sterben". Und wenn heute das Wort Gottes erklärt, daß "der, welcher an den Sohn glaubt, ewiges Leben habe" (Joh. 3, 36), so sucht dieselbe Schlange die Menschen zu überreden, daß sie weder ewiges Leben haben, noch an so etwas denken dürfen, bevor sie allerlei getan, gefühlt und erfahren haben.

 

Wenn du dem Zeugnis Gottes noch nicht von Herzen geglaubt hast, so laß dich dringend bitten, die "Stimme des Herrn" über das Gezisch der Schlange zu stellen. "Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tode in das Leben übergegangen" (Joh. 5, 24).

 

Evas Erwiderung bewies klar und deutlich, daß sie die listige Frage der Schlange in ihrem Herzen aufgenommen hatte. Anstatt sich an die klaren Worte Gottes zu klammern, fügte sie in ihrer Erwiderung ihnen etwas hinzu.

 

Kapitel 3

 

DER SÜNDENFALL

 

Dieser Abschnitt unseres Buches schildert uns die Auflösung der ganzen bisherigen Szene. Er ist reich an wichtigen Grundsätzen, und ist deshalb oft als Thema von denen benutzt worden, die sich bemühten, das Ver­derben des Menschen und das Heilmittel Gottes ans Licht zu stellen. Die Schlange tritt auf mit einer frechen Frage bezüglich der Anordnung Gottes. Diese Frage ist Vorbild und Vorläuferin aller seitdem erhobenen ungläubigen Fragen solcher, die leider nur zu sehr der Sache der Schlange in der Welt gedient haben. Solchen Fragen kann nur durch die unum­schränkte Autorität und göttliche Majestät der Heiligen Schrift be­gegnet werden.

 

"Hat Gott wirklich gesagt: Ihr sollt nicht essen von jedem Baume des Gartens?" (V. 1). So lautete Satans listige Frage, und hätte das Wort Gottes in dem Herzen Evas reichlich gewohnt, so wäre ihre Ant­wort bestimmt und entschieden gewesen. Der einzig richtige Weg, auf dem wir den Fragen und Einflüsterungen Satans begegnen können, ist der, da,9 wir sie als von ihm kommend behandeln und durch das Wort zurückweisen. Lassen wir sie auch nur für einen Augenblick dem Herzen nahe kommen, so verlieren wir die Kraft, in der wir sie be­antworten können. Der Teufel trieb sein undurchsichtiges Spiel. Er sagte nicht: "Ich bin der Teufel, der Feind Gottes, und bin gekommen, Ihn zu verleumden und euch zu verderben". Das wäre der Schlange nicht ähnlich gewesen. Und dennoch erreichte er das gleiche, indem er Fragen im Herzen des Geschöpfes wachrief. Wenn ich in dem Bewußt­sein, daß Gott gesprochen hat, der Frage: "Sollte Gott gesagt haben?" einen Platz einräume, so ist das wirklicher Unglaube und zeigt zugleich meine Unfähigkeit, der Schlange entgegentreten zu können. Die Art Evas Erwiderung bewies klar und deutlich, daß sie die listige Frage der Schlange in ihrem Herzen aufgenommen hatte. Anstatt sich an die klaren Worte Gottes zu klammern, fügte sie in ihrer Erwiderung ihnen etwas hinzu.

 

Ob ich dem Worte Gottes etwas hinzufüge oder etwas von ihm weg­nehme, beides beweist, daß dieses Wort weder in meinem Herzen wohnt, noch mein Gewissen leitet. Wenn ein Mensch seine Freude am Gehorsam findet, wenn das seine Speise und sein Trank ist, wenn er lebt durch jedes Wart, das aus dem Mund des HERRN hervorgeht, so wird er gewiß auch Sein Wort kennen und auf das Wort achten. Un­möglich wird er gleichgültig gegen dieses Wort sein können. Der Herr Jesus wandte in Seinem Kampf mit Satan das Wort genau an, weil Er darin lebte und es höher schätzte als die Speise, die Er für Seinen Leib brauchte. Er konnte es weder falsch anführen oder verkehrt an­wenden, noch gleichgültig gegen das Wort sein. Nicht so Eva. Sie fügte dem, was Gott gesagt hatte, etwas hinzu. Sein Gebot lautete einfach. "Ihr sollt nicht davon essen". Aber Eva fügte ihre eigenen Worte hinzu: "und sie nicht anrühren". Das waren die Worte Evas und nicht die Worte Gottes. Er hatte nichts von Anrühren gesagt, so daß ihre falsche Anführung (mochte sie nun aus Unwissenheit, oder aus Gleichgültigkeit, oder aus dem Wunsch, Gott in dem Licht eines Tyran­nen darzustellen, oder gar aus allen drei Gründen zugleich hervor­gehen) deutlich zeigte, daß sie den Boden des einfältigen Vertrauens auf das heilige Wort Gottes und der Unterwerfung unter das Wort verlassen hatte. "Durch das Wort deiner Lippen habe ich mich bewahrt vor den Wegen des Gewalttätigen" (Ps. 17, 4).

 

Nichts ist von größerem Interesse als die Art und Weise, wie das Wort und der erforderliche unbedingte Gehorsam gegen dieses Wort überall in den Büchern der Schrift in den Vordergrund gestellt wird. Wir sind dem Wort Gottes einfach darum Gehorsam schuldig, weil es Sein Wort ist. Wir nehmen den Platz des Geschöpfes ein. Er ist der Schöpfer. Er kann deshalb mit Recht Gehorsam von uns fordern. Der Unglaube mag dies einen "blinden" Gehorsam nennen, aber der Christ nennt es einen "einsichtsvollen" Gehorsam, weil er weiß, daß es das Wort Gottes ist, dem er gehorcht. Wenn ein Mensch das Wort Gottes nicht kennt, so kann mit Recht von ihm gesagt werden, daß er sich in Blindheit und Finsternis befindet, denn die einzige Quelle göttlichen Lichtes in dieser dunklen Welt ist das reine und ewige Wort Gottes. Alles was wir wissen müssen ist, daß Gott gesprochen hat. Dann wird der Gehorsam zur höchsten Art einsichtsvollen Handelns. Wenn die Seele sich zu Gott erhebt, hat sie die höchste Quelle der Autorität erreicht. Kein Mensch oder irgendeine menschliche Gesellschaft kann für ihr Wort Gehorsam fordern, weil es das ihrige ist. Wenn z. B. eine kirchliche Gemeinschaft Gehorsam gegen ihre Verordnungen und Satzungen fordert, so reißt sie dadurch das Vorrecht Gottes an sich, und alle, die ihnen Gehorsam leisten, berauben Gott Seiner Rechte. Eine solche Gemeinschaft stellt sich zwischen Gott und das Gewissen, und wer kann dies ungestraft tun? Wenn Gott spricht, ist der Mensch verpflichtet zu gehorchen. Glückselig, wenn er es tut! Wehe ihm, wenn er es versäumt! Der Un­glaube fragt, ob Gott überhaupt gesprochen hat, der Aberglaube stellt eine menschliche Autorität zwischen mein Gewissen und das, was Gott :gesprochen hat ‑ in beiden Fällen beraube ich mich des Wortes und, als natürliche Folge, des Segens des Gehorsams.

 

Keine Handlung des Gehorsams bleibt ungesegnet, aber sobald die Seele zögert, gewährt sie dem Feind einen Vorteil, den er ganz be­stimmt benutzen wird, um sie weiter und weiter von Gott zu entfer­nen. Das vor uns liegende Kapitel liefert den Beweis dafür. Auf die Frage: "Hat Gott wirklich gesagt?" folgte die Zusicherung. "Mitnichten werdet ihr sterben" (V. 4). Das heißt also: Zuerst wurde in Frage :gestellt, daß Gott gesprochen hatte, und dann folgte offener Wider­spruch gegen Gottes Wort. Diese ernste Tatsache zeigt, wie gefährlich es ist, eine Frage bezüglich der Fülle und Echtheit der Aussage Gottes im Herzen aufkommen zu lassen. Ein verfeinerter Rationalismus ist nahe verwandt mit dem offenen Unglauben, und der Unglaube, der das Wort Gottes zu beurteilen wagt, ist nicht weit entfernt vom Atheismus, der die Existenz Gottes leugnet. Eva wäre wohl kaum ruhig stehen geblieben, als die Schlange Gott widersprach, wenn sie nicht vorher der Gleichgültigkeit gegenüber Seinem Wort Raum gegeben hätte. Ihr Un­glaube machte schnelle Fortschritte, und sie ertrug den Widerspruch ,eines Geschöpfes gegen Gott aus dem einfachen Grund, weil Sein Wort die Autorität über ihr Herz und Gewissen verloren hatte.

 

Das ist eine ernste Warnung für alle, die in Gefahr sind, von den Schlingen des Rationalismus umstrickt zu werden! Es gibt nirgends wahre Sicherheit, als nur in dem unerschütterlichen Glauben an die göttliche Eingebung und unumschränkte Autorität der ganzen Heiligen Schrift.

 

"Es gibt nichts Neues unter der Sonne ". Das gleiche Böse' das heute in ganz Europa die Quellen aller religiösen Gedanken und Gefühle ver­dirbt, führte im Garten Eden das Herz Evas ins Verderben. Der erste Schritt auf ihrer abschüssigen Bahn war ihr Horchen auf die Frage: "Hat Gott wirklich gesagt?" Und dann ging sie von Stufe zu Stufe weiter, bis sie sich endlich vor der Schlange niederbeugte und sie a s en Gott und als die Quelle der Wahrheit anerkannte. Ja, die Schlange ver­drängte Gott, den Herrn, und die Lüge der Schlange trat an die Stelle der Wahrheit Gottes. So war es mit dem gefallenen Menschen, und so ist es mit den Nachkommen des gefallenen Menschen. In dem Herzen des nicht wiedergeborenen Menschen findet das Wort Gottes keinen Platz, wohl aber die Lüge der Schlange. Man braucht das menschliche Herz nur einer Probe zu unterwerfen, und man wird entdecken, daß es so ist. Daher hat das zu Nikodemus gesprochene Wort so große Be­deutung: "Ihr müsset von neuem geboren werden".

 

Es ist jedoch wichtig, daß wir beachten, auf welche Weise die Schlange versuchte, das Vertrauen Evas zu der Wahrheit Gottes zu erschüttern und sie unter die Macht der ungläubigen "Vernunft" zu bringen. Es geschah durch Erschütterung ihres Vertrauens zu der Liebe Gottes, indem die Schlange dem Weib erklärte, daß das Zeugnis Gottes nicht auf Liebe gegründet sei. "Sondern", sagte sie, "Gott weiß, daß, welches Tages ihr davon esset, eure Augen aufgetan werden, und ihr sein werdet wie Gott, erkennend Gutes und Böses" (V. 5). Das hieß mit anderen Worten: "Ein sicherer Vorteil ist mit dem Essen dieser Frucht verbunden, die Gott euch vorenthalten will. Warum solltet ihr daher dem Zeugnis Gottes glauben? Ihr könnt nicht jemand euer Vertrauen schenken, der euch offensichtlich nicht liebt, denn wenn Gott euch liebt, warum verbietet Er euch dann den Genuß eines Vorrechts?"

 

Eva wäre vor dem Einfluß dieser Vernunftschlüsse sicher gewesen, wenn sie einfach in der unendlichen Güte Gottes geruht hätte. Sie hätte zu der Schlange sagen sollen: "Ich habe volles Vertrauen in die Güte Gottes und halte es deshalb für unmöglich, daß Er mir irgend etwas Gutes vorenthalten könnte. Wenn diese Frucht gut für mich wäre, würde ich sie zweifellos besitzen, aber das Verbot Gottes beweist, daß ich durch das Essen der Frucht nicht Nutzen, sondern Schaden haben werde. Ich bin von der Liebe und Wahrheit Gottes überzeugt, und ich glaube auch, daß du ein Böser bist. Du bist nur gekommen, um mein Herz von der Quelle der Güte und der Wahrheit abzuziehen. Geh von mir, Satan!"

 

Das wäre die rechte Antwort gewesen. Aber Eva ließ sich ihr Vertrauen zu der Wahrheit und der Liebe Gottes rauben, und alles war verloren. So finden wir denn, daß es im Herzen des gefallenen Menschen ebenso wenig Raum gibt für die Liebe Gottes wie für die Wahrheit Gottes. Dem Herzen des Menschen ist beides völlig fremd, bis es erneuert wird durch die Macht des Heiligen Geistes.

 

Wenden wir uns jetzt für einen Augenblick von der Lüge Satans hin­sichtlich der Wahrheit und Liebe Gottes ab, um einen Blick auf die Sendung des Herrn Jesus Christus zu werfen, der aus dem Schoß des Vaters kam, um zu offenbaren, was Gott wirklich ist. Er war der "treue Zeuge" von dem, was Gott ist (Offbg. 1, 5). Die Wahrheit offen­bart Gott wie Er ist, aber diese Wahrheit ist in Jesus mit der Offenbarung einer vollkommenen Gnade verbunden, und so fin­det der Sünder zu seiner unaussprechlichen Freude, daß die Offen­barung dessen was Gott ist, nicht zu seiner Verdammnis, sondern zur Grundlage seines ewigen Heils wird. "Dies aber ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh. '17, 3). Ich kann nicht Gott erkennen, ohne das Leben zu haben. Der Verlust der Erkenntnis Gottes brachte den Tod, aber die Erkenntnis Gottes bringt das Leben. Das macht das Leben zu einer Sache, die vollständig außer uns selbst liegt und die von dem abhängt, was Gott ist. Zu welchem Grad von Selbsterkenntnis ich auch gelange, nirgends wird gesagt, daß dieses "Sich‑selbst‑erkennen" das ewige Leben ist, und obwohl zweifellos die Erkenntnis Gottes und die Selbsterkenntnis zum großen Teil Hand in Hand gehen, so steht doch das "ewige Leben" mit der Erkenntnis Gottes und nicht mit der Selbst­erkenntnis in Verbindung. Gott zu kennen, wie Er ist, ist Leben, die aber "Gott nicht kennen, werden Strafe leiden, ewiges Verderben vom Angesicht des Herrn" (2. Thess. 1, 9).

 

Es ist sehr wichtig zu verstehen, daß die Unwissenheit über Gott oder die Erkenntnis Gottes den Zustand des Menschen kennzeichnet und sein zukünftiges Schicksal besiegelt. Ist er böse in seinen Gedanken, Worten und Taten, so ist es, weil er Gott nicht kennt. Ist er andererseits rein in seinen Gedanken, sauber und klar im Gespräch, gütig im Handeln, so ist es die Folge seiner Erkenntnis Gottes. So ist es auch im Blick auf die Zukunft. Gott zu kennen ist die unerschütterliche Grundlage end­loser Freude und ewiger Herrlichkeit. Ihn nicht zu kennen bedeutet "ewiges Verderben". So hängt also alles von der Erkenntnis Gottes ab. Sie macht die Seele lebendig, reinigt das Herz, beruhigt das Gewissen, lenkt die Interessen himmelwärts und heiligt Charakter und Lebensweg. Dürfen wir uns daher wundern, daß es Satans großer Plan war, dem Geschöpf die Erkenntnis des allein wahren Gottes zu rauben? Er wagte es, den Worten Gottes eine falsche Auslegung zu geben und Ihn als nicht gütig zu bezeichnen. Das war die verborgene Quelle alles Un­heils. Es ist bedeutungslos, welche Form die Sünde seitdem angenom­men hat und durch welchen Kanal sie geflossen ist, ebenso, unter welches Haupt sie sich gestellt oder in welches Gewand sie sich gekleidet hat, alles ist auf diese eine Ursache zurückzuführen: Auf die Unwissen­heit über Gott. Der gebildete Sittenlehrer, der andächtige Religions­mensch, der wohltätige Menschenfreund, alle sind, wenn sie Gott nicht kennen, ebenso fern von dem Leben und der wahren Heiligkeit, wie der Zöllner und die Hure. Der verlorene Sohn war beim Verlassen des Vaterhauses schon ein ebenso großer Sünder und ebenso von dein Vater entfernt, wie zur Zeit als er im fernen Land die Schweine hütete (Luk. 15, 13). So war es auch mit Eva. In demselben Augenblick, als sie sich aus den Händen Gottes, aus der Stellung der unbedingten Ab­hängigkeit von Seinem Wort zurückzog, überließ sie sich der Herrschaft der Vernunft, die von Satan zu ihrem tiefen Sturz benutzt wurde.

 

Der sechste Vers stellt drei Dinge dar: "Die Lust des Fleisches, die Lust der Augen und den Hochmut des Lebens". Nach dem Zeugnis des Apostels umfassen sie alles, "was in der Welt ist". Diese Dinge über­nahmen die Leitung, sobald Gott ausgeschlossen wurde. Wenn ich nicht in der glücklichen Gewißheit der Liebe und Wahrheit, der Gnade und Treue Gottes bleibe, gerate ich zwangsläufig unter die Herrschaft der oben angeführten Grundsätze, und dies ist nur ein anderer Name für die Herrschaft Satans. Streng genommen hat der Mensch keinen freien Willen. Wenn er sich selbst regiert, so steht er in Wirklichkeit unter der Regierung Satans. Fragt er jedoch nach dem Willen Gottes, so wird er durch Gott regiert.

 

"Die Lust des Fleisches, die Lust der Augen und der Hochmut des Lebens" sind jetzt die drei mächtigsten Triebfedern, durch die Satan tätig ist, Dieselben Dinge stellte er auch dem Herrn Jesus in der Ver­suchung vor. Er begann damit, den zweiten Menschen zu versuchen, sich der Stellung der unbedingten Abhängigkeit von Gott zu entziehen. "Sprich, daß diese Steine Brot werden". Er forderte Ihn zu dieser Hand­lung auf, nicht um sich (wie bei dem ersten Menschen) zu etwas zu machen, was Er nicht war, sondern um zu beweisen, was Er war. Dann folgte das Angebot der Reiche der Welt mit all ihrer Herrlichkeit, und schließlich, während er Ihn auf die Zinne des Tempels führte, die Ver­suchung, sich durch eine übernatürliche Handlung der Bewunderung des Volkes preiszugeben (Vergl. Matth. 4, 1‑11; Luk. 4, 1‑13). Das klare Ziel dieser Versuchungen war, den Herrn zu bewegen, die Stellung der völligen Abhängigkeit von Gott und der vollkommenen Unterwerfung unter Seinen Willen zu verlassen. Doch alles war vergeblich. "Es steht geschrieben", war die gleichbleibende Antwort des vollkommenen Men­schen, der allein wahre Abhängigkeit kannte. Andere mochten versuchen, für sich selbst zu handeln und zu sorgen. Für Ihn sollte es niemand anders tun als Gott allein.

 

Ein schönes Beispiel für die Gläubigen in allen ihren Umständen! Jesus hielt sich an die Schrift, und darum überwand Er. Ohne eine andere Waffe als das Schwert des Geistes stand Er im Streit und errang einen herrlichen Sieg. Welch ein Gegensatz zu dem ersten Adam! Dieser besaß alles, was für Gott sprach, und jener alles, was gegen Ihn sprach. Der Garten mit seinen Freuden auf der einen Seite, die Wüste mit ihren Ent­behrungen auf der anderen, Vertrauen auf Satan in dem einen Fall, Vertrauen auf Gott in dem anderen, eine vollständige Niederlage in dem einen Fall, ein vollständiger Sieg in dem anderen.

 

Wir wollen jetzt untersuchen, wie sich bei Adam und Eva der von der Schlange versprochene Vorteil verwirklichte. Das wird uns zu einem wichtigen Punkt in Verbindung mit dem Fall des Menschen leiten. Nach der Anordnung Gottes des HERRN sollte der Mensch durch den Fall etwas erhalten, was er vorher nicht besaß, nämlich ein Gewissen, die Erkenntnis des Guten und des Bösen. Früher konnte er kein Gewissen haben. Wie hätte er etwas über das Böse wissen können, so lange das Böse nicht vorhanden war? Er befand sich in einem Zustand der Un­wissenheit über das Böse. Durch seinen Fall empfing der Mensch ein Gewissen, und wir finden, daß die erste Wirkung dieses Gewissens darin bestand, einen Feigling aus ihm zu machen. Satan hatte das Weib betrogen. Er hatte gesagt: "So werden eure Augen aufgetan werden, und ihr werdet sein wie Gott, erkennend Gutes und Böses" (V. 5). Aber er hatte einen wesentlichen Teil der Wahrheit ausgelassen, nämlich, daß sie das Gute erkennen würden, ohne die Macht zu besitzen, es zu tun, und daß sie das Böse erkennen würden, ohne die Kraft zu haben, es zu lassen. Gerade der Versuch des Menschen, sich selbst zu erheben, schloß den Verlust wahrer Erhabenheit in sich. Sie sanken zu erniedrigten, kraftlosen, von Satan unterjochten und von Gewissensbissen ge­quälten, furchtsamen Geschöpfen herab. "Da wurden ihrer beider Augen aufgetan" (V. 7). Aber wozu? Nur, um ihre eigene Nacktheit zu ent­decken. Ihr geöffnetes Auge erblickte ihren Zustand, und der war elend, jämmerlich, arm und bloß. "Sie erkannten, daß sie nackt waren". Wie traurig war die Frucht des Baumes der Erkenntnis! Sie hatten keine neue Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes erlangt. Nein, das erste Ergeb­nis ihres ungehorsamen Strebens nach Erkenntnis war die Entdeckung, daß sie nackt waren.

 

Es ist gut, dies zu verstehen. Wenn wir wissen, wie das Gewissen wirkt, so sehen wir, daß es uns nur zu Feiglingen machen kann, da es uns bewußt macht, was wir sind. Viele irren sich in dieser Hinsicht, da sie meinen, daß das Gewissen uns zu Gott führt. War das denn seine Wirkung bei Adam und Eva? Keineswegs. Und wir werden dies bei keinem Sünder finden. Wie wäre es auch möglich? Wie könnte mich je das Gefühl von dem, was ich bin, zu Gott bringen, wenn es nicht begleitet ist von dem Glauben an das, was Gott ist? Es wird vielmehr Scham, Selbstanklage, Gewissensangst und Schrecken hervorrufen. Es mag auch gewisse Anstrengungen meinerseits hervorrufen, um den Zustand zu heilen, aber gerade diese Anstrengungen wirken wie eine Blende, anstatt uns zu Gott zu ziehen, sie verbergen Ihn vor unseren Blicken. So folgte bei Adam und Eva auf die Entdeckung ihrer Nackt­heit der Versuch, die Nacktheit durch eigenes Bemühen zu verbergen. "Sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen" (V. 7). Hier haben wir den ältesten Bericht über den Versuch des Men­schen, seinen Zustand durch selbsterfundene Mittel zu ändern, und die aufmerksame Betrachtung dieses Versuchs zeigt uns den wahren Charakter der menschlichen Religiosität zu allen Zeiten. Zunächst sehen wir, daß nicht nur bei Adam, sondern in jedem Fall die Anstrengung des Menschen, seinen Zustand zu heilen, aus der Erkenntnis seiner Nacktheit hervorgeht. Er ist nackt, das ist nicht zu leugnen, und sein ganzes Wirken ist die Folge der Erkenntnis dieses Zustandes. Was aber nützt alle Anstrengung? Bevor ich etwas tun kann, was in den Augen Gottes angenehm ist, muß ich wissen, daß ich bekleidet bin.

 

Hierin liegt der Unterschied zwischen wahrem Christentum und mensch­licher Religiosität. Wahres Christentum ist darauf gegründet, daß Gott den Menschen göttlich bekleidet hat, und hier hat der Christ seinen Ausgangspunkt. Menschliche Religiosität geht von dem nackten Zustand des Menschen aus und ist gekennzeichnet durch sein Bemühen, sich selbst zu bekleiden. Alles was ein wahrer Christ tut, geschieht, weil er bekleidet ist, Alles was ein äußerlich religiöser Mensch tut, geschieht, um bekleidet zu werden. Das ist ein großer Unterschied. Je mehr wir den Geist der menschlichen Religion in allen seinen Formen prüfen, um so mehr werden wir erkennen, wie völlig unfähig die Religion ist, den Zustand des Menschen zu heilen oder auch nur seinem Bewußtsein darüber wirksam zu begegnen. Sie mag für eine Zeit genügen und auch so lange befriedigen, wie man den Tod, das Gericht und den Zorn Gottes nur aus der Ferne betrachtet. Sobald aber ein Mensch diesen Dingen in ihrer schrecklichen Wirklichkeit ms Angesicht schaut, wird er spüren, daß seine Religion niemals genügen kann.

 

In demselben Augenblick, als Adam in Eden die Stimme Gottes ver­nahm, "fürchtete er sich", weil er nackt war, wie er selbst bekannte. Ja, er war nackt, obwohl er eine Schürze umgebunden hatte. Offenbar befriedigte diese Bedeckung nicht einmal sein eigenes Gewissen. Denn wäre sein Gewissen göttlich befriedigt gewesen, so hätte er sich nicht gefürchtet. "Wenn unser Herz uns nicht verurteilt, so haben wir Frei­mütigkeit zu Gott" (i. Joh. 3, 21). Wenn aber nicht einmal das mensch­liche Gewissen in den religiösen Anstrengungen des Menschen Ruhe finden kann, wie viel weniger die Heiligkeit Gottes! Adams Schürze genügte nicht in den Augen Gottes, um ihn zu bedecken, und nackt konnte er nicht in Seiner Gegenwart erscheinen. Darum floh er, um sich zu verbergen. Das bewirkt das Gewissen zu allen Zeiten. Es ver­anlaßt den Menschen, sich vor Gott zu verbergen. Überhaupt ist alles, was seine eigene Religiosität ihm bietet, nichts anderes als ein Mittel, um sich vor Gott zu verbergen. Wie erbärmlich aber ist ein solcher Schutz, da der Mensch doch einmal vor Gott erscheinen muß! Und wie bestürzt und unglücklich muß er sein, wenn er nichts anderes besitzt als das traurige Bewußtsein seines Zustandes. Nur die Hölle selbst ist noch nötig, um das Elend eines Menschen voll zu machen, der fühlt, daß er Gott begegnen muß, und nur weiß, daß er unfähig ist, Ihm begegnen zu können.

 

Hätte Adam die vollkommene Liebe Gottes erkannt, so hätte er sich nicht gefürchtet, denn „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die voll­kommene Liebe treibt die Furcht aus, denn die Furcht hat Pein. Wer sich aber fürchtet, ist nicht vollendet in der Liebe" (l. Joh. 4, 18). Aber Adam wußte hiervon nichts, weil er der Lüge der Schlange geglaubt hatte. Er dachte, Gott sei alles, aber nicht Liebe, und daher wäre es der letzte Gedanke seines Herzens gewesen, sich in Seine Gegenwart zu wagen. Die Sünde war da, und Gott kann sich mit der Sünde niemals vereinigen. Solange die Sünde auf dem Gewissen lastet, muß auch das Gefühl der Entfernung von Gott vorhanden sein. "Du bist zu rein von Augen, um Böses zu sehen, und Mühsal vermagst du nicht anzuschauen" (Hab. 1, 13). Heiligkeit und Sünde können nicht zusammen wohnen. Die Sünde kann nur dem Zorn Gottes begegnen.

 

Doch Gott sei gepriesen! Es gibt noch etwas anderes als das Bewußt­sein von dem, was ich bin. Es ist die Offenbarung dessen, was Gott ist, und dies ist durch den Fall des Menschen ans Licht gebracht worden. Gott hatte sich in der Schöpfung nicht ganz geoffenbart. Gott hatte Seine "ewige Kraft und Göttlichkeit" gezeigt, aber Er hatte nicht alle tiefen Geheimnisse Seiner Natur und Seines Charakters mitgeteilt. Deshalb machte Satan einen großen Fehler, als er kam, um sich in die Schöpfung Gottes einzumischen. Er erwies sich nur als das Werkzeug zu seiner Niederlage und seinem Verderben, und seine "Gewalttat ', wird für immer auf seinen eigenen Kopf zurückkehren. Seine Lüge gab nur den Anlaß zur Entfaltung der ganzen Wesensart Gottes. Die Schöpfung hätte nie offenbaren können, was Gott ist. Es gibt unendlich mehr in Ihm als Macht und Weisheit. In Ihm ist Liebe, Erbarmen, Heiligkeit, Gerechtigkeit, Güte, Zärtlichkeit, Langmut. Wo sonst hätten sich alle diese Eigenschaften entfalten können als in einer Welt von Sündern? Zuerst kam Gott als Schöpfer, und dann, als die Schlange sich anmaßte, sich in die Schöpfung einzumischen, kam Er als Erretter. Dies zeigen uns die ernsten Worte, die Gott der HERR nach dem Fall des Menschen sprach "Und Gott der HERR rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du?" (V. 9). Diese Frage bewies zwei Dinge. Sie bewies, daß der Mensch verloren war, und daß Gott gekommen war, um zu suchen. Sie bewies die Sünde des Menschen und die Gnade Gottes. "Wo bist du?" Welch eine Treue und Gnade! Die Treue zeigte sich, da schon durch die Frage selbst der Zustand des Menschen aufgedeckt wurde. Die Gnade lag darin, daß Gott eine solche Frage überhaupt stellte, wodurch Sein wahrer Charakter und Seine wahre Stellung gegenüber dem gefallenen Menschen geoffenbart wurde. Der Mensch war verloren, aber Gott war gekommen, um sich nach ihm umzusehen und ihn aus seinem Versteck herauszuführen, damit er in der glücklichen Zuversicht des Glaubens in Ihm einen Bergungsort finden möchte. Das war Gnade. Den Menschen aus dem Staub der Erde zu erschaffen, war Macht, aber ihn in seinem verlorenen Zustand zu suchen, war Gnade. Doch wer kann alles das ausdrücken, was in dem Gedanken eingeschlossen liegt, daß Gott ein suchender Gott ist? Gott sucht den Sünder. Was konnte Er im Menschen entdecken, das Ihn bewog, ihn zu suchen? Dasselbe, was der Hirte in dem verlorenen Schaf, oder was der Vater in dem verlorenen Sohn entdeckte. Der Sünder ist wertvoll für Gott. Warum? Die Ewig­keit allein wird es klarmachen.

 

Wie aber beantwortete der Sünder die treue und gnädige Frage Gottes? Die Antwort verdeutlicht nur, wie tief das Böse war, in das er gefallen war. "Und er sprach: Ich hörte deine Stimme im Garten, und ich fürch­tete mich, denn ich bin nackt, und ich versteckte mich. Und Er sprach: Wer hat dir kundgetan, daß du nackt bist? Hast du gegessen von dem Baume, von dem ich dir geboten habe, nicht davon zu essen? Und der Mensch sprach: Das Weib, das du mir beigegeben hast, sie gab mir von dem Baume, und ich aß" (V. 10‑12). Der Mensch schob also die Schuld seines traurigen Falls auf die Umstände, in die ihn Gott gestellt hatte, und somit indirekt auf Gott selbst. So macht es der ge­fallene Mensch immer. Er beschuldigt alle und alles, nur nicht sich selbst. Wo Aufrichtigkeit vorhanden ist, zeigt sich das Gegenteil. "Bin ich es nicht, der gesündigt hat?" fragt eine wirklich demütige Seele. Hätte Adam sich selbst gekannt, so hätte er ganz andere Worte geredet! Aber er kannte weder sich selbst noch Gott, und deshalb warf er die Schuld auf Gott, anstatt sie allein auf sich zu nehmen.

 

Das war also die schreckliche Lage des Menschen. Er hatte alles ver­loren. Seine Herrschaft, seine Würde, sein Glück, seine Reinheit, seinen Frieden, alles war für immer dahin, und das schlimmste war, daß er Gott die Schuld gab. Da stand er, ein verlorener, verderbter und schul­diger Sünder, der trotzdem sich selbst rechtfertigte und darum Gott anklagte.

 

(Der Mensch klagt Gott nicht nur als Urheber seines Falls an, sondern er tadelt Ihn auch, weil Er ihn nicht wiederhergestellt hat. Wie oft hört man Personen sagen, daß sie nicht glauben könnten, wenn Gott ihnen nicht die Kraft zum Glauben gäbe, und daß sie nicht errettet werden könnten, wenn sie nicht Gegenstände des ewigen Ratschlusses Gottes seien.

 

Nun kann zwar kein Mensch dem Evangelium glauben, als nur durch die Kraft des Heiligen Geistes, und es ist auch wahr, daß alle, die dem Evangelium glauben, die glücklichen Gegenstände der ewigen Rat­schlüsse Gottes sind. Aber setzt dies alles die Verantwortlichkeit des Menschen beiseite, dem einfachen, klaren Zeugnis zu glauben, das ihm das Wort Gottes vor Augen stellt? Nein. Vielmehr zeigt es, daß das Böse im Menschenherzen ihn verleitet, das deutlich geoffenbarte Zeug­nis Gottes zu verwerfen und als Grund dafür den Ratschluß Gottes vor­zuschieben, jenes tiefe und nur von Ihm selbst gekannte Geheimnis. Doch solche Ausflüchte sind nutzlos, denn wir lesen in 2. Thess. 1, 8. 9, daß diejenigen, "welche dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus nicht gehorchen, Strafe leiden werden, ewiges Verderben".

 

Die Menschen sind verantwortlich, dem Evangelium zu glauben, und sie werden bestraft werden, wenn sie nicht glauben. Sie sind nicht ver­antwortlich, irgend etwas von den Ratschlüssen Gottes zu wissen, in­sofern diese nicht geoffenbart sind, und darum kann ihnen wegen einer Unwissenheit in dieser Hinsicht keine Schuld zur Last gelegt werden. Der Apostel konnte zu den Thessalonichern sagen: "wissend, von Gott geliebte Brüder, eure Auserwählung". Wie kannte er sie? Hatte er etwa Zutritt zu den Büchern der geheimen und ewigen Rat­schlüsse Gottes? Keineswegs. Aber er sagt: "Denn unser Evangelium war nicht bei euch im Worte allein, sondern auch in Kraft" (l. Thess. 1, 4. 5). Das ist der Weg, zu wissen, ob jemand auserwählt ist. Wo das Evangelium sich in Kraft erweist, da liegt ein klarer Beweis der Aus­erwählung Gottes vor.

 

Doch ich zweifle nicht daran, daß diejenigen, die aus den Ratschlüssen Gottes eine Entschuldigung für die Verwerfung des göttlichen Zeug­nisses ableiten, nur nach einem Grund suchen, um in der Sünde weiter­leben zu können. Sie wollen Gott nicht, und sie wären weit ehrlicher, wenn sie dies klar aussprächen, anstatt ihre Zuflucht zu einer Ausrede zu nehmen, die nicht nur töricht und vergeblich, sondern geradezu gotteslästerlich ist. Eine solche Ausrede wird ihnen inmitten der Schrek­ken des nahe bevorstehenden Tages des Gerichts nichts nützen.)

 

Aber gerade jetzt begann Gott, sich selbst und die Absichten Seiner er­lösenden Liebe zu offenbaren, und darin liegt die wahre Grundlage des Friedens und der Segnung des Menschen. Erst wenn der Mensch mit sich selbst zu Ende gekommen ist, kann Gott zeigen, was Er ist. Der Platz muß von dem Menschen und von allen seinen Anmaßungen, leeren Prahlereien und gotteslästerlichen Vernunftschlüssen gereinigt sein, bevor Gott sich offenbaren kann oder will.

 

Daß das Gewissen den Menschen nicht in Frieden und mit Vertrauen in die Gegenwart Gottes führen kann, ist bereits bemerkt worden. Das Gewissen trieb Adam hinter die Bäume des Gartens. Die Offenbarung brachte ihn in die Gegenwart Gottes. Das Bewußtsein von dem, was er war, erschreckte ihn, die Offenbarung dessen, was Gott war, beruhigte ihn. Das ist trostreich für ein sündenbeladenes Herz. Die Wirklich­keit dessen, was Gott ist, begegnet der Wirklichkeit dessen, was ich bin, und das ist die Errettung.

 

Es gibt einen Punkt, wo Gott und der Mensch sich begegnen müssen, sei es in Gnade, sei es im Gericht, und dieser Punkt ist da, wo beide geoffenbart werden, wie sie sind. Glückselig diejenigen, die diesen Punkt in Gnade, aber wehe denen, die ihn im Gericht erreichen! Gott beschäftigt sich mit dem, was wir sind in Übereinstimmung mit den, Was Er ist. Am Kreuz sehe ich Gott in Gnade in die Tiefen meines Zustandes als Sünder hinabsteigen. Diese Erkenntnis gibt mir völligen Frieden. Wenn Gott mir in meinem tatsächlichen Zustand begegnet ist, indem Er Selbst ein angemessenes Heilmittel verordnet hat, so ist alles für ewig in Ordnung gebracht. Aber alle, die Gott nicht auf diese Weise im Glauben am Kreuz erblicken, werden Ihm einmal im Gericht be­gegnen müssen, wo Er gemäß dem, was Er ist, sich mit dem, was sie sind, beschäftigen wird.

 

Von dem Augenblick an, da ein Mensch seinen wirklichen Zustand erkennt, kann er keine Ruhe finden, bis er Gott am Kreuz gefunden hat, und dann ruht er in Gott Selbst. Gott ist, gepriesen sei Sein Name, die Ruhe und der Bergungsort der gläubigen Seele. Das stellt alle menschlichen Werke und die menschliche Gerechtigkeit an den ihnen gebührenden Platz. Diejenigen, die auf solche Dinge vertrauen, können unmöglich zu einer wahren Erkenntnis über sich selbst gelangt sein. Es ist unmöglich, daß ein lebendiggemachtes Gewissen in irgend etwas anderem Ruhe findet, als in dem vollkommenen Opfer des Sohnes Gottes. jede Anstrengung, eine eigene Gerechtigkeit aufzurichten, kann nur aus der Unkenntnis über die Gerechtigkeit Gottes hervorgehen. Adam konnte im Licht des göttlichen Zeugnisses über den "Samen des Weibes' die Wertlosigkeit seiner Schürze aus Feigenblättern erkennen. Die Größe des Werkes, das vollbracht werden mußte, erwies die völlige Unfähigkeit des Sünders, es vollbringen zu können. Die Sünde mußte weggetan werden. Vermochte das der Mensch, durch den sie gekommen war? Der Kopf der Schlange mußte zertreten werden. Vermochte das der Mensch? Nein, er war ein Sklave der Schlange geworden. Die An­sprüche Gottes mußten befriedigt werden. Vermochte das der Mensch? Nein, er hatte sie bereits mit Füßen getreten. Der Tod mußte abgeschafft werden. Vermochte das der Mensch? Nein, er hatte ihn durch die Sünde eingeführt und ihm seinen schrecklichen Stachel verliehen.

 

Von welcher Seite wir diesen Gegenstand auch betrachten, wir sehen immer die völlige Unfähigkeit des Sünders und folglich die törichte Anmaßung derer, die versuchen, Gott in dem Erlösungswerk behilf­lich zu sein. In dieser Weise sind alle tätig, die auf einem anderen Weg als nur durch die Gnade mittelst des Glaubens" errettet zu werden meinen.

 

Obwohl Adam, durch die Gnade geleitet, erkennen und fühlen mochte, daß er alles das, was geschehen mußte, nie erfüllen konnte, so offen­barte Gott sich doch als Der, welcher im Begriff stand, jedes Jota davon durch den Samen des Weibes zu vollbringen. Wir sehen, daß Er gnädig die ganze Sache in Seine Hand nahm und sie zu einer Frage zwischen sich und der Schlange machte. Denn obwohl beide, Mann und Weib, berufen wurden, auf verschiedene Weise die bitteren Früchte ihrer Sünden zu ernten, so war es dennoch die Schlange, zu der Gott der HERR sagte: "weil du dieses getan hast" (V. 14). Die Schlange war die Quelle des Verderbens, und der Same des Weibes sollte die Quelle der Erlösung werden. Adam hörte dieses alles und glaubte es, und in der Kraft dieses Glaubens gab er "seinem Weibe den Namen Eva, denn sie war die Mutter aller Lebendigen" (V. 20). Das war eine kostbare Frucht des Glaubens an die Offenbarung Gottes. Von einem natürlichen Gesichtspunkt aus betrachtet, hätte Eva die "Mutter aller Sterblichen" genannt werden müssen. Aber nach dem Urteil des Glau­bens war sie die Mutter aller Lebendigen. "Seine Mutter gab ihm den Namen Benoni (Sohn meiner Not); sein Vater aber nannte ihn Benjamin (Sohn des Glückes oder der Rechten)" (i. Mose 35, 18).

 

Die erhaltende Kraft des Glaubens befähigte Adam, die schrecklichen Folgen seiner Tat zu ertragen. Das Erbarmen Gottes erlaubte ihm, die an die Schlange gerichteten Worte anzuhören, bevor er darauf achten mußte, was Gott selbst ihm zu sagen hatte. Wäre das nicht so gewesen, so hätte er verzweifeln müssen. Es führt zur Verzweiflung, wenn ich aufgefordert werde, mich selbst anzuschauen, ohne die Mög­lichkeit zu haben, auf Gott zu blicken, wie Er Sich am Kreuz geoffen­bart hat, um mich zu erlösen. Kein Nachkomme des gefallenen Adam würde es ertragen können, mit geöffneten Augen die Wirklichkeit dessen zu sehen, was er ist und was er getan hat, wenn er nicht zu dem Kreuz seine Zuflucht nehmen könnte. Deshalb kann bis zu jenem Ort, wo schließlich alle, die Christus verwerfen, ihr Teil finden werden, kein Hoffnungsstrahl dringen. Dort werden die Augen der Menschen geöffnet werden, aber es wird ihnen nicht möglich sein, Hilfe und Zu­flucht in Gott zu finden. Dann wird die Erkenntnis dessen, was Gott ist, hoffnungslose Verdammnis bedeuten, während diese Erkenntnis jetzt ewige Seligkeit umfaßt. Die Heiligkeit Gottes wird dann ewig wider jene Verlorenen sein, während jetzt alle Gläubigen berufen sind, sich ihrer zu erfreuen. Je mehr ich die Heiligkeit Gottes jetzt verstehe, desto mehr erkenne ich meine Sicherheit, aber für die Verlorenen wird gerade jene Heiligkeit die Bestätigung ihrer ewigen Pein sein. Ernster Gedanke!

 

Wir wollen noch einen Blick auf die Tatsache werfen, daß Gott für Adam und Eva Röcke machte. "Und der HERR machte Adam und seinem Weibe Röcke von Fell und bekleidete sie" (V. 21). Hier tritt bildlich die wichtige Lehre von der Gerechtigkeit Gottes vor unsere Augen. Das von Gott gegebene Kleid war deshalb eine ausreichende Bedeckung, weil Er es gab, ebenso mußte die Schürze deshalb eine un­genügende Bedeckung sein, weil der Mensch sie gemacht hatte. Außer­dem war die Bekleidung Gottes auf Blutvergießung gegründet, die Schürze Adams nicht. So ist es auch heute noch. Die Gerechtigkeit Gottes findet im Kreuz ihre Darstellung, die Gerechtigkeit des Men­schen in den sündenbefleckten Werken seiner eigenen Hände. Als Adam mit dem Rock von Fell bekleidet war, konnte er weder sagen: "Ich bin nackt", noch hatte er eine Ursache, sich zu verstecken. Der Mensch kann sich vollkommen beruhigt fühlen, wenn er durch den Glauben weiß, daß Gott ihn bekleidet hat, aber eine Ruhe vor dieser Zeit ist nur Anmaßung oder Unwissenheit. Das Bewußtsein, daß das Kleid, das ich trage und in dem ich vor Gott erscheine, von Ihm Selbst vor­gesehen und bereitet ist, muß einfach meinem Herzen vollkommene Ruhe geben. Und in etwas anderem kann man keine wahre, beständige Ruhe finden.

 

Die Schlußverse dieses Kapitels sind reich an Belehrung. Dem Menschen konnte in seinem gefallenen Zustand nicht erlaubt werden, von den Früchten des Baumes des Lebens zu essen, denn das hätte ein nie endendes Elend in dieser Welt über ihn gebracht. Vom Baum des Lebens kann nur in der Auferstehung gegessen werden. Für immer in einer zerbrechlichen Hütte, in einem Leib der Sünde zu leben, wäre unerträglich. Deshalb "trieb Gott der HERR den Menschen aus" (V. 24). Er trieb ihn hinaus in eine Welt, die die beklagenswerten Folgen seines Falles kundtat. Die Cherubim und die Flamme des kreisenden Schwertes verwehrten dem gefallenen Menschen den Zutritt zum Baum des Le­bens, während die Zusage Gottes seinen Blick auf den Tod und die Auferstehung des Samens des Weibes lenkte, wo jenseits der Macht des Todes das Leben gefunden werden konnte.

 

So war Adam außerhalb des Paradieses glücklicher und weniger in Gefahr als er es darinnen gewesen war, denn im Paradies hing sein Leben von ihm selbst ab, während es außerhalb von einem Anderen, von dem verheißenen Christus, abhängig war. Und wenn er „die Cherubim und die Flamme des kreisenden Schwertes" erblickte, so konnte er Den preisen, Der sie dahin gestellt hatte, um "den Weg zum Baume des Lebens zu bewahren" (V. 24), denn Gott hatte gleichzeitig einen sicheren und glücklicheren Weg zu jenem Baum erschlossen. Wenn die Cherubim und die Flamme des kreisenden Schwertes den Weg zum Paradies versperrten, so hat der Herr Jesus Christus "einen neuen und lebendigen Weg" in das Allerheiligste geöffnet. "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, als nur durch mich" (Vergl. Joh. 14, 6; Hebr. 10, 20). In dieser Erkennt­nis geht jetzt der Gläubige durch eine Welt, die unter dem Fluch liegt, und in der die Merkmale der Sünde überall sichtbar sind. Er hat durch Glauben seinen Weg zum Schoß des Vaters gefunden, und während er dort geborgen ruhen kann, erfreut er sich an der gesegneten Gewiß­heit, daß der Eine, der ihn dorthin geführt hat, vorangegangen ist, um ihm in den vielen Wohnungen des Vaterhauses eine Stätte zu bereiten, und daß Er bald wiederkommen wird, um ihn zu Sich zu nehmen in die Herrlichkeit des Reiches des Vaters. So findet der Gläubige in dem Schoß, dem Haus und dem Reich des Vaters jetzt sein Teil und in der Zukunft seine Heimat und Belohnung.

 

Kapitel 4 und 5

 

KAIN UND ABEL. ADAMS GESCHLECHTSREGISTER

 

je mehr man die einzelnen Abschnitte des 1. Buches Mose betrachtet, um so stärker wird der Eindruck, daß hier im Keim die ganze Bibel, ja die Geschichte der Menschheit verborgen liegt.

 

So zeigt uns das 4. Kapitel in Kain und Abel die ersten Beispiele eines religiösen Weltmenschen und eines wahren Gläubigen. Da sie außerhalb Edens geboren und Söhne des gefallenen Adam waren, konnten sie nichts besitzen, was sie in ihrer Natur voneinander unterschieden hätte. Beide waren Sünder. Beide hatten eine gefallene Natur. Keiner war schuldlos. Wenn der Unterschied zwischen Kain und Abel in Ihrer Natur gelegen hätte, so wäre das ein Beweis davon gewesen, daß sie weder die gefallene Natur ihres Vaters in sich trugen, noch an seinen Umständen teilhatten, so daß für die Gnade und für den Glauben kein Raum geblieben wäre.

 

Manche lehren, daß jeder Mensch mit Eigenschaften und Fähigkeiten geboren wird, die ihn bei richtiger Benutzung befähigen, zu Gott zu­rückzukehren. Damit wird jedoch die uns hier gezeigte Tatsache ge­leugnet. Kain und Abel waren nicht innerhalb, sondern außerhalb des Paradieses geboren. Sie waren nicht Söhne eines unschuldigen, sondern eines gefallenen Adam. Sie traten in die Welt mit der Natur ihres Vaters, und in welcher Entwicklungsstufe diese Natur sich auch zeigen mochte, sie blieb doch immer die gefallene, verdorbene und unheilbare Natur.

 

"Was aus dem Fleische geboren ist, ist (nicht nur "fleischlich", sondern) Fleisch, und was aus dem Geiste geboren ist, ist (nicht nur "geistlich", sondern) Geist" (Joh. 3, 6).

 

Wenn es jemals für die verschiedenen Eigenschaften, Fähigkeiten, und Neigungen der Natur eine schöne Gelegenheit gab, sich zu Offenbaren, so war es die Lebenszeit Kains und Abels. Wenn noch irgend etwas in der Natur vorhanden war, wodurch sie ihre verlorene Reinheit wieder­erlangen und sich den Rücktritt in das verlorene Paradies erkaufen konnte, dann war jetzt der Augenblick dafür gekommen. Aber es gab nichts derartiges. Beide Männer waren verloren. Sie waren »Fleisch'. Sie waren nicht rein. Adam verlor seine Reinheit, und er hat sie nie wiedererlangt. Er kann nur als das gefallene Haupt eines gefallenen Geschlechts betrachtet werden, das durch seinen Ungehorsam in die Stellung von Sündern" versetzt worden ist (Röm. 5, 19). Er wurde die verdorbene Quelle, aus der die verdorbenen Ströme einer ruinierten und schuldigen Menschheit ausgeflossen sind, der abgestorbene Stamm, aus dem die Zweige einer sittlich und geistlich toten Menschheit her­vorgesproßt sind.

 

Freilich sehen wir, wie bereits bemerkt, daß er ein Gegenstand der Gnade war, der einen lebendigen Glauben an den verheißenen Erretter besaß, aber das war nichts Natürliches, sondern etwas von Gott Ge­wirktes. Da es nichts Natürliches war, konnte es auch nicht durch Fähig­keiten der Natur weitergegeben werden. Es war durchaus nicht erblich. Adam konnte seinen Glauben dem Kain oder Abel nicht vermachen. Daß er ihn besaß, war einfach die Frucht göttlicher Liebe. Er war durch göttliche Macht in seine Seele eingepflanzt worden, und Adam besaß keine göttliche Macht, ihn einem anderen zu geben. Alles Natürliche konnte Adam auf natürlichem Weg weitergeben, aber weiter nichts. Und da der Vater in einem Zustand des Verfalls war, so konnten die Söhne sich nur in demselben Zustand befinden. Sie müssen die Natur dessen teilen, aus dem sie hervorgegangen sind. "wie der von Staub ist, so sind auch die, welche von Staub sind" (i. Kor. 15, 48).

 

In Röm. 5, 12‑21 finden wir, daß der Apostel das ganze menschliche Geschlecht unter zwei Häuptern zusammengefaßt betrachtet. Ich möchte bei dieser Stelle nicht länger stehen bleiben, sondern führe sie nur an in Verbindung mit dem vorliegenden Thema. Auch das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes gibt uns eine ähnliche Unterweisung. In dem ersten Menschen haben wir Sünde, Ungehorsam und Tod, in dem zweiten Menschen Gerechtigkeit, Gehorsam und Leben. Wie wir von dem ersten Menschen eine Natur empfangen, so auch von dem zweiten Menschen. Ohne Zweifel entfaltet jede Natur ihre eigenen besonderen Tätigkeiten,

 

Sie offenbart bei jedem Menschen ihre eigenen besonderen Kräfte. Dennoch hat jeder Mensch teil an der wirklichen, deutlich in Erscheinung tretenden, wenn auch abstrakten, Natur.

 

So wie wir durch die Geburt eine Natur von dem ersten Menschen empfangen, werden wir auch durch die neue Geburt der Natur des zweiten Menschen teilhaftig. Als Geborene besitzen wir die Natur des ersten, als Wiedergeborene die des letzten Adam. Ein neugeborenes Kind hat teil an Adams Natur, obwohl es völlig unfähig ist, die Hand­lung auszuführen, die Adam in die Stellung eines verlorenen Wesens brachte. Ebenso ist ein neugeborenes Kind Gottes, eine eben erst be­kehrte Seele Seiner Natur teilhaftig, obwohl sie mit der Ausübung des vollkommenen Gehorsams „des Menschen Christus Jesus" nicht das geringste zu tun gehabt hat. Tatsächlich ist mit der ersten Natur Sünde, mit der zweiten Gerechtigkeit verbunden, und zwar im ersten Fall die Sünde des Menschen, im zweiten die Gerechtigkeit Gottes. Aber mögen auch die Eigenschaften sein wie sie wollen, das Teilhaben an einer wirklichen Natur ist vorhanden. Das Kind Adams hat teil an der menschlichen Natur und ihren Eigenschaften, und das Kind Gottes besitzt die göttliche Natur und ihre Eigenschaften. Die erste Natur ist "nach dem Willen des Mannes" (Joh. 1. '13), die zweite nach dem Willen Gottes, wie Jakobus uns durch den Heiligen Geist belehrt: "Nach seinem eigenen Willen hat er uns durch das Wort der Wahrheit ge­zeugt" (Jak. 1, 18).

 

Aus dem Gesagten geht hervor, daß Abel sich im Naturell durchaus nicht von seinem Bruder Kain unterschied. Worin lag denn nun ihre gro­ße Verschiedenheit? Die Antwort ist so einfach, wie das Evangelium der Gnade Gottes sie machen kann. Die Verschiedenheit lag nicht in ihnen selbst, sondern ausschließlich in ihren Opfern. Die Geschichte Abels zeigt, auf welchem Boden allein der Mensch Gott nahen kann, und welches die Grundlage seiner Stellung vor Gott und seines Verhältnisses zu Ihm ist. Sie belehrt uns deutlich, daß wir nicht aufgrund von etwas, was die Natur hervorbringt, Gott nahen können, sondern daß wir außerhalb unser selbst und in der Person und dem Werk eines Anderen die wahre Grundlage unserer Verbindung mit dem heiligen Gott suchen müssen. Das 11. Kapitel des Hebräerbriefes stellt uns den ganzen Gegenstand klar und umfassend vor Augen. "Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain, durch welches er Zeugnis erlangte, daß er gerecht war, indem Gott Zeugnis gab zu seinen Gaben; und durch diesen, obgleich er gestorben ist, redet er noch". Hier werden wir belehrt, daß es sich nicht um die Menschen, sondern nur um ihre Opfer" handelt. Es ging nicht um den Opfern­den, sondern um das, was er opferte. Hier liegt der große Unterschied zwischen Kain und Abel. Und jetzt wollen wir die Art ihrer Opfer untersuchen.

 

"Und es geschah nach Verlauf einer Zeit, da brachte Kain dem HERRN eine Opfergabe von der Frucht des Erdbodens; und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der HERR blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht" (Kap. 4, 3‑5). Diese Stelle hebt den Unter­schied klar hervor. Kain opferte dem HERRN von der Frucht einer verfluchten Erde, und zwar ohne Blut, das den Fluch hätte beseitigen können. Er brachte ein unblutiges Opfer dar, weil er keinen Glauben hatte. Hätte er Glauben gehabt, so hätte er schon in jener frühen Zeit gelernt, daß "ohne Blutvergießung keine Vergebung" ist (Hebr. 9). Das ist eine große Grundwahrheit. "Der Lohn der Sünde ist der Tod" (Röm 6). Kain war ein Sünder, und deshalb stand der Tod zwischen ihm und dem HERRN. Aber sein Opfer zeigte nicht die geringste Anerkennung dieser Tatsache, keine Darbringung eines geopferten Lebens, um den Ansprüchen der Heiligkeit Gottes zu begegnen oder seinem eigenen Zustand als Sünder zu entsprechen. Er behandelte den HERRN wie jemand seinesgleichen, der die sündbefleckte Frucht einer verfluchten Erde annehmen konnte. Er verriet völlige Unwissenheit hinsichtlich der Forderungen Gottes, und er kannte auch nicht seinen eigenen Charakter und seine Stellung als verlorener und schuldiger Sünder und den wahren Zustand der Erde, deren Frucht zu opfern er sich anmaßte. Wohl könnte die Vernunft fragen: "Was für ein an­nehmbareres Opfer könnte ein Mensch darbringen als das, was er durch die Arbeit seiner Hände im Schweiße seines Angesichts errungen hat?" Aber Gott denkt ganz anders, und der Glaube befindet sich stets in Übereinstimmung mit den Gedanken Gottes. Gott lehrt, und der Glaube erfaßt es, daß ein geopfertes Leben erforderlich ist. Anders ist es un­möglich, Gott zu nahen.

 

So sehen wir auch, daß der Dienst des Herrn Jesus für die Herstellung unserer Beziehungen zu Gott völlig nutzlos gewesen wäre, wenn Er nicht am Kreuz gestorben wäre. Zwar ging Er während Seines ganzen Lebens umher und tat Gutes, aber Sein Tod war es, der den Vorhang  zerriß (Matth. 27, 51). Nur Sein Tod konnte das bewirken. Selbst wenn Er bis heute weitergelebt und fortwährend Gutes getan hätte, so wäre dennoch der Vorhang geschlossen geblieben und hätte den Anbeter gehindert, ins "Allerheiligste" einzutreten. Dies zeigt uns, auf welch einem falschen Boden Kain als Opfernder und als Anbeter stand. Ein Sünder, der, ohne Vergebung empfangen zu haben, in die Gegenwart des HERRN trat, um ein unblutiges Opfer darzubringen, konnte sich nur der höchsten Anmaßung schuldig machen. Freilich hatte er sich ab­ gemüht, um sein Opfer zustande zu bringen, aber welchen Wert hatte das? Konnte die Mühe eines Sünders den Fluch und Makel der Sünde wegwischen? Konnte sie den Anforderungen eines heiligen Gottes ge­nügen? Konnte sie eine passende Grundlage für die Annahme eines Sünders bieten? Vermochte sie dem Tod seinen Stachel oder dem Hades seinen Sieg zu rauben? Nichts von alledem! "Ohne Blutvergießung ist keine Vergebung". Kains Opfer ohne Blut war wie jedes andere Opfer dieser Art völlig wertlos. Es bewies, daß er sowohl über seinen eigenen Zustand als auch hinsichtlich des Charakters Gottes völlig unwissend war. "Gott wird nicht von Menschenhänden bedient, als wenn er noch etwas bedürfe" (Apg. 17, 25). Kain meinte jedoch, auf die­ se Weise Gott nahen zu können. Und jeder nur äußerlich religiöse Mensch denkt dasselbe. Kain hat im Laufe der Zeit viele Millionen Nachfolger gehabt. Der Kain‑Gottesdienst hat sich über die ganze Erde verbreitet. Es ist der Gottesdienst jeder unbekehrten Seele, und er wird gepflegt durch jedes falsche Religionssystem unter der Sonne.

 

Der Mensch möchte gern Gott zu einem Empfänger machen, statt Ihm den Platz eines Gebers einzuräumen, aber das kann nicht sein. Denn "Geben ist seliger als Nehmen", und sicher muß Gott den gesegneteren Platz haben. "Ohne allen Widerspruch aber wird das Geringere von dem Besseren gesegnet" (Hebr. 7). Wer könnte Ihm zuerst geben? Gott kann die geringste Gabe von einem Herzen annehmen, das die tiefe Wahrheit gelernt hat, die in den Worten enthalten ist: "Von dem deinigen haben wir dir gegeben". Aber sobald der Mensch sich anmaßt, der "erste" Geber zu sein, lautet die Erwiderung Gottes‑ "Wenn mich hungerte, ich würde es dir nicht sagen" (Ps. 50, 12). Denn "er wird nicht von Menschenhänden bedient, als wenn er noch etwas bedürfe, da er selbst allen Leben und Odem und alles gibt«. Unmöglich kann der große Geber aller Dinge etwas bedürfen. Alles was wir Ihm darbringen können, ist Danksagung, aber diese kann nur dargebracht werden in der klaren Erkenntnis, daß alle unsere Sünden weggetan

 

sind, und dies kann wiederum nur erkannt werden durch den Glauben an die Kraft eines vollbrachten Sühnopfers. Die folgenden Schriftstellen zeigen, unter Gebet gelesen, den wahren Zustand des Menschen vor Gott und die rechte Grundlage der Anbetung: Ps. 50; Jes. 1, 11‑18; und Apg. 17, 22‑34.

 

Betrachten wir jetzt das Opfer Abels: "Und Abel, auch er brachte von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett" (Kap. 4, 4). Er ver­wirklichte durch Glauben die herrliche Wahrheit, daß man Gott durch ein Opfer nahen kann, daß ein Sünder den Tod eines anderen zwischen sich und die Folgen seiner Sünden stellen kann, und daß den An­sprüchen der Natur Gottes und den Eigenschaften Seines Charakters durch das Blut eines fleckenlosen Schlachtopfers (dargebracht, um den Forderungen Gottes und den Bedürfnissen des Sünders zu genügen) begegnet werden kann. Das ist in Kürze die Lehre vom Kreuz, in welchem allein das Gewissen eines Sünders Ruhe finden kann, weil Gott darin vollkommen verherrlicht worden ist.

 

jeder von Gott überführte Sünder muß fühlen, daß Tod und Gericht "als Lohn seiner Taten" ihm bevorstehen, ein Verhängnis, das er durch eigene Kraft nicht verhindern kann. Er mag sich abmühen und arbeiten, mag im Schweiße seines Angesichts ein Opfer zustande bringen, mag Gelübde ablegen und Vorsätze fassen. Er mag seine Lebensweise ändern und mag enthaltsam, sittlich, aufrichtig und (nach menschlicher Auf­fassung des Wortes) religiös sein. Mit einem Wort, er mag etwas oder alles tun, was im Bereich menschlicher Möglichkeit liegt, aber trotz alledem stehen ihm Tod und Gericht bevor. Er ist nicht imstande, diese beiden dunklen Wolken, die sich an seinem Horizont zusammengezo­gen haben, zu zerstreuen. Es ist für einen Sünder unmöglich, sich durch eigene Werke in Leben und Triumph zu versetzen, ja, gerade seine Werke dienen nur dazu, um ihn für Tod und Gericht zuzubereiten.

 

Hier ist nun der Punkt, wo das Kreuz eintritt. In ihm sieht der über­führte Sünder die Vorsorge Gottes für seine Schuld und seine Bedürf­nisse. Hier kann er auch sehen, daß Tod und Gericht weggeräumt und Leben und Herrlichkeit an ihre Stelle gesetzt sind. Christus hat für den wahren Gläubigen die Aussicht auf Tod und Gericht entfernt und den Gesichtskreis mit Leben' Gerechtigkeit und Herrlichkeit ausgefüllt. "Er hat den Tod zunichte gemacht, aber Leben und Unverweslichkeit ans Licht gebracht durch das Evangelium" (2. Tim. 1. 10). Er hat Gott ver­herrlicht, indem Er das beseitigt hat, was uns für immer von Seiner heiligen Gegenwart getrennt hätte. "Er ist einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde" (Hebr. 9. 26). Das alles tritt bildlich in "dem vorzüglicheren Opfer" Abels vor unsere Augen. Abel versuchte nicht, die Wahrheit über seinen Zustand und den Platz, der ihm als schuldigem Sünder zukam, beiseite zuschieben; er versuchte nicht, die Schärfe des kreisenden Schwertes abzuwenden und sich die Rückkehr zu dem Baum des Lebens zu erzwingen, und er maßte sich nicht an, ein Opfer ohne Blut darzubringen und die Frucht einer verfluchten Erde dem HERRN anzubieten. Er betrat den realen Boden eines Sünders und stellte als solcher den Tod eines Schlachtopfers zwischen sich und seine Sünden, und zwischen seine Sünden und die Heiligkeit eines die Sünde hassenden Gottes. Das war ganz einfach. Abel verdiente den Tod und das Gericht, aber er fand einen Stell­vertreter.

 

So ist es mit jedem Sünder, der sich hilflos fühlt, sich selbst verurteilt und von seinem Gewissen überführt ist. Christus ist sein Stellvertreter, sein Lösegeld, sein herrliches Opfer, sein Alles. Er wird wie Abel fühlen, daß die Frucht des Feldes ihm nie helfen kann, und daß er auch dann ein schuldbeladenes Gewissen haben würde, wenn er Gott die schönsten Früchte der Erde darbrächte, da ja "ohne Blutvergießung keine Verge­bung" ist. Die edelsten Früchte und Blumen sind nicht imstande, das Ge­wissen auch nur von einem einzigen Flecken zu reinigen. Nur das voll­kommene Opfer des Sohnes Gottes kann dem Gewissen Ruhe geben. Alle, die durch den Glauben diese göttliche Wahrheit erfassen, werden einen Frieden besitzen, den ihnen die Welt weder geben noch nehmen kann. Der Glaube ist es, der die Seele in den Besitz dieses Friedens bringt. "Da wir nun gerechtfertigt worden sind aus Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unseren Herrn Jesus Christus" (Röm. 5, 1). "Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain" (Hebr. 11, 4).

 

Das ist nicht eine Sache des Gefühls, wozu es so viele machen möchten. Es handelt sich lediglich um den Glauben an eine vollendete Tatsache, der durch die Macht des Heiligen Geistes in der Seele eines Sünders gewirkt wurde. Dieser Glaube unterscheidet sich durchaus von einem bloßen Gefühl des Herzens oder einer Zustimmung des Verstandes. Gefühl ist kein Glaube und die Zustimmung des Verstandes ist eben­falls kein Glaube, wenn manche Menschen auch zu einer solchen Meinung neigen. Welch ein schrecklicher Irrtum ist das! Er macht den Glauben zu einer rein menschlichen Sache, während er in Wirklichkeit ein Grundsatz Gottes ist. Er stellt ihn praktisch auf dieselbe Stufe mit dem Menschen, während er tatsächlich von Gott kommt. Der Glaube ist auch nicht zeitgebunden. Er ist ein unvergänglicher Grundsatz, der seinen Ursprung in Gott Selbst hat. Der Glaube erfaßt die Wahr­heit Gottes und bringt die Seele in Seine Gegenwart.

 

Gefühl und Empfindung können sich niemals über die Quelle er­heben, aus der sie hervorkommen, und diese Quelle ist das Ich. Der Glaube dagegen hat es mit Gott und Seinem ewigen Wort zu tun und ist ein lebendiges Band, das das Herz mit Gott verbindet, der ihn schenkt. Edle menschliche Gefühle können die Seele nicht mit Gott ver­binden. Sie sind weder göttlich noch ewig, sondern menschlich und ver­änderlich. Sie gleichen dem Wunderbaum Jonas, der in einer Nacht aufschoß und in einer Nacht verdorrte. Das ist nicht das Wesen des Glaubens. Dieser Grundsatz hat teil an dem ganzen Wert, der ganzen Macht und Realität der Quelle, aus der er hervorkommt, sowie an dem Gegenstand, mit dem er es zu tun hat. Er rechtfertigt die Seele (Röm. 5, 1), reinigt das Herz (Apg. 15, 9), wirkt durch die Liebe (Gal. 5, 6), überwindet die Welt (i. Joh. 5, 4). Gefühle und Empfindungen können nie solche Ergebnisse erzielen. Sie gehören der Natur und der Erde an, während der Glaube Gott und dem Himmel angehört. Sie sind mit dem Ich beschäftigt, während der Glaube mit Christus beschäftigt ist. Sie schauen nach innen und nach unten, während der Glaube nach außen und aufwärts schaut. Sie lassen die Seele in Dunkelheit und Zweifel, während der Glaube sie zu Licht und Frieden leitet. Sie haben es mit ihrem eigenen veränderlichen Zustand zu tun, während der Glaube es mit der unveränderlichen Wahrheit Gottes und dem ewig gültigen Opfer Christi zu tun hat.

 

Ohne Zweifel wird der Glaube Gefühle und Empfindungen hervor­rufen, und zwar durch den Geist gewirkte Gefühle und Empfindungen, aber die Früchte des Glaubens dürfen nicht mit dem Glauben selbst ver­wechselt werden. Ich bin weder gerechtfertigt durch Gefühle, noch durch Glauben und Gefühle, sondern einfach durch Glauben. Und warum? Weil der Glaube Gott glaubt, wenn Er spricht. Er nimmt Ihn beim Wort, er nimmt Ihn so an, wie Er Sich in der Person und dem Werk des Herrn Jesus Christus geoffenbart hat. Das ist Leben, Gerechtigkeit und Friede. Gott ergreifen wie Er ist, ist die Summe aller gegenwärtigen und ewigen Segnungen. Wenn die Seele Gott findet, so hat sie alles gefunden, was sie jemals bedarf, aber Gott kann nur erkannt werden durch Seine eigene Offenbarung sowie durch den Glauben, den Er Selbst schenkt, und der außerdem stets die Offenbarung Gottes als seinen eigentlichen Gegenstand sucht.

 

So können wir in etwa die Bedeutung und Tragweite des Ausspruchs begreifen: "Durch Glauben brachte Abel Gott ein vorzüglicheres Opfer dar als Kain". Kain hatte keinen Glauben, und darum brachte er ein Opfer ohne Blut dar. Abel hatte Glauben und opferte daher sowohl Blut als Fett; diese beiden Dinge stellen bildlich die Darbringung des Lebens sowie die Vortrefflichkeit der Person Christi dar. Das Blut deutet das erste an, das Fett das letztere. Weder Blut noch Fett durften unter der mosaischen Haushaltung gegessen werden. Das Blut ist das Leben, und der Mensch unter dem Gesetz hatte kein Anrecht auf das Leben. Im 6. Kapitel des Johannes‑Evangeliums werden wir jedoch be­lehrt, daß wir ohne den Genuß des Blutes kein Leben in uns haben. "Es sei denn, daß ihr das Fleisch des Sohnes des Menschen esset und sein Blut trinket, so habt ihr kein Leben in euch selbst" (Joh. 6, 53). Christus ist das Leben. Außer Ihm gibt es kein Leben. Außer Christus ist alles Tod. "In ihm war das Leben", und in sonst niemand.

 

Am Kreuz gab Er Sein Leben hin, und als Er am Fluchholz hing, wurde die Sünde diesem Leben zugerechnet. Indem Er Sein Leben aufgab, wurde daher auch die Ihm zugerechnete Sünde weggetan, sie ist in Seinem Grab zurückgeblieben, aus dem Er siegreich in der Macht eines neuen Lebens auferstand. Dieses Leben ist jetzt ebenso fest mit der Gerechtigkeit verbunden, wie die Sünde dem am Kreuz hingege­benen Leben zugerechnet wurde. Wenn wir dies genau beachten, wird in unseren Seelen das Bewußtsein von der vollkommenen Abschaffung der Sünde durch den Tod Christi vertieft werden, und wir wissen, daß alles, was dahin zielt, auch zu einer Befestigung unseres Friedens und zu einer größeren Verherrlichung Christi in Verbindung mit unserem Zeugnis und Dienst führen muß.

 

Wir haben in der Geschichte Kains und Abels bereits auf den interessan­ten und wichtigen Punkt hingewiesen, daß jeder von beiden völlig eins war mit dem von ihm dargebrachten Opfer. Es handelt sich in beiden Fällen nicht um die opfernde Person, sondern ausschließlich um den Charakter ihres Opfers. Daher lesen wir von Abel, das Gott Zeugnis gab zu seinen "Gaben". Er legte kein Zeugnis ab von Abel, sondern von dem Opfer Abels, und dies bezeichnet klar den wahren Grund des Friedens und der Annahme eines Gläubigen vor Gott.

 

In unseren Herzen, ist stets der Hang, unseren Frieden und unsere Annahme auf etwas in uns selbst zu gründen, wenn wir auch zugeben rnögen, daß dieses Etwas durch den Heiligen Geist gewirkt ist. Daraus entsteht das beständige Auf‑sich‑schauen, während der Heilige Geist uns dahin leiten möchte, daß wir von uns wegblicken. Für den Gläubigen ist nicht die Frage wichtig: "Was bin ich?", sondern "Was ist Christus?" Wenn er in dem Namen Jesu zu Gott gekommen ist, so ist er mit Christus völlig einsgemacht und in Seinem Namen angenommen, und er kann ebensowenig verworfen werden wie der, in dessen Namen er gekommen ist. Ebensowenig wie Person und Werk Christi infrage ge­stellt werden können, kann das Heil des schwächsten Gläubigen in Frage gestellt werden. Daher ruht die Sicherheit des Gläubigen auf einer Grundlage, die durch nichts erschüttert werden kann. Obwohl er in sich selbst ein wertloser Sünder ist, ist er in dem Namen Christi gekom­men und dadurch mit Christus einsgemacht, in Christus und wie Christus angenommen und in dasselbe "Bündel des Lebens" mit Chri­stus eingeschlossen. Gott zeugt nicht von ihm, sondern von seiner Gabe, und seine Gabe ist Christus. Wie beruhigend ist das! Es ist unser Vorrecht, in der Zuversicht des Glaubens jeden Ankläger auf Christus und Sein vollendetes Sühnopfer verweisen zu können. Unsere ganze Kraft ist in Ihm. In Ihm rühmen wir uns den ganzen Tag. Wir vertrauen nicht auf uns selbst, sondern auf Ihn, der alles für uns getan hat.

 

Doch der fleischliche Sinn beweist gleich seine Feindschaft gegen diese Wahrheit, die das Herz eines Gläubigen so sehr erfreut. So war es bei Kain. "Und Kain ergrimmte sehr, und sein Antlitz senkte sich" (Kap. 4, 5). Das, was Abel mit Frieden erfüllte, erfüllte Kain mit Wut. Kain verachtete in seinem Unglauben den einzigen Weg, auf dem ein Sünder zu Gott kommen konnte. Er weigerte sich, Blut zu opfern, ohne das keine Vergebung sein kann, und als er deswegen in seinen Sünden nicht angenommen wurde, Abel aber in seiner Gabe annehmlich war, "er­grimmte er sehr, und sein Antlitz senkte sich". Wie hätte es auch anders sein können? Gott konnte Kain nicht mit seinen Sünden annehmen, und Kain wollte nicht das Blut bringen, das allein Sühnung tun kann. Deshalb wurde er verworfen, und als ein Verworfener bringt er in seinen Wegen die Früchte einer verderbten Religion hervor. Er verfolgt und ermordet den wahren Zeugen, den angenommenen, gerechtfertigten Abel, den Mann des Glaubens, und in dieser Tat zeigt er sich als das erste Musterbeispiel aller Anhänger falscher Religion in jedem Zeitalter. Zu allen Zeiten und an allen Orten haben die Menschen sich mehr aus religiösen als aus anderen Gründen zu Verfolgungen hinreißen lassen. Es ist die Weise Kains. Die vollkommene, bedingungslose Rechtferti­gung durch den Glauben allein macht Gott zu allem und den Menschen zu nichts. Das liebt der Mensch nicht. Es verursacht ein "Senken seines Antlitzes" und ruft seinen Zorn wach. Nicht daß er einen Grund für seinen Zorn vorbringen könnte, denn wir haben gesehen, daß es sich überhaupt nicht um den Menschen handelt, sondern nur um den Boden, auf dem er vor Gott erscheint. Hätte die Annahme Abels sich auf etwas in ihm selbst gegründet, so wäre der Zorn Kains noch irgend­wie zu rechtfertigen gewesen, aber da Abel ausschließlich auf Grund seines Opfers angenommen wurde und Gott nicht ihm, sondern seiner Gabe Zeugnis gab, so fehlte dem Zorn Kains wirklich jede Grundlage. Dies wird denn auch deutlich in den Worten des HERRN: "Ist es nicht so, daß es sich erhebt, wenn du wohl tust?" Das Wohltun bezog sich auf das Opfer. Abel tat wohl, indem er sich hinter ein annehmbares Opfer stellte. Kain aber handelte böse, indem er ein Opfer ohne Blut darbrach­te, und sein späteres Verhalten war nur das folgerichtige Ergebnis seines falschen Gottesdienstes.

 

"Und Kain sprach zu seinem Bruder Abel; und es geschah, als sie auf dem Felde waren, da erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und erschlug ihn" (Kap. 4, 8). So ist es immer gewesen: das Geschlecht Kains verfolgte und tötete stets das Geschlecht Abels. Sowohl der Mensch und seine Religion als auch der Glaube und sein Gottesdienst sind im Lauf der Jahrhunderte stets gleich geblieben, und wo irgend sie einander begegneten, hat es Kampf gegeben.

 

Die Mordtat Kains war die Folge und naturgemäße Frucht seines fal­schen Gottesdienste. Die Grundlage war schlecht, und das darauf auf­gerichtete Gebäude war nicht weniger schlecht. Auch blieb er nicht bei der Mordtat, sondern nachdem er das Urteil darüber vernommen hatte, entfernte er sich aus der Gegenwart Gottes, indem er durch Unwissen­heit über Gott hinsichtlich einer Vergebung verzweifelte. Er baute eine Stadt, und in seiner Familie finden wir die Pfleger der nützlichen und ver­schönernden Künste: Ackerbauer, Musiker und Metallarbeiter. Aus Unwissenheit über den Charakter Gottes hielt er seine Sünde für zu groß, um vergeben werden zu können. Nicht daß er wirklich seine Sünde erkannt hätte, sondern er war unwissend über Gott. Gerade in seinen Gedanken über Gott offenbarte er die schreckliche Frucht des Sündenfalls. Er ver­langte nicht nach Vergebung, weil er nicht nach Gott verlangte. Er hatte kein  Gefühl von seinem wirklichen Zustand, kein Verlangen nach Gott und keine Einsicht darüber, wie ein Sünder Gott nahen kann. Er war durch und durch verderbt und auf einem ganz verkehrten Weg. Er hatte nur den einen Wunsch, aus der Gegenwart Gottes fortzugehen und sich in der Welt und ihrem Treiben zu verlieren. Er meinte, gut ohne Gott ]eben zu können und begann daher so gut er konnte, die Welt zu verschönern, um sie zu einem angenehmen Ort und sich selbst zu einem angesehenen Mann zu machen, obwohl die Welt in den Augen Gottes unter dem Fluch lag, und er selbst "unstet und flüchtig" war.

 

Das war "der Weg Kains", und auf diesem Weg eilen auch jetzt Millionen dahin, die in ihrem Charakter keineswegs das religiöse Element entbehren, sondern die Gott gern etwas opfern, gern etwas für Ihn tun und es für richtig halten, Ihm die Ergebnisse ihrer Arbeit darzubringen. Aber Hand in Hand damit geht die Anstrengung, die Welt zu veredeln und das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Das Heilmittel Gottes kann reinigen, aber man hat e~; verworfen, die Anstrengung des Menschen will verbessern und an dessen Stelle treten. Das ist "der Weg Kains" (Jud. ‑11).

 

Wir brauchen nur um uns her zu blicken, um zu sehen, wie dieser Weg heute die Oberhand gewinnt. Obgleich. die Welt mit dem Blut eines Größeren als Abel, mit dem Blut Christi selbst, befleckt ist, versucht der Mensch doch, einen angenehmen Aufenthaltsort aus ihr zu machen. Wie in den Tagen Kains die Klänge "der Lautenspieler und Pfeifer" den Schrei des Blutes Abels erstickten, so hört auch jetzt das Ohr des Menschen lieber andere Laute, als die Sprache Golgathas, und sein Auge blickt lieber auf andere Dinge, als auf den gekreuzigten Christus. Nicht nur wird den Bedürfnissen des Menschen als Geschöpf entspro­chen, sondern der menschliche Erfindungsgeist ersinnt auch unauf­hörlich Dinge, die ihm begehrenswert erscheinen. ja, er begehrt sie nicht nur, sondern bildet sich ein, daß das Leben ohne sie unerträglich sein würde. So kann z. B. eine Reise, die vor einigen Jahrzehnten noch Tage und Wochen dauerte, heute in Stunden gemacht werden, und doch beklagt man sich, wenn sich die Ankunft verzögert. Der Mensch will keine Beschwerden mehr auf sich nehmen. Er benutzt die Errungen­schaften der Zivilisation und Technik, als könnte er in seiner eigenen Weise jenes herrliche Zeitalter herbeiführen, wo "das Meer nicht mehr ist".

 

In Verbindung hiermit gibt es eine Fülle sogenannter Religion. Der Mensch will im allgemeinen nicht ohne Religion sein. Viele sind daher bereit, ein Siebtel ihrer Zeit der Religion, oder, wie sie meinen, ihren ewigen Interessen, zu widmen. Es bleiben ihnen dann ja noch sechs Siebtel für zeitliche Interessen zur Verfügung. Aber ob sie für die Zeit oder für die Ewigkeit arbeiten, sie tun es in Wirklichkeit für sich selbst. Das ist "der Weg Kains".

 

Wie ganz anders ist der Weg des Mannes des Glaubens! Abel fühlte den Fluch und erkannte ihn an. Er sah die durch die Sünde entstandene Verunreinigung, und in heiliger Glaubensenergie opferte er das, was der Sünde in Gott entsprechender Weise begegnete. Er suchte und fand einen Zufluchtsort in Gott selbst, und anstatt eine Stadt auf der Erde zu bauen, fand er nur ein Grab in ihr. Die Erde, die nach außen den Geist und die Wirksamkeit Kains und seiner Familie zeigte, war mit dem Blut eines gerechten Mannes befleckt, und heute ist die Erde, auf der wir leben, befleckt mit dem Blut des Sohnes Gottes. Das gleiche Blut, das die Kirche rechtfertigt, verdammt die Welt. Der Gläubige sieht den dunklen Schatten, den das Kreuz Jesu über all den Glanz dieser vergänglichen Welt wirft. "Die Gestalt dieser Welt vergeht­(i. Kor. 7, 31). Schon bald wird alles vorüber sein. Dem "Weg Kains" wird der "Irrtum Balaams" in vollendeter Form folgen, diesem wiederum der "Widerspruch Korahs", und dann? Der Abgrund wird seinen Mund öffnen, um die Gottlosen zu verschlingen, und sich wieder schließen, um sie dem "Dunkel der Finsternis in Ewigkeit" zu übergeben (jud.11‑13).

 

Zur Bestätigung des Vorhergehenden wollen wir jetzt einen Blick auf den Inhalt des 5. Kapitels werfen. Wir finden darin den demütigen Bericht von der Schwachheit des Menschen und seine Unterwerfung unter die Herrschaft des Todes. Er mochte Hunderte von Jahren leben und Söhne und Töchter zeugen", aber der Schluß seiner Geschichte lautet immer: "er starb". "Der Tod herrschte von Adam bis auf Mose", und: "Es ist den Menschen gesetzt, einmal zu sterben". Diese Hürde kann der Mensch nicht nehmen. Er kann durch nichts, was im Bereich seiner Geisteskräfte liegt, dem Tod seinen schrecklichen Stachel nehmen.

 

Er ist nicht in der Lage, das Urteil des Todes zu beseitigen, mag er das Leben auch noch so angenehm gestalten.

 

Was war nun die Ursache dieses so gefürchteten Todes? Der Apostel Paulus gibt uns die Antwort. "Durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod" (Röm. 5, 12). Hier haben wir den Ursprung des Todes. Er kam durch die Sünde. Die Sünde zerriß das Band zwischen dem Geschöpf und dem lebendigen Gott, und dadurch geriet der Mensch unter die Herrschaft des Todes, die er un­möglich abschütteln kann. Dies ist einer der vielen Beweise dafür, daß der Mensch völlig unfähig ist, Gott zu begegnen. Es gibt keine Ge­meinschaft zwischen Gott und dem Menschen, als nur in der Kraft des Lebens, und da sich der Mensch unter der Macht des Todes befindet, kann naturgemäß keine Gemeinschaft vorhanden sein ‑ Leben kann ebensowenig Gemeinschaft mit Tod haben, wie Licht mit Finsternis, oder Heiligkeit mit Sünde. Der Mensch muß Gott auf einem völlig neuen Boden und Grundsatz begegnen, nämlich dem des Glaubens, und der Glaube befähigt ihn, nicht nur seine eigene Stellung anzuerkennen, als "unter die Sünde verkauft" und somit dem Tod unterworfen, son­dern zugleich den Charakter Gottes zu erfassen als Spende eines neuen, über die Macht des Todes triumphierenden Lebens, und dieses Leben kann weder durch einen Feind angetastet, noch durch uns verwirkt werden.

 

Das kennzeichnet die Sicherheit des Lebens des Gläubigen. Christus ist sein Leben: ein auferstandener, verherrlichter Christus, der Sieger über alles, was gegen uns sein könnte. Das Leben Adams war auf Gehorsam gegründet, und daher wurde es durch seinen Ungehorsam verwirkt. Christus aber, der Leben in sich selbst hatte, kam in diese Welt und be­gegnete vollkommen jeder Form der Sünde des Menschen, und indem Er sich dem Tod unterwarf, vernichtete Er den, der die Macht des Todes hatte, und wurde in der Auferstehung das Leben und die Gerechtigkeit aller, die an Seinen herrlichen Namen glauben.

 

Unmöglich kann Satan dieses Leben antasten. Denn Gott ist die Quelle des Lebens, ein auferstandener Christus der Kanal des Lebens, der Heilige Geist die Macht des Lebens, der Himmel der Bereich und die Ewigkeit die Dauer des Lebens. Für jeden, der dieses wunderbare Leben besitzt, ist deshalb jetzt alles verändert. Obwohl auf der einen Seite gesagt werden muß: "Inmitten des Lebens sind wir im Tode", kann doch auf der anderen Seite gesagt werden: "Inmitten des Todes sind wir im Leben". In dem Bereich, in den der auferstandene Christus Sein Volk einführt, herrscht kein Tod. Wie wäre es auch möglich? Hat Er den Tod nicht abgeschafft? Der Tod kann nicht für dasselbe Volk zugleich abgeschafft sein und noch bestehen. Gottes Wort aber sagt uns, daß er abgeschafft ist. Christus entfernte den Tod von der Szene und füllte sie mit Leben, und deshalb steht nicht der Tod, sondern die Herrlichkeit dem Gläubigen bevor. Der Tod fiegt hinter ihm, und zwar für immer. Die Zukunft zeigt ihm die Herrlichkeit. Es mag freilich sein Los sein, zu entschlafen, "in Jesu zu entschlafen", aber das ist nicht der Tod. Die Tatsache des Abscheidens, um bei Christo zu sein, ändert nichts an der besonderen Hoffnung des Gläubigen, dem Herrn in der Luft zu begegnen und allezeit bei Ihm und Ihm gleich zu sein.

 

Eine sehr schöne Erläuterung hierzu finden wir in der Geschichte Henochs. Henoch bildet die einzige Ausnahme von der Regel des 5. Ka­pitels. Die Regel heißt: "er starb", und die Ausnahme: "er sollte den Tod nicht sehen". "Durch Glauben ward Henoch entrückt, damit er den Tod nicht sehen sollte, und er wurde nicht gefunden, weil Gott ihn entrückt hatte; denn vor der Entrückung hat er das Zeugnis gehabt, daß er Gott wohlgefallen habe" (Hebr. 11, 5). Henoch war der "siebente von Adam", und es ist bedeutungsvoll, daß der Tod über "den Sieben­ten" nicht triumphieren konnte, sondern daß Gott für ihn eintrat und ihn zu einem Zeichen Seines Sieges über die Macht des Todes machte. Nachdem sechsmal berichtet wird: "Er starb", erfreut es das H 'rz, bei dem Siebenten zu entdecken, daß er nicht starb, und wenn wir nach der Ursache fragen, so lautet die Antwort: "Durch Glauben". Henoch lebte im Glauben an seine Entrückung und wandelte dreihundert Jahre mit Gott. Das sonderte ihn von seiner ganzen Umgebung ab. Ein Leben mit Gott nimmt zwangsläufig den Menschen aus dem Bereich der Gedanken dieser Welt heraus. Henoch verwirklichte dies, denn in seinen Tagen offenbarte sich der Geist der Welt und widersetzte sich, wie auch heute, allem was aus Gott war. Der Mann des Glaubens fühlte, daß er mit der Welt nichts anderes zu schaffen haben konnte, als daß er ein beständi­ges Zeugnis von der Gnade Gottes und dem kommenden Gericht ablegte. Die Söhne Kains mochten ihre Kräfte verschwenden in dem eitlen Versuch, eine verfluchte Welt zu verbessern. Henoch fand eine bessere Welt und lebte in ihrer Kraft. Sein Glaube war ihm nicht ge­schenkt worden, um die Welt zu verbessern, sondern um mit Gott zu wandeln. Offensichtlich kannte Henoch nichts von dem Versuch mancher Christen, aus beiden Welten möglichst viel Nutzen zu ziehen. Für ihn gab es nur eine Welt, und so sollte es auch bei uns sein.

 

Wie inhaltsreich sind ferner die Worte: "Henoch wandelte mit Gott"! Absonderung und Selbstverleugnung, Heiligkeit und sittliche Reinheit, Gnade und Sanftmut, und doch zugleich Eifer und Energie, Treue und kompromißlose Standhaftigkeit zeigen sich in diesen wenigen Worten. "mit Gott wandeln" enthält alles, was zum göttlichen Leben gehört. Es umfaßt die Erkenntnis des Charakters Gottes, wie Er selbst ihn geoffenbart hat und ein Verständnis über die Beziehungen, in denen wir zu Ihm stehen.

 

So finden wir in Abel und Henoch eine wichtige Lehre über das Opfer, auf dem der Glaube ruht, und über das Endziel, welches die Hoffnung jetzt schon im voraus genießt, während gleichzeitig der "Wandel mit Gott" alle Einzelheiten des dazwischen liegenden praktischen Lebens umfaßt. "Gnade und Herrlichkeit wird der HERR geben", und zwischen Gnade, die geoffenbart worden ist, und der Herrlichkeit, die noch ge­offenbart werden soll, liegt die glückliche Gewißheit, daß Er "kein Gutes vorenthalten wird denen, die in Lauterkeit wandeln" (Ps. 84, 11).

 

Man hat oft gesagt, daß das Kreuz und die Ankunft des Herrn die äußersten Endpunkte der Geschichte der Kirche bilden. Diese Punkte sind in dem Opfer Abels und in der Entrückung Henochs bildlich ange­deutet. Die Kirche kennt ihre völlige Rechtfertigung durch den Tod und die Auferstehung Christi, und sie wartet auf den Tag, da Er kommen und sie zu sich nehmen wird. Sie erwartet "durch den Geist aus Glau­ben die Hoffnung der Gerechtigkeit" (Gal. 5, 5). Sie erwartet nicht die Gerechtigkeit, denn diese besitzt sie bereits aus Gnaden, sondern sie erwartet die Hoffnung, die der Stellung angehört, in die sie gebracht worden ist.

 

Manche Ausleger der Prophetie haben über diesen Punkt traurige Irr­tümer verbreitet (und tun es noch), indem sie den besonderen Platz der Kirche, ihr Teil und ihre Hoffnung nicht erkannten. Sie haben die Hoffnung der Kirche, den "glänzenden Morgenstern", verdunkelt, so daß viele Gläubige unserer Tage sich scheinbar nicht mehr über die Hoff­nung des gottesfürchtigen 10berrestes Israels erheben können, die darin gipfelt "die Sonne der Gerechtigkeit mit Heilung in ihren Flügeln" aufgehen zu sehen (Mal. 4). Sehr vielen ist auch die sittliche Kraft, die von der Hoffnung auf die Ankunft Christi ausgeht, dadurch geraubt worden, daß man sie belehrt hat, auf Ereignisse zu blicken, die Seiner Offenbarung für die Kirche vorausgehen sollen. Man bezeichnet die Wiederherstellung der Juden, die Enthüllung des Bildes Nebukadnezars sowie das Offenbarwerden des Menschen der Sünde als Dinge, die vor der Ankunft Christi in Erscheinung treten müssen, während aus zahl­reichen Stellen im Neuen Testament mit Leichtigkeit das Gegenteil bewiesen werden könnte aber das ist nicht Aufgabe dieses Buches

 

Die Kirche wird wie Henoch aus dem sie umgebenden Bösen herausgenommen und vor dem kommenden Bösen bewahrt werden. Henoch wurde nicht zurückgelassen, um zu sehen, wie das Böse der Welt seinen Gipfel erreicht und das Gericht Gottes darüber ausgegossen wurde. E sah weder, daß alle Quellen der großen Tiefe aufbrachen", noch daß "sich die Fenster des Himmels auftaten". Er wurde weggenommen bevor diese Dinge sich ereigneten und er ist für den Glauben ein schönes Bild von denen, die "nicht alle entschlafen die aber "alle verwandelt werden, in einem Nu, in einem Augenblick, bei der letzten Posaune" (l. Kor. 15, 51. 52). Die Entrückung, nicht der Tod, war die Hoffnung Henochs, und nach den Worten des Apostels ist die Hoffnung de Kirche: "Gottes Sohn aus den Himmeln zu erwarten" (l. Thess. 1, 10) Der einfachste und unbelehrteste Christ kann das verstehen und sich darüber freuen und er kann auch in gewissem Maß die Kraft davon erfahren und sichtbar werden lassen. Er ist vielleicht nicht in der Lage die Prophezeiung gründlich zu erforschen, aber er kann den Segen, die Wirklichkeit, den Trost und die Kraft dieser himmlischen Hoffnung schmecken, die ihm als Glied jenes himmlischen Leibes, der Kirche gehören. Diese Hoffnung besteht nicht darin, "die Sonne der Gerechtigkeit" zu schauen, sondern, "den glänzenden Morgenstern" zu sehen (Offbg. 22, 16). Und wie in der sichtbaren Welt der Morgenstern vor denen, die seine Erscheinung erwarten, vor Sonnenaufgang gesehen wird, so wird Christus als der Morgenstern von der Kirche gesehen werden bevor der Überrest Israels die Strahlen der Sonne erblicken kann

 

Kapitel 6 bis 9

 

DIE FLUT

 

Wir sind jetzt bei einem wichtigen, deutlichen Schnitt in unserem Buch angelangt. Henochs Weg, der Weg eines Fremdlings auf der Erde, endete mit seiner Entrückung in den Himmel. Er wurde weggenommen, bevor das Böse seinen Höhepunkt erreicht hatte und das göttliche Gericht hereinbrach. Wie wenig Einfluß sein Weg und seine Entrückung auf die Welt ausüben, zeigen uns die beiden ersten Verse von Kapitel 6: "Und es geschah, als die Menschen begannen sich zu mehren auf der Fläche des Erdbodens, und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Söhne Gottes, daß die Töchter der Menschen schön waren, und sie nahmen sich zu Weibern, welche sie irgend erwählten“.

 

Die Vermengung des göttlichen mit dem, was vom Menschen ist, ist eine besondere Form des Bösen und ein sehr wirksamer Kunstgriff Satans, um das Zeugnis von Christus auf der Erde zu verderben. Diese Vermengung mag häufig wünschenswert erscheinen. Oft mag scheinbar dadurch die göttliche Botschaft schneller verbreitet werden und der göttliche Einfluß stärker zur Wirkung kommen. Sie mag scheinbar mehr Erfreuliches als Nachteiliges mit sich bringen, aber unser Urteil in dieser Sache hängt ganz von dem Gesichtspunkt ab, unter dem wir sie be­trachten. Wenn wir sie im Licht der Gegenwart Gottes betrachten, können wir keinen Vorteil darin sehen, wenn sich das Volk Gottes mit den Kindern dieser Welt verbindet, oder wenn die Wahrheit Gottes durch menschliche Beimischungen verdorben wird. Es ist nicht nach den Gedanken Gottes, auf diese Weise die Wahrheit zu verbreiten, oder die Interessen von denen zu fördern, die den Platz des Zeugnisses für Ihn auf der Erde einnehmen sollen. Gottes Grundsatz ist: Trennung von allein Bösen. Und dieser Grundsatz kann niemals ohne Schaden für die Wahrheit verlassen werden.

 

In dem Bericht in 1. Mose 6 sehen wir, daß die Verbindung der "Söhne Gottes" mit den "Töchtern der Menschen" traurige Folgen hatte. Zwar hatte die Frucht dieser Vereinigung nach dem Urteil des Menschen ein außerordentlich schönes Aussehen, denn wir lesen von den Kindern aus diesen Ehen: "Das sind die Helden, welche von alters her waren, die Männer von Ruhm gewesen sind" (Kap. 6, 4). Aber das Urteil Gottes lautete ganz anders. "Und der HERR sah, daß des Menschen Bosheit groß war auf Erden, und alles Gebilde der Gedanken seines Herzens nur böse den ganzen Tag" (V. 5). "Nur böse", "böse den ganzen Tag", das war aufgrund der Verbindung des Heiligen mit dem Unheiligen der Zustand des Menschen vor Gott. Wenn der heilige Same seine Reinheit nicht bewahrt, wird das Zeugnis auf der Erde verhindert. Die erste Anstrengung Satans bestand darin, durch Töten des heiligen Samens den Vorsatz Gottes zu vereiteln, und als das mißlang, versuchte er seinen Zweck dadurch zu erreichen, daß er ihn verderbte.

 

Es ist wichtig, Absicht, Charakter und Ergebnis dieser Vereinigung der "Söhne Gottes" mit den "Töchtern der Menschen" klar zu verstehen. Zeigt sich doch in unseren Tagen die gefährliche Sucht, zur Erreichung einer Vereinigung die Wahrheit aufs Spiel zu setzen. Wir sollten vor dieser Gefahr auf der Hut sein. Wahre Vereinigung kann niemals auf Kosten der Wahrheit erreicht werden. Der Wahlspruch des treuen Christen sollte stets lauten: "Wahrheit um jeden Preis! Kann auf diesem Weg die Vereinigung gefördert werden, um so besser, aber Wahrheit um jeden Preis!" Eine falsche Nachgiebigkeit hingegen sagt: "Vereinigung um jeden Preis! Kann auf diesem Weg die Wahrheit festgehalten werden, soviel besser, aber Vereinigung um jeden Preis!"*) Wo man die Wahrheit aufgegeben hat, kann kein wahres Zeugnis sein, und deshalb sehen wir in der Zeit vor der Flut, daß die traurige Ver­einigung zwischen dem Heiligen und dem Unheiligen nur die Wirkung hatte, das Böse seinem Gipfel zuzuführen und dann die Gerichte Gottes heraufzubeschwören.

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*) Möchten wir uns stets an die Worte erinnern: "Die Weisheit aber von oben ist aufs erste rein, sodann friedsam" (Jak. 3, 17). Die Weisheit, die von unten ist, möchte "friedsam" zuerst setzen, und daher kann sie niemals "rein" sein.

 

"Und der HERR sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Fläche des Erdbodens vertilgen" (V. 7). Es gab keine andere Möglichkeit. Alles, was seinen Weg auf der Erde verderbt hatte, mußte ausgerottet werden. "Die Helden und die Männer von Ruhm" mußten alle ohne Unterschied vernichtet, "alles Fleisch" mußte als völlig unpassend für Gott verworfen werden. "Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen" (V. 13). Es handelte sich nicht nur um das Ende von einigem Fleisch, nein, in den Augen des HERRN war alles Fleisch verderbt, unverbesserlich schlecht. Es war gewogen und zu leicht er­funden worden, und der Herr kündigt Noah Sein Heilmittel in den Worten an: "Mache dir eine Arche von Gopherholz" (V. 14).

 

So erfuhr Noah die Gedanken Gottes über seine Umgebung. Der Zweck des Wortes Gottes war, die Wurzeln von dem bloßzulegen, worauf der Mensch mit Selbstgefälligkeit und Stolz blickte. Wohl mochte das menschliche Herz stolz auf die "Künstler", "Helden" und Männer von Ruhm" sehen. Wohl mochte der Ton der Laute und Flöte dem Herzen des Menschen gefallen, während gleichzeitig der Boden bebaut wurde und überhaupt für allen Bedarf des Menschen in einer Weise gesorgt war, die jedem Gedanken hinsichtlich des nahenden Gerichts wider­sprach. Aber welch einen dunklen Schatten warfen die ernsten Worte: "Ich werde vertilgen", über die äußerlich blühende Szene! Konnte der Geist des Menschen nicht einen Ausweg erfinden? Konnte nicht der "Held sich selbst befreien durch die Größe seiner Kraft"? Nein. Wohl gab es einen Weg zum Entrinnen, aber er war nur dem Glauben ge­offenbart, nicht dein Schauen, nicht der Vernunft, nicht der Einbildungs­kraft.

 

"Durch Glauben bereitete Noah, als er einen göttlichen Ausspruch über das, was noch nicht zu sehen war, empfangen hatte, von Furcht bewegt, eine Arche zur Rettung seines Hauses, durch welche er die Welt ver­urteilte und Erbe der Gerechtigkeit wurde, die nach dem Glauben ist" (Hebr. 11, 7). Das Wort Gottes läßt sein Licht auf alles scheinen, was das Herz des Menschen betrügt. Es nimmt die ganze Vergoldung weg, womit die Schlange die betrogene, vergängliche Welt verziert, Über der das Schwert des Gottesgerichts hängt. Aber nur der Glaube läßt sich von Gott warnen, wenn die Dinge, von denen Gott spricht, "noch nicht zu sehen" sind. Die Natur wird durch das, was sie sieht, durch ihre Sinne regiert, während der Glaube sich durch das Wort Gottes leiten läßt. Welch ein unermeßlicher Schatz ist dieses Wort in einer finsteren Welt! Es gibt Standhaftigkeit, mögen die Umstände sein wie sie wollen. Als Gott zu Noah von dem bevorstehenden Gericht redete, bemerkte man noch kein Anzeichen davon. Es war noch "nicht zu sehen", aber das Wort Gottes machte es zur Wirklichkeit für das Herz, das diese Ankündigung im Glauben aufnahm. Der Glaube wartet nicht auf das Sichtbarwerden einer Sache, denn "der Glaube ist aus der Verkündigung, die Verkündigung aber durch Gottes Wort" (Röm. 10, 17).

 

Alles, was der Mensch des Glaubens braucht, ist die Gewißheit, daß Gott gesprochen hat. Ein "So spricht der Herr" regelt für ihn alles. Wer das Wort Gottes als Grundlage seiner Überzeugungen hat, kann dem Strom menschlicher Meinungen und Vorurteile standhalten. Das Wort Gottes stärkte das Herz Noahs während der langen Dauer seines Dienstes' und dasselbe Wort hat von jenem Tag bis heute trotz des Widerspruchs der Welt die Millionen der Heiligen Gottes aufrecht erhalten. Wir können daher das Wort Gottes gar nicht hoch genug schätzen. Ohne Sein Wort herrscht Dunkel und Ungewißheit, mit ihm Licht und Frieden. Wo es sein Licht leuchten läßt, zeigt es dem Glaubenden einen sicheren und gesegneten Weg. Wo es nicht scheint, irrt man im Labyrinth menschlicher Überlieferungen umher. Wie hätte Noah 120 Jahre lang "Gerechtigkeit predigen“ können, wenn nicht das Wort Gottes die Grundlage seiner Predigt gewesen wäre? Wie hätte er dem Spott einer ungläubigen Welt Widerstand leisten und wie an dem Zeugnis von dem kommenden Gericht festhalten können, obwohl nicht das geringste Anzeichen dafür sichtbar war? Das Wort Gottes war der Boden, auf dem er stand, und "der Geist Christi" gab ihm die Kraft, diesen Boden standhaft zu behaupten.

 

Lieber gläubiger Leser, was besitzen wir, um in einer bösen Zeit wie heute im Dienst für Christus standzuhalten? Nichts anderes als Noah, aber wir brauchen auch nichts anderes. Die Anwendung und Benutzung des Wortes Gottes unter der Führung des Heiligen Geistes, durch den dieses Wort allein verstanden werden kann, ist alles, was wir brauchen, um vollständig ausgerüstet und zu "jedem guten Werke" geschickt zu sein (2. Tim. 3, 16. 17).

 

"Und Gott sprach zu Noah: Das Ende alles Fleisches ist vor mich ge­kommen ... Mache dir eine Arche von Gopherholz" (Kap. 6, 13. 14). Hier sehen wir das Verderben des Menschen und das Heilmittel Gottes. Dem Menschen war erlaubt worden, seinen Weg bis zum Ende zu gehen und seine Grundsätze ausreifen zu lassen. Der Sauer­teig hatte gewirkt und die Masse durchdrungen. Das Böse hatte seinen Höhepunkt erreicht. "Alles Fleisch" war so schlecht geworden, daß es nicht schlechter werden konnte. Deshalb blieb für Gott nichts anderes übrig, als es ganz zu zerstören und zugleich die zu retten, die nach Seinen ewigen Ratschlüssen mit Noah, dem einzigen gerechten Men­schen, der damals lebte, in Verbindung standen. Dies stellt uns die Lehre vom Kreuz in sehr lebendiger Weise vor Augen. Wir finden hier das Gericht Gottes über die Natur mit all ihrem Bösen, und zugleich die Offenbarung der ganzen Fülle Seiner rettenden Gnade, die für die ist, welche die tiefste Stufe ihres sittlichen Zustandes erreicht haben. "Der Aufgang aus der Höhe hat uns besucht" (Luk. 1, 78). Wo? Genau da, wo wir uns als Sünder befanden. Gott ist in die Tiefen unseres Verderbens hinabgestiegen. Es gibt nichts in dem Zustand des Sünders, zu dem das Licht Gottes nicht gedrungen wäre, aber gleich­zeitig mußte es wegen seiner Natur unseren wahren Charakter offen­baren. Das Licht muß alles richten, was ihm entgegen ist, aber gleich­zeitig gibt es auch die "Erkenntnis des Heils durch die Vergebung der Sünden". Das Kreuz offenbart das Gericht Gottes über "alles Fleisch". zugleich aber auch Sein Heil für den verlorenen und schuldigen Sünder. Am Kreuz ist die Sünde vollkommen gerichtet, der Sünder vollkom­men errettet und Gott vollkommen geoffenbart worden.

 

Im ersten Brief des Petrus finden wir viel Licht über dieses Thema. In Kap. 3, 18‑22 lesen wir: "Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, auf daß er uns zu Gott führe, getötet nach dem Fleische, aber lebendig gemacht nach dem Geiste, in welchem [Geiste] er auch hinging und predigte [durch Noah] den Geistern, die [jetzt] im Gefängnis sind, welche einst ungehorsam waren, als die Langmut Gottes harrte in den Tagen Noahs, während die Arche zugerichtet wurde, in welcher wenige, das ist acht Seelen, durch Wasser gerettet wurden, welches Gegenbild auch euch jetzt errettet, das ist die Taufe, (nicht ein Ablegen der Unreinigkeit des Fleisches [wie durch Wasser],*) sondern das Begehren eines guten Gewissens vor Gott) durch

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*) Wie tritt die Weisheit des Heiligen Geistes hervor, indem Er die Ver­ordnung der Taufe in dieser bemerkenswerten Stelle auf ganz besondere Weise behandelt! Wir kennen die verkehrte Anwendung, die man von der Taufe gemacht hat, kennen den falschen Platz, den sie in den Gedanken Vieler einnimmt. Wir wissen, daß die Wirkung, die allein dem Blut Christi innewohnt, dem Wasser der Taufe beigemessen wird, und daß die erneuernde Gnade des Heiligen Geistes auf das Wasser der Taufe übertragen worden ist. So können wir nur überrascht sein von der Art und Weise, in der der Geist Gottes diesen Gegenstand mit der Erklärung überwacht, daß es sich nicht um ein bloßes Ablegen der Unreinigkeit des Fleisches, als durch Wasser handelt, sondern "um das Begehren eines guten Gewissens vor Gott" ‑ ein Begehren, das sich nicht auf die Taufe gründet, so wichtig diese als eine An­ordnung für das Reich auch sein mag, sondern auf "die Auferstehung Jesu Christi, welcher unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden ist". Ich brauche kaum zu sagen, daß die Taufe als eine von Gott eingesetzte Verordnung und an ihrem Platz wichtig und bedeutungsvoll ist, aber wenn wir finden, daß die Menschen das Bild an die Stelle des Wesens setzen, so sind wir verpflichtet, das Werk Satans durch das Licht des Wortes Gottes bloßzustellen.

 

die Auferstehung Jesu Christi, welcher, in den Himmel gegangen, zur Rechten Gottes ist, indem Engel und Gewalten und Mächte Ihm unter­worfen sind." Diese wichtige Stelle verdeutlicht uns die Lehre von der Arche und ihren Zusammenhang mit dem Tod Christi. Wie in der Sint­flut, so gehen in dem Tod Christi alle Wegen und Wellen des Gerichts Gottes über Den, Der in sich selbst ohne Sünde war. Die Schöpfung wurde unter den Fluten des gerechten Zornes des HERRN begraben, und der Geist Christi ruft aus: "Alle deine Wogen und deine Wellen sind über mich hingegangen" (Ps. 42, 7). Das ist eine bedeutungsvolle Wahrheit für Herz und Gewissen des Gläubigen. "Alle Wogen und Wellen Gottes" haben sich am Kreuz über die fleckenlose Person des Herrn Jesus ergossen, und infolgedessen blieb nicht eine von ihnen zurück, um sich über die Person des Gläubigen zu ergießen. Auf Golgatha sehen wir in Wahrheit "alle Quellen der großen Tiefe auf­brechen und die Fenster des Himmels sich auftun." "Tiefe ruft der Tiefe beim Brausen deiner Wassergüsse." Christus trank den Kelch und ertrug den Zorn in vollkommener Weise. Er stellte sich im Gericht unter das volle Gewicht der ganzen Verantwortung Seines Volkes und entsprach ihr in herrlicher Weise. Der Glaube daran gibt der Seele Frieden. Wenn der Herr Jesus allem begegnet ist, was gegen uns sein konnte, wenn Er jedes Hindernis aus dem Weg geräumt, wenn Er die Sünde weggetan und für uns den Becher des Zorns und Gerichts geleert hat, sollten wir dann nicht einen unerschütterlichen Frieden be­sitzen? Der Friede ist unser unveränderliches Teil. Uns gehören tiefe Segnungen und eine völlige Sicherheit: Geschenke der erlösenden Liebe auf dem gerechten Boden des von Christus vollbrachten Werkes.

 

Noah ängstigte sich nicht um die Wogen des Gerichts Gottes. Warum sollte er auch? Er wußte, daß sie "alle" ausgegossen waren, während er selbst durch dieselben Wogen in den Bereich des Friedens empor­gehoben wurde. Er schwamm in Frieden auf demselben Wasser, durch das "alles Fleisch" gerichtet wurde. Er war durch Gott selbst in Sicher­heit gebracht und hätte in der triumphierenden Sprache des Apostels (Röm. 8) sagen können: "Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?" Der HERR selbst hatte ihn aufgefordert: "Gehe in die Arche, du und dein ganzes Haus!" (Kap. 7, 1). Und kaum war dies geschehen, so lesen wir: "Und der HERR schloß hinter ihm zu‑ (V. 16). jetzt waren alle, die sich in der Arche befanden, in Sicherheit. Der HERR verschloß die Tür, und ohne Ihn konnte niemand ein ‑ oder ausgehen. In der Arche befanden sich ein Fenster und eine Tür. Der Herr verschloß mit Seiner eigenen mächtigen Hand die Tür und überließ Noah das Fenster, durch das er aufwärts nach jenem Ort schauen konnte, von wo das ganze Gericht ausgegangen war, und er konnte sehen, daß kein Gericht für ihn übrigblieb. Da das Fenster "oben" angebracht war (Kap. 6, 16), konnte die gerettete Familie nur aufwärts schauen. Sie konnten weder die Wasser des Gerichts, noch den Tod und die Verwüstung sehen, die diese Wasser verursacht hatten. Das Heilmittel Gottes, "das Gopher­holz", befand sich zwischen ihnen und allen diesen Dingen.

 

Nichts kann die vollkommene Sicherheit des Gläubigen in Christus besser ausdrücken als die Worte: "Und der HERR schloß hinter ihm zu." Wer könnte öffnen was Gott verschlossen hat? Noah war mit seiner Familie so sicher, wie Gott ihn in Sicherheit bringen konnte. Keine Macht der Engel, der Menschen, oder der Teufel konnte die Tür der Arche aufbrechen und das Wasser hineinlassen. Denn sie war verschlossen durch dieselbe Hand, die die Fenster des Himmels öffnete und die Quellen der großen Tiefe aufbrechen ließ. So wird auch von Christus als dem gesprochen, der "den Schlüssel des David hat, der da öffnet, und niemand wird schließen, und schließt, und nie­mand wird öffnen" (Offbg. 3, 7). Auch hält Er in Seiner Hand "die Schlüssel des Todes und des Hades" (Offbg. 1, 18). Niemand kann ohne Ihn durch die Pforten des Grabes eintreten oder herauskommen. Er hat "alle Gewalt im Himmel und auf Erden" (Matth. 28, 18). Er ist "als Haupt über alles der Versammlung gegeben", und in Ihm ist der Gläubige vollkommen sicher. Wer konnte Noah antasten? Welche Welle konnte in die Arche eindringen, die "von innen und von außen mit Harz verpicht" war? Ebenso ist es jetzt. Wer kann diejenigen an­tasten, die im Glauben ihre Zuflucht zum Kreuz genommen haben? Jeder Feind wurde getroffen und für immer zum Schweigen gebracht.

 

Der Tod Christi hat auf jeden Einwand siegreich geantwortet, während gleichzeitig Seine Auferstehung der Ausdruck des unendlichen Wohlge­fallens Gottes an diesem Werk ist, denn aufgrund dieses Werkes kann Gott uns in Gerechtigkeit annehmen, und wir können voll Vertrauen Ihm nahen.

 

Nachdem die Tür unserer Arche durch Gottes eigene Hand gesichert ist, wird das Fenster Grund unserer Freude: Es ist ein Bild von der glück­lichen und heiligen Gemeinschaft mit Ihm, der uns von dem kommen­den Zorn errettet und uns zu Erben der zukünftigen Herrlichkeit ge­macht hat. Petrus spricht von solchen, die "blind und kurzsichtig sind und die Reinigung ihrer vorigen Sünden vergessen haben" (2. Petr. 1, 9). Das ist ein beklagenswerter Zustand und die Folge der Vernach­lässigung einer unter Gebet gepflegten Gemeinschaft mit Ihm, der uns für ewig in Christus eingeschlossen hat.

 

Lagt uns noch einen Blick auf den Zustand von denen werfen, denen Noah so lange Gerechtigkeit gepredigt hatte. Ohne Zweifel wird man­cher ängstliche Blick nach dem Rettungsschiff gegangen sein, als es sich langsam mit dem Wasser hob, aber die Tür war verschlossen, der Tag der Gnade war vorüber, und die Zeit des Zeugnisses, soweit es jene Menschen betraf, war für ewig abgelaufen. Dieselbe Hand, die Noah eingeschlossen hatte, hatte sie ausgeschlossen, und die, die draußen waren, konnten ebensowenig hineingelangen, wie die, die sich in der Arche befanden, herauskommen konnten. Die einen waren unrettbar verloren, die anderen wirklich gerettet. Sowohl die Langmut Gottes, als auch das Zeugnis Seines Dieners waren verachtet worden. Die zeitlichen Dinge hatten diese Unglücklichen ganz und gar in Anspruch genommen. "Sie aßen, sie tranken, sie heirateten, sie wurden verheira­tet, bis zu dem Tage, da Noah in die Arche ging, und die Flut kam und alle umbrachte" (Luk. 17, 26. 27). An sich lag nichts Unrechtes in allen diesen Dingen. Das Unrecht lag nicht in dem, was getan wurde, sondern in den Tätern. Alle diese Handlungen hätten in der Furcht des Herrn und zur Verherrlichung Seines heiligen Namens geschehen können, wenn sie nur im Glauben getan worden wären. Aber leider war dies nicht der Fall. Das Wort Gottes wurde verworfen. Gott kündete das Gericht an, aber sie glaubten nicht. Er sprach von Sünde und Verder­ben, aber sie wurden nicht überzeugt. Er redete von einem Heilmitte , aber sie beachteten es nicht. Sie waren mit ihren eigenen Plänen und Überlegungen beschäftigt und hatten keinen Raum für Gott. Sie han­delten, als ob die Erde ihnen aufgrund eines Mietvertrages für ewig gehört hätte. Sie vergaßen, daß eine Klausel mit der Übergabe ver­bunden war. Sie dachten nicht an das ernste "bis". Gott war ausge­schlossen. Alles Gebilde der Gedanken ihres Herzens war böse den ganzen Tag, und deshalb konnten sie nichts recht tun. Sie dachten, redeten und handelten nur für sich selbst. Sie folgten ihrem eigenen Willen und vergaßen Gott.

 

Der Herr Jesus Christus sagt: "Und gleichwie es in den Tagen Noahs geschah, also wird es auch sein in den Tagen des Sohnes des Men­schen." Manche möchten uns glauben machen, daß, bevor der Sohn des Menschen in den Wolken des Himmels erscheint, diese Erde von Pol zu Pol mit Gerechtigkeit erfüllt sein wird. Sie möchten uns überzeugen, daß eine Regierung der Gerechtigkeit und des Friedens als Ergebnis der menschenfreundlichen Bestrebungen unserer Tage zu erwarten ist, aber die eben angeführte kurze Schriftstelle macht solche Erwartungen zu­nichte. Wie war es in den Tagen Noahs? Herrschten Gerechtigkeit und Wahrheit auf der Erde7 War die Erde mit der Erkenntnis des Herrn erfüllt? Die Antwort der Heiligen Schrift lautet: "Und die Erde war verderbt vor Gott, und die Erde war voll Gewalttat. Und Gott sah die Erde, und siehe, sie war verderbt; denn alles Fleisch hatte seinen Weg verderbt auf Erden" (Kap. 6, 11. 12). "Also wird es auch sein in den Tagen des Sohnes des Menschen." Das ist deutlich genug. "Gerechtig­keit" und "Gewalttat" sehen sich wirklich wenig ähnlich. Auch gibt es keine Ähnlichkeit zwischen allgemeiner Gottlosigkeit und allgemeinem Frieden. Ein Herz, das dem Wort unterworfen und frei von vorgefaßten Meinungen ist, wird den wahren Charakter der Tage erkennen, die der "Ankunft des Sohnes des Menschen" unmittelbar vorangehen. Es gab zur Zeit Noahs nichts, was einem Zustand allgemeiner Gerechtigkeit und allgemeinen Friedens ähnlich gewesen wäre, und es wird auch nichts derartiges vor der Ankunft des Herrn geben.

 

Ohne Zweifel entfaltete der Mensch großen Eifer, um die Welt zu einem angenehmen Aufenthaltsort für sich zu machen, aber der Gedanke, die Erde zu einem Ort zu machen, wo Gott wohnen konnte, lag ihm völlig fern. Ebenso setzt der Mensch in der Gegenwart alle Kräfte daran, um von seinem Weg alle Steine wegzuräumen und ihn so angenehm und eben wie nur möglich zu machen. Aber das ist nicht das "Ebnen einer Straße in der Steppe für unseren Gott", noch jenes "Ebenmachen des Höckerichten, damit alles Fleisch die Herrlichkeit Jehovas sehe" (Vergl. Jes. 40, 3‑5). Die Zivilisation schreitet fort, aber Zivilisation ist keine Gerechtigkeit. Die Welt wird zubereitet und geschmückt, aber nicht um Christus zu empfangen, sondern um sie für den Antichristen einzu­richten. Der Mensch bemüht sich rege, mit einem selbstgestrickten Mäntelchen seine Blößen und Gebrechen zuzudecken, aber durch Zu­decken sind diese noch nicht beseitigt. Sie liegen nur verdeckt und wer­den in kurzem häßlicher als je wieder zum Vorschein kommen. Die "Scharlach‑Schminke" wird bald verwischt, und das "geschnitzte Zedern­holz" bald zerstört werden. Die Dämme, durch die der Mensch unver­drossen den Strom menschlicher Bosheit einzuengen sucht, werden plötzlich vor der überwältigenden Wucht weichen. Alle Anstrengungen, die leibliche, geistige und moralische Entartung der Nachkommenschaft Adams in die Grenzen zu bannen, die menschliches Wohlwollen (wenn man so will) ihr stecken, müssen unweigerlich fehlschlagen. "Das Ende alles Fleisches ist vor mich gekommen", das ist das Zeugnis Gottes. Nicht vor Menschen, sondern vor Gott ist dieses Ende gekommen. Auch wenn die Spötter fragen: "Wo ist die Verheißung seiner Ankunft? denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an" (2. Petr. 3, 4), rückt doch der Augenblick schnell heran, wo diese Spötter ihre Antwort empfangen werden. "Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb, an welchem die Himmel ver­gehen werden mit gewaltigem Geräusch, die Elemente aber im Brande werden aufgelöst und die Erde und die Werke auf ihr verbrannt wer­den" (2. Petr. 3, 10). Das ist die Antwort, die Gott auf den Spott der Kinder dieser Welt geben wird. Wie aber wird Er die Zuneigungen und Erwartungen der Kinder Gottes beantworten? Gott sei gepriesen! Ihre Aussicht ist ganz anders. Sie werden dem Bräutigam in der Luft begegnen, bevor das Böse seinen Gipfel erreicht und somit bevor das Gericht darüber hereinbricht. Die Kirche Gottes wartet nicht auf das Verbrennen der Welt, sondern auf den Aufgang des "glänzenden Morgensterns" (Offbg. 22,16).

 

Von welchem Gesichtspunkt aus wir die Zukunft auch betrachten ‑ob die Kirche in Herrlichkeit oder die Welt in Flammen, ob die Ankunft des Bräutigams oder das Einbrechen des Diebes, ob der Morgenstern oder die brennende Sonne, ob die Entrückung der Kirche oder das Kommen des Gerichts das Thema ist, das uns beschäftigt ‑ wir werden stets fühlen, wie wichtig es ist, auf das gegenwärtige Gnaden­angebot Gottes an den verlorenen Sünder achtzuhaben. "Siehe, jetzt ist der Tag des Heils" (2. Kor. 6, 2). "Gott war in Christo, die Welt mit sich selbst versöhnend, ihnen ihre Übertretungen nicht zurechnend" (2. Kor. 5, 19). jetzt will Gott versöhnen, bald wird Er richten, jetzt ist alles Gnade, dann wird alles Zorn sein, jetzt vergibt Er die Sünde durch das Kreuz, dann wird Er sie strafen durch ewige Pein! jetzt sendet Gott eine Botschaft reicher und freier Gnade aus. Er redet zu Sündern von einer durch das kostbare Opfer Christi vollbrachten Erlösung. Er versichert ihnen, daß alles erfüllt, alles vollbracht ist. Er wartet um gnädig sein zu können. Die Langmut unseres Herrn ist Errettung, denn "der Herr verzieht nicht die Verheißung, wie es etliche für einen Verzug achten, sondern er ist langmütig gegen euch, da er nicht will, daß irgend welche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen" (2. Petr. 3, 9). Welch einen Ernst verleiht das dem gegen­wärtigen Augenblick! Eine grenzenlose Gnade wird angeboten, ein grenzenloser Zorn ist im Kommen.

 

Mit welchem Interesse sollten wir auf die Entwicklung der Absichten Gottes achten! Die Schrift verbreitet so klares Licht über diese Dinge, daß wir nicht, wie ein anderer Schriftsteller gesagt hat, "gezwungen sind, die vorüberrollenden Ereignisse teilnahmslos anzustarren wie solche, die weder wissen, wo sie sind, noch wohin sie gehen". Wir sollten genau unsere Stellung kennen, sollten die Tendenz aller jetzt wirkenden Grundsätze erkennen und uns des schrecklichen Strudels bewußt sein, dein mit reißender Schnelligkeit alle Strömungen zu­fließen. Die Menschen träumen vielleicht von einem goldenen Zeitalter, der Glaube aber sieht, wie die Wolken sich am Horizont der Welt immer dichter zusammenziehen. Das Gericht naht, der Tag des Zorns rückt heran, die Tür wird bald geschlossen werden, und die "wirksame Kraft des Irrtums" (2. Thess. 2, 11) wird sich bald in ihrer furchtbaren Gewalt einstellen. Wie nötig ist es daher, einen Warnruf erschallen zu lassen und durch ein treues Zeugnis der Selbstgefälligkeit des Menschen entgegenzuwirken!

 

Kehren wir jetzt zu der Geschichte Noahs zurück und betrachten wir ihn in einer neuen Stellung. Wir sahen ihn die Arche bauen und sahen ihn in der Arche. Jetzt werden wir sehen, wie er aus der Arche heraus­tritt und in der neuen Welt*) seinen Platz einnimmt. "Und Gott ge‑

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*) Ich möchte hier einen Gedanken erwähnen, der denen vertraut ist, die sich eingehender mit dem Studium der verschiedenen Haushaltungen Gottes be­schäftigt haben. Henoch wurde entrückt bevor das Gericht hereinbrach, wäh­rend Noah durch das Gericht hindurchgeführt wurde. Nun glaubt man, in Henoch ein Bild der Versammlung oder Kirche zu sehen, die entrückt werden wird, bevor das menschliche Böse seinen Gipfel erreicht und bevor das gött­liche Gericht darüber hereinbricht. Noah andererseits wird als ein Bild des Überrestes Israels betrachtet, der durch die tiefen Wasser der Drangsal und durch das Feuer des Gerichts hindurchgehen muß und aufgrund des ewigen Bundes Gottes in die Freude der tausendjährigen Segnungen eingeführt wird. Ich teile diese Meinung vollkommen, da sie mit der Lehre der übrigen Heili­gen Schriften durchaus in Übereinstimmung steht.

 

dachte des Noah" (Kap. 8, 1). Nachdem das Gericht vorüber ist, kommt die gerettete Familie und alles, was mit ihr in Verbindung steht, in das Gedächtnis vor Gott. "Und Gott ließ einen Wind über die Erde fahren, und die Wasser sanken. Und es wurden verschlossen die Quellen der Tiefe und die Fenster des Himmels, und dem Regen vom Himmel ward gewehrt" (Kap. 8, 1. 2). Die Strahlen der Sonne begin­nen jetzt eine Welt zu beleben, die mit der Taufe des Gerichts ge­tauft worden ist. Das Gericht ist das "fremdartige Werk" Gottes (Vergl. Jes. 28, 21). Obwohl Er dadurch verherrlicht wird, findet Er doch keine Freude daran. Gepriesen sei Sein Name! Er ist stets bereit, den Platz des Gerichts zu verlassen und den Boden der Gnade zu betreten, weil Er am Erbarmen Seine Freude hat. "Und es geschah nach Verlauf von vierzig Tagen, da öffnete Noah das Fenster der Arche, das er gemacht hatte, und ließ den Raben aus; und der flog hin und wieder, bis die Wasser von der Erde vertrocknet waren" (Kap. 8, 6. 7). Der unreine Vogel entwich und fand zweifellos einen Ruheplatz auf irgendeinem treibenden Kadaver. Er kehrte nicht wieder in die Arche zurück. Die Taube verhielt sich anders. Sie "fand keinen Ruheplatz für ihren Fuß und kehrte zu ihm in die Arche zurück ... ; und er ließ die Taube aber­mals aus der Arche; und die Taube kam zu ihm um die Abendzeit, und siehe, ein abgerissenes Olivenblatt war in ihrem Schnabel" (V. 8‑11). Man kann hierin ein schönes Sinnbild der wiedergeborenen Seele sehen, die mitten in der Verwüstung ihre Ruhe und ihr Teil in Christus sucht und findet, und die zugleich das Unterpfand des Erbes ergreift ‑und dadurch den Beweis liefert, daß das Gericht vorübergegangen ist und eine erneuerte Erde in Erscheinung tritt. Der fleischliche Sinn dagegen kann in allem seine Ruhe finden, nur nicht in Christus. jede Unreinig­keit bietet ihm Nahrung. Das "Olivenblatt" hat keinen Reiz für ihn. Er findet alles was er braucht dort, wo der Tod herrscht, und er denkt daher nicht an eine neue Welt und ihre Herrlichkeiten. Ein Herz aber, das durch den Geist Gottes belehrt und geübt ist, kann nur da ruhen und sich freuen, wo Gott Ruhe und Freude findet. Es ruht in der Arche Seines Heils bis "zur Zeit der Wiederherstellung aller Dinge". Wie glücklich sind wir, wenn der Herr Jesus die bleibende Ruhe unserer Herzen bildet und wir sie nicht suchen in einer Welt, die unter dem Gericht Gottes steht! Die Taube kehrte zu Noah zurück und wartete auf ihre Zeit der Ruhe. So sollten auch wir stets unseren Platz der Gemeinschaft mit Christus einnehmen bis zu der Zeit Seiner Erhebung und Herrlichkeit in den kommenden Zeitaltern. "Denn noch über ein gar Kleines, und der Kommende wird kommen und nicht verziehen". Alles was wir dazu brauchen, ist ein wenig Ausharren. Möge der Herr unsere Herzen richten "zu der Liebe Gottes und zu dem Ausharren des Christus!"

 

"Und Gott redete zu Noah und sprach: Gehe aus der Arche" (V. 15. 16). Derselbe Gott, der gesagt hatte: "Mache dir eine Arche", und: "Gehe in die Arche", sagt jetzt: "Gehe aus der Arche". "Und Noah ging hinaus ... und baute dem HERRN einen Altar" (V. i8‑2o). Noah ge­horcht einfältig dem Wort Gottes. Wir finden hier den Gehorsam des Glaubens und den Gottesdienst des Glaubens. Die beiden Dinge gehen zusammen. Der Altar wird da errichtet, wo kurz zuvor der Ort des Todes und des Gerichts gewesen war. Die Arche hatte Noah und seine Familie wohlbehalten über die Wasser des Gerichts getragen. Sie hatte ihn aus einer alten in eine neue Welt geführt, wo er jetzt seinen Platz als Anbeter*) einnimmt. Und beachten wir, daß der HERR es war, dem er den Altar errichtete. Der Aberglaube hätte die Arche angebetet,

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*) Es ist interessant, diesen Gegenstand in Verbindung mit der bedeutungs­vollen Anordnung der Taufe zu betrachten. Ein Getaufter ist im Geist und dem Grundsatz nach durch den Glauben aus einer alten in eine neue Welt hinübergegangen, Das Wasser geht über ihn dahin, wodurch angedeutet wird, daß sein alter Mensch begraben, seine alte Natur beseitigt ist. Er ist tot. Das Fleisch mit seinen Sünden, seinen Befleckungen und Neigungen ist begraben in dem Tod Christi und kann nie wieder vor das Auge Gottes kommen.

Wenn der Gläubige aus dem Wasser herauskommt, gibt er dadurch der Wahr­heit Ausdruck, daß er ein neues Leben besitzt, das Auferstehungsleben Christi. Wie Christus aus den Toten auferstanden ist in der Macht eines neuen Lebens, nachdem Er unsere Sünden ganz weggetan hatte, so kommen auch wir aus dem Wasser hervor und geben dadurch zu erkennen, daß wir durch die Gnade Gottes und den Tod Christi in den Besitz eines neuen Lebens gekommen sind, mit dem göttliche Gerechtigkeit untrennbar verbunden ist: "so sind wir nun mit Ihm (Christus) begraben worden durch die Taufe auf den Tod, auf daß, gleichwie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, also auch wir in Neuheit des Lebens wandeln" (Röm. 6, 4; vergl. Kol. 2. und 1. Petrus 3, 18‑22). Das alles macht die Taufe zu einer bedeutungsvollen Einrichtung.

 

weil sie als Werkzeug der Errettung gedient hatte. Es besteht immer die Neigung des menschlichen Herzens, an die Stelle Gottes seine An­ordnungen zu setzen. Nun war zwar die Arche auf die ausdrückliche Anordnung Gottes hin gebaut worden, aber der Glaube Noahs erhob sich über die Arche hinaus zu Gott, der die Arche gab, und als er sie verlassen hatte, baute er einen Altar und betete Ihn an, anstatt die Arche als einen Gegenstand der Anbetung und Verehrung zu betrachten. Von der Arche ist ferner keine Rede mehr.

 

Das alles enthält eine zwar einfache, aber heilsame Lehre. In dem Augenblick, da das Herz die Wirklichkeit Gottes selbst aus dem Auge verliert, gibt es für seine Abirrungen keine Grenzen mehr. Es ist auf dem Weg zur schlimmsten Form der Abgötterei. Für das Urteil des Glaubens ist eine Anordnung nur dann wertvoll, wenn Gott sich darin in lebendiger Kraft der Seele offenbart, d. h. solange der Glaube gemäß der Bestimmung Gottes Christus darin genießen kann. Darüber hinaus hat eine Anordnung keinen Wert, und sobald sie sich auch nur im geringsten zwischen das Herz und das Werk oder die Person Christi drängt, hört sie auf, eine Anordnung Gottes zu sein, und wird zu einem Werkzeug des Teufels. Nach dem Urteil des Aberglaubens allerdings ist die Anordnung alles, und Gott wird ausgeschlossen. Man benutzt den Namen Gottes nur noch, um die Anordnung noch wichti­ger erscheinen zu lassen und ihr eine große Gewalt über das Herz und einen mächtigen Einfluß auf den Geist des Menschen zu verleihen. So kam es z. B., daß die Kinder Israel die eherne Schlange anbeteten. Das, was in der Hand Gottes ein Segensmittel für sie gewesen war, wurde ein Gegenstand abergläubischer Verehrung, sobald ihre Herzen sich vom Herrn entfernten, so daß Hiskia sie vernichten mußte. Man nannte sie "Nechustan" (Ehernes). An sich war sie ja auch nichts anderes als ein "Nechustan", ein Stück Erz. Aber indem Gott sie gebrauchte, war sie ein Mittel reicher Segnung. Der Glaube erkannte sie als das an, was Gott von ihr gesagt hatte. Der Aberglaube aber warf wie immer die Offenbarung Gottes über Bord, vergaß die wirkliche Absicht Gottes bezüglich des Gegenstandes und machte sich einen Gott daraus.

 

Liegt nicht hierin eine ernste Lehre für unsere Tage? Wir leben in einer Zeit der Anordnungen. Die Atmosphäre, die die bekennende Kirche umgibt, ist voll von Elementen einer überlieferten Religion, die die Seele von Christus und Seinem vollkommenen Heil abzieht. Die menschlichen Überlieferungen leugnen zwar nicht offen die Existenz

 

Christi oder das Kreuz, denn dann würden vielleicht manchen die Augen aufgehen. Das Böse trägt einen weit gefährlicheren Charakter: Man fügt Christus und Seinem Werk allerlei Anordnungen hinzu. Der Sünder wird nicht durch Christus allein, sondern durch Christus und die Anordnungen errettet. Aber auf diese Weise wird Christus ihm geraubt, denn es wird sich am Ende unweigerlich zeigen, daß Christus und Anordnungen im Grunde nichts anderes bedeutet als Anordnungen ohne Christus. "Wenn ihr beschnitten werdet, wird Christus euch nichts nützen" (Gal. 5, 2). Es muß entweder Christus ganz sein, oder gar nichts von Ihm. Der Teufel sagt den Menschen, daß sie Christus ehren, wenn sie viel aus Seinen Anordnungen machen, denn er weiß nur zu gut, daß sie dadurch in Wirklichkeit Christus völlig beiseite setzen und die Anordnungen vergöttern. Es kann nicht oft genug wiederholt wer­den, daß der Aberglaube aus den Anordnungen das Wesen der Sache macht, während der Unglaube die Anordnungen verwirft, daß aber der Glaube sie gebraucht gemäß ihrer Einsetzung durch Gott.

 

Doch habe ich diesen Teil unserer Betrachtung bereits weiter ausge­dehnt, als ich beabsichtigte. Ich möchte daher nur noch einen flüchtigen Blick auf Kap. 9 werfen. Wir finden in diesem Kapitel den neuen Bund, unter den die Schöpfung gestellt wurde, und zugleich das Zeichen dieses Bundes. "Und Gott segnete Noah und seine Söhne und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde" (Kap. 9, 1). So befiehlt also Gott dem Menschen bei seinem Eintritt in die wiederhergestellte Welt, nicht einen Teil der Erde, sondern die ganze Erde zu bevölkern. Nach Seinem Willen sollten sich die Menschen über die ganze Oberfläche der Erde ausbreiten und sich nicht auf ihre ver­einten Kräfte stützen. Wir werden in Kapitel 11 sehen, wie wenig der Mensch dieses Gebot beachtet hat.

 

Nach der Flut wird die Furcht vor dem Menschen in die Seele aller anderen Geschöpfe gelegt, so daß die durch die niederen Arten der Schöpfung dem Menschen geleisteten Dienste die notwendige Folge der Furcht sind. Im Leben und im Tod sind die Tiere zum Dienst des Menschen bestimmt. Jedoch wird die ganze Schöpfung durch den ewigen Bund Gottes von der Furcht vor einer zweiten Flut befreit. Niemals wird das Gericht eine solche Form wieder annehmen. "Die damalige Welt ging unter, vom Wasser überschwemmt. Die jetzigen Himmel aber und die Erde sind durch sein Wort aufbewahrt, für das Feuer behalten auf den Tag des Gerichts und des Verderbens der gottlosen Menschen' (2. Petr. 3, 6. 7). Einst wurde die Erde durch Wasser gereinigt, zum zweiten Mal wird sie durch Feuer gereinigt werden; und bei dieser zweiten Reinigung wird niemand entfliehen, außer denen, die ihre Zuflucht genommen haben zu ihm, der durch die tiefen Wasser des Todes hindurchgegangen ist und der in dem Feuer des Gerichts Gottes gestanden hat.

 

"Und Gott sprach: Dies ist das Zeichen des Bundes ... meinen Bogen setze ich in die Wolken ... Und es wird geschehen, wenn ich Wolken über die Erde führe, so soll der Bogen in den Wolken erscheinen, und ich werde meines Bundes gedenken" (Kap. 9, 12‑15). Die Sicherheit der ganzen Schöpfung vor einer zweiten Flut ruht auf der ewigen Festigkeit des Bundes Gottes, dessen Zeichen der Regenbogen ist, und es ist beruhigend zu wissen, daß Gott den Bogen sieht, wenn er in den Wolken erscheint, so daß die Sicherheit des Menschen nicht von seinem eigenen, unvollkommenen Gedächtnis, sondern von dem Gedächtnis Gottes abhängt. "Ich‑, sagt Gott, "werde meines Bundes gedenken." Wie wunderbar ist es, darüber nachzudenken, an was Gott sich erinnern will, und an was Er sich nicht erinnern will! Er will Seines Bundes gedenken, aber der Sünden Seines Volkes will Er nie mehr gedenken. Das Kreuz, das den Bund bestätigt, nimmt die Sünde weg, und der Glaube daran gibt dem beunruhigten Herzen und dem beschwerten Ge­wissen Frieden.

 

"Und es wird geschehen, wenn ich Wolken über die Erde führe, so soll der Bogen in den Wolken erscheinen.., " (V. 14). Welch ein schönes Bild! Die Strahlen der Sonne, die mit größerer Schönheit von den Wolken reflektiert werden, die das Gericht androhen, beruhigen das Herz, da sie von dem Bund Gottes, dem Heil Gottes und dem Gedächt­nis Gottes reden. Wie deutlich erinnert uns dieser Bogen in den Wolken an Golgatha! Dort sehen wir eine finstere und schwere Wolke, die sich über dem heiligen Haupt des Lammes Gottes entlud, eine so dunkle Wolke, daß sogar mitten am Tag "eine Finsternis kam über das ganze Land" (Luk. 23, 44). Doch Gott sei gepriesen! Der Glaube entdeckt in dieser finsteren Wolke den glänzendsten und schönsten Bogen, der je erschienen ist. Er sieht, wie die hellen Strahlen der ewigen Liebe Gottes das schreckliche Dunkel durchdringen und von der Wolke zurückge­worfen werden. Er hört g1Cichsam mitten aus der Finsternis die Worte: "Es ist vollbracht!" Und er erkennt in diesen Worten die vollkommene Bestätigung Gottes ewigen Bundes, sowohl mit der Schöpfung, als auch mit den Stämmen Israels und mit der Kirche Gottes.

 

Der letzte Teil dieses Kapitels gibt uns ein demütigendes Schauspiel. Der Herr der Schöpfung versteht es nicht, sich selbst zu beherrschen. "Und Noah fing an, ein Ackersmann zu werden und pflanzte einen Weinberg. Und er trank von dem Weine und ward trunken, und er entblößte sich in seinem Zelte" (Kap. 9, 20. 21). Welch ein Zustand für Noah, den einzigen gerechten Mann, den Prediger der Gerechtigkeit! Ach, was ist der Mensch! Wo es auch sei, immer und überall entdecken wir nur seine Fehler. In Eden, auf der wiederhergestellten Erde, in Kanaan, in der Kirche, in der Gegenwart tausendjähriger Segnung und Herrlichkeit, überall und in allen Dingen versagt er. Es ist nichts Gutes in ihm. Mögen seine Vorrechte noch so groß, mag seine Stellung noch so begehrenswert sein, er kann nur Fehler und Sünden hervorbringen.

 

Wir müssen Noah von zwei Gesichtspunkten aus betrachten, nämlich als Bild und als Mensch. Während das Bild voll Schönheit und Bedeutung ist, zeigt sich der Mensch voll Unvermögen und Torheit. Dennoch hat der Heilige Geist die Worte niederschreiben lassen: "Noah war ein gerechter, vollkommener Mann unter seinen Zeitgenossen; Noah wan­delte mit Gott" (Kap. 6, 9). Die Gnade Gottes hatte alle seine Sünden zugedeckt und ihn mit einem fleckenlosen Kleid der Gerechtigkeit be­kleidet; "er fand Gnade in den Augen Jehovas" (Kap. 6, 8). Selbst als Noah seine Nacktheit zeigte, sah Gott sie nicht, denn Er sah ihn nicht in der Schwachheit seines eigenen Zustandes, sondern in der Kraft einer göttlichen und ewigen Gerechtigkeit. Das läßt uns auch sehen, wie verkehrt die Handlungsweise Hams war, wie weit er von Gott ent­fernt und wie unbekannt er mit den Gedanken Gottes war. Scheinbar hatte er nie etwas von dem Glück des Menschen verspürt, "dessen Übertretung vergeben, dessen Sünde zugedeckt ist"( Ps. 32, 1). Sein und Japhet dagegen geben uns in ihrem Verhalten ein schönes Beispiel von der Art und Weise, wie Gott die Nacktheit des Menschen behan­delt, und beide erhalten einen Segen, während Ham einen Fluch da­vonträget.

 

Kapitel 10

 

DIE FAMILIEN DER SÖHNE NOAHS

 

Dieses Kapitel berichtet über die Nachkommen der drei Söhne Noahs. Besonders wird Nimrod hervorgehoben, der Gründer des Königreichs Babel oder Babylon, ein Name, der einen wichtigen Platz in dem Buch Gottes einnimmt. Babylon ist ein bekannter Name und bezeichnet einen wohlbekannten Grundsatz und Einfluß. Vom 10. Kapitel des 1. Buches Mose bis zum 18. Kapitel der Offenbarung taucht Babylon immer wieder auf, und zwar stets als entschiedene Feindin derer, die gerade den Platz eines öffentlichen Zeugnisses für Gott einnehmen. Das heißt natürlich nicht, daß wir das Babylon des Alten Testaments mit dem der Offenbarung als gleichbedeutend betrachten. Ich glaube' das erstere ist eine Stadt, das letztere ein System. Aber beide üben einen mächtigen Einfluß gegen das Volk Gottes aus. Kaum hatten Israels Kämpfe mit den Völkern Kanaans begonnen, da brachte auch schon ein babylonischer "Mantel" (siehe Jos. 7) Verunreinigung und Trübsal, Niederlage und Verwirrung in das Heer. Dies ist die älteste Nachricht von dem verderblichen Einfluß Babylons auf das Volk Gottes' aber jeder aufmerksame Leser der Heiligen Schrift weiß, welch einen Platz Babylon in der ganzen Geschichte Israels einnimmt.

 

Es ist jedoch hier nicht der Platz, um die vielen Stellen einzeln anzu­führen, in denen von Babylon die Rede ist. Ich möchte nur darauf auf­merksam machen, daß jedesmal, wenn Gott ein Zeugnis auf der Erde aufrichtet, Satan ein Babylon bereit hat, um dieses Zeugnis zu stören und zu verderben. Verbindet Gott Seinen Namen mit einer Stadt auf der Erde, so nimmt Babylon die Form einer Stadt an, und verbindet Er Seinen Namen mit der Kirche oder Versammlung, so nimmt Babylon die Form eines verderbten Religionssystems an, genannt die "große Hure", "die Mutter der Huren und der Greuel der Erde" usw. (Offbg. 17, 1‑6 ff). Mit einem Wort, das Babylon Satans erscheint stets als ein von seiner Hand zubereitetes Werkzeug, das den Zweck hat, in Israel oder jetzt in der Kirche den Wirkungen Gottes entgegenzuarbeiten. Im ganzen Alten Testament sieht man Israel und Babylon bildlich in zwei gegenüberliegenden Waagschalen. Steigt die eine, so sinkt die andere. Als Israel daher als Zeugnis des HERRN völlig versagte, "zermalmte der König von Babel seine Knochen" (Jer. 50, 17) und führte das Volk gefangen weg, und die Gefäße des Hauses Gottes, die in der Stadt Jerusalem hätten bleiben sollen, wurden fortgeschafft nach der Stadt Babylon. Jesaja lenkt unseren Blick auf die entgegengesetzte Seite und schildert uns in herrlichen Farben ein Bild, in dem der Stern Israels aufsteigt, derjenige Babylons aber versinkt. "Und es wird geschehen, an dem Tage, an welchem der HERR dir Ruhe schafft von deiner Mühsal und von deiner Unruhe und von dem harten Dienst, welchen man dir auferlegt hat, da wirst du diesen Spruch anheben über den König von Babel und sprechen: Wie hat aufgehört der Bedrücker, auf­gehört die Erpressung! ... Seit du daliegst, kommt niemand mehr herauf, uns abzuhauen" (Jes. 14, 3‑8).

 

Soviel über das alttestamentliche Babylon. Der Charakter und das Ende des Babylon der Offenbarung wird im 17. und 18. Kapitel dieses Buches geschildert. Babylon erscheint dort in grellem Gegensatz zu der Braut, dem Weib des Lammes. Es wird am Ende wie ein großer Mühlstein ins Meer geworfen, und dann kommt die Hochzeit des Lammes mit großer Segnung und Herrlichkeit.

 

"Und Kusch zeugte Nimrod; der fing an, ein Gewaltiger zu sein auf der Erde. Er war ein gewaltiger Jäger vor dem HERRN; darum sagt man: Wie Nimrod, ein gewaltiger Jäger vor dem HERRN! Und der Anfang seines Reiches war Babel und Erek und Akkad und Kalne im Lande Sinear" (V. 8‑10). Hier haben wir den Charakter des Gründers Babylons. Er war ein "Gewaltiger auf der Erde", ein "gewaltiger Jäger vor dem HERRN". Das ist der Ursprung Babylons, und durch das ganze Wort Gottes hindurch entspricht der Charakter Babylons diesem Ursprung in bemerkenswerter Weise. Stets erscheint es als ein mächti­ger Einfluß auf der Erde, der ununterbrochen im Streit liegt mit allem, was seinen Ursprung im Himmel hat, und erst wenn dieses Babylon beseitigt ist, wird im Himmel der Ruf laut: "Halleluja! denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat die Herrschaft angetreten" (Offbg. 19,6).

 

Dann wird das gewaltige jagen Babylons, sei es auf die Bezwin­gung wilder Tiere oder auf die Zerstörung der Seelen gerichtet, für immer ein Ende genommen haben. Alle Macht Babylons, seine Herr­lichkeit, sein Glanz und Stolz, sein Reichtum und seine Pracht, seine gewaltige Anziehungskraft und sein weitverbreiteter Einfluß, alles wird ewig vorbei sein. Babylon wird weggefegt werden mit dem Besen des Verderbens und hinabgestoßen in das Dunkel, den Schrecken und die Trostlosigkeit einer ewigen Nacht.

 

Kapitel 11

 

DER TURMBAU ZU BABEL

 

"Und die ganze Erde hatte eine Sprache und einerlei Worte. Und es geschah, als sie nach Osten zogen, da fanden sie eine Ebene im Lande Sinear und wohnten daselbst ... Und sie sprachen: Wohlan, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm, dessen Spitze an den Himmel reiche, und machen wir uns einen Namen, daß wir nicht zerstreut werden über die ganze Erde!" (V. 1‑4). Das menschliche Herz sucht immer einen Namen, ein Teil und ein Zentrum auf der Erde. Es kennt nicht die Sehnsucht nach dem Himmel, nach dem Gott des Himmels oder nach der Herrlichkeit des Himmels. Wenn es sich selbst überlassen bleibt, sucht es immer seine Befriedigung in dieser niederen Welt, "unterhalb des Himmels". Um das Herz des Menschen über die gegenwärtige Welt zu erheben, ist die Berufung Gottes nötig und Seine Offenbarung und Seine Macht.

 

In der Szene, die sich hier vor uns auftut, suchen wir vergeblich nach einer Anerkennung Gottes, da ist kein Aufschauen zu Ihm oder ein Warten auf Ihn. Auch kam der Mensch nicht auf den Gedanken, ein Haus zu bauen, in dem Gott wohnen konnte, oder zu diesem Zweck Material zu sammeln. Der Name Gottes wird nicht einmal erwähnt. Sich selbst einen Namen zu machen, das war die Absicht des Menschen in der Ebene von Sinear. Und seitdem haben sich die Ziele des Menschen nicht geändert. Ob wir ihn in der Ebene von Sinear oder an den Ufern des Tibers sehen, stets finden wir ihn als ein selbstsüchtiges Geschöpf, das sich selbst erheben und Gott ausschließen möchte. In allen seinen Absichten, Grundsätzen und Wegen zeigt sich eine traurige Überein­stimmung: Er will Gott ausschließen und sich selbst erheben.

 

Unter welchem Aspekt wir das babylonische Bündnis auch betrachten, es ist wichtig, darin die frühe Entwicklung der Fähigkeiten und Kräfte des von Gott entfernten Menschen zu sehen. Die Geschichte des Men­schen gibt uns viele Beispiele für seinen ausgeprägten Hang nach Bündnissen und Vereinigungen. Fast in allen Fällen sucht der Mensch die Erfüllung seiner Absichten auf diesem Weg zu erreichen. Ob es sich um menschenfreundliche Bestrebungen, um Religion oder um Politik handelt, nichts kann ohne einen organisierten Zusammenschluß von Menschen geschehen. Es ist nützlich, diesen Grundsatz zu verste­hen, den Beginn seiner Wirksamkeit in der Ebene von Sinear zu be­achten, denn dort sehen wir das früheste Muster einer menschlichen Vereinigung. Die Schrift teilt uns nicht umsonst so ausführlich den Plan und Zweck dieser Vereinigung sowie ihre Vernichtung mit. Auch heute gibt es überall Vereine ‑Lind Vereinigungen, die so zahlreich sind wie die Pläne des menschlichen Herzens. Aber es ist aufschlußreich, daß die erste dieser Verbindungen jene Vereinigung in Sinear war, und daß sie zu dem Zweck geschlossen wurde, die menschlichen Interessen zu fördern und den Namen des Menschen groß zumachen, ein Zweck, dem auch die heutige Zeit ihre ganze Aufmerksamkeit widmet. Doch der Glaube entdeckt einen großen Fehler in allen diesen Vereinigungen: Gott wird ausgeschlossen. Und je höher sich der Mensch unter Aus­schluß Gottes erhebt, um so tiefer wird er in Verwirrung und Verder­ben hinabstürzen. Der Christ sollte nur eine Vereinigung kennen: Die Kirche des lebendigen Gottes, die zu einem Leib gebildet ist durch den Heiligen Geist, der als Zeuge der Verherrlichung Christi vom Himmel herniederkam, um die Gläubigen zu einem Leib zu taufen und sie zu der Wohnstätte Gottes zu machen. Babylon steht in jeder Beziehung in schroffem Gegensatz hierzu und wird am Ende, wie wir in Offen­barung 18 lesen, "eine Behausung von Dämonen" werden.

 

"Und der HERR sprach: Siehe, sie sind ein Volk, und haben eine Sprache, und dies haben sie angefangen zu tun; und nun wird ihnen nichts verwehrt werden, was sie zu tun ersinnen. Wohlan, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache daselbst verwirren, daß sie einer des anderen Sprache nicht verstehen! Und der HERR zerstreute sie von dannen über die ganze Erde; und sie hörten auf, die Stadt zu bauen" (V. 6‑8). Das war das Ende der ersten Vereinigung des Menschen, und so wird es immer sein.

 

Wie ganz anders ist es, wenn Gott eine Vereinigung bewirkt! In Apg. 2 sehen wir den Heiligen Geist in unendlicher Gnade herniederkommen, um dem Menschen dort zu begegnen, wohin die Sünde ihn gebracht hatte, Die Boten der Gnade wurden durch den Heiligen Geist befähigt, ihre Nachricht so zu verbreiten, daß jeder Zuhörer sie in seiner Mutter­sprache hören konnte. Welch ein Beweis von dem Verlangen Gottes, das Herz des Menschen durch den wunderbaren Bericht von der Gnade zu erreichen!

 

Das Gesetz wurde nicht in dieser Weise von dem "im Feuer brennen­den Berge‑ herab verkündigt. Als Gott erklärte, was der Mensch sein sollte, redete Er nur in einer Sprache, als Er aber offenbarte, was Er war, bediente Er Sich vieler Sprachen. Die Gnade Gottes durchbrach die Schranken, die Hochmut und Torheit des Menschen aufgerichtet hatten, damit jeder die gute Nachricht vom Hell, die "großen Taten Gottes" (Apg. 2, 11) hören und verstehen konnte. Und zu welchem Zweck geschah dies? Eben deshalb, um Menschen zu vereinigen, und zwar auf Gottes Grundlage, um Gottes Mittelpunkt und nach Gottes Prinzipien. Es geschah, um ihnen in Wirklichkeit eine Sprache, einen Mittelpunkt, eine Hoffnung und ein Leben zu schenken, um sie so zu versammeln, daß sie nie wieder zerstreut oder verwirrt werden könnten. Es geschah, um ihnen einen Namen und eine Wohnung von ewiger Dauer zu geben, um ihnen einen Turm und eine Stadt zu bauen, deren Spitze nicht nur bis an den Himmel reicht, sondern deren unerschütterliche Grundlage durch die Hand Gottes selbst im Himmel gelegt ist. Und es geschah, um sie um den auferstandenen und verherrlichten Christus zu sammeln und sie alle zu vereinigen zu dem großen Zweck, Ihn zu verherrlichen und anzubeten.

 

In Offbg. 7, 9 sehen wir eine unzählige Menge "aus jeder Nation und aus Stämmen und Völkern und Sprachen" vor dem Lamm stehen und alle bringen wie aus einem Mund Ihm Lob und Anbetung dar. So gibt es eine lehrreiche und interessante Verbindung zwischen den drei Schriftstellen, die uns gerade beschäftigen. In 1. Mose 11 sind die ver­schiedenen Sprachen ein Ausdruck des Gerichts Gottes, in Apg. 2 sind sie ein Beweis der Gnade, und in Offbg. 7 sehen wir alle diese Sprachen in Herrlichkeit um das Lamm versammelt. Wie viel besser ist es daher, einen Platz in der Vereinigung Gottes zu finden, als in der Vereinigung des Menschen! Die Vereinigung Gottes endet in Herrlich­keit, die des Menschen in Verwirrung. Die eine hat die Verherrlichung Christi zum Zweck, die andere die Verherrlichung des Menschen in der einen oder anderen Form.

 

Möge der Herr uns schenken, alle diese Dinge in der Kraft des Glaubens zu erfassen! Denn nur so können sie unseren Seelen Gewinn bringen.

 

Die interessantesten Wahrheiten und die gründlichste Schriftkenntnis lassen das Herz kalt, wenn wir nicht Christus in den Schriften suchen und finden. Und wenn wir Ihn gefunden haben und wir uns durch den Glauben von Ihm nähren, so empfangen wir die Frische und Kraft, die wir in diesen Tagen der erstarrten Form so sehr brauchen. Was ist der Wert einer trockenen Orthodoxie, wenn nicht ein lebendiger Christus in der ganzen mächtigen Anziehungskraft Seiner Person gekannt wird? Ohne Zweifel ist die gesunde Lehre unschätzbar wichtig, und jeder treue Diener Christi wird sich berufen fühlen, "das Bild gesunder Worte festzuhalten" (2. Tim. 1, 13), aber schließlich ist doch ein le­bendiger Christus Seele und Leben, Wesen und Wirklichkeit aller ge­sunden Lehre. Möchten wir durch die Kraft des Heiligen Geistes mehr Schönheit und Herrlichkeit in Christus erblicken, um so völlig befreit zu werden von dem Geist und den Grundsätzen Babylons!

 

Den Rest des Kapitels werden wir in Verbindung mit dem nächsten Abschnitt unseres Buches betrachten.

 

Kapitel 12

 

ABRAHAMS BERUFUNG UND AUSZUG

 

Das 1. Buch Mose behandelt hauptsächlich die Geschichte der sieben Männer Abel, Henoch, Noah, Abraham, Isaak, Jakob und Joseph, und wir sehen in der Geschichte jedes dieser Männer eine besondere Wahrheit dargestellt. So fanden wir z. B. in Abel die große Grundwahr­heit, daß der Mensch Gott aufgrund einer im Glauben angenommenen Sühnung nahen kann. Henoch zeigt uns das besondere Teil und die Hoffnung der himmlischen Familie, während Noah uns das Schicksal der irdischen Familie vor Augen stellt. Henoch wurde vor dem Gericht in den Himmel aufgenommen, Noah durch das Gericht hindurch auf eine wiederhergestellte Erde gebracht. So haben wir in jedem dieser Männer eine bestimmte Seite der Wahrheit und infolgedessen auch eine be­stimmte Phase des Glaubens. Der Leser kann diesen Gegenstand in Verbindung mit Hebr. 11 weiter verfolgen, und sicher wird seine Mühe reichlich belohnt werden.

 

Wenn wir Kapitel 12, 1 und 11, 31 mit Apg. 7, 2‑4 vergleichen, so lernen wir eine Wahrheit von großem praktischen Wert für die Seele. "Und der HERR sprach zu Abraham: Gehe aus deinem Lande und aus deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause, in das Land, das ich dir zeigen werde" (V. 1). Diese eindeutige Aufforderung Gottes war dazu bestimmt, auf das Herz und Gewissen Abrahams zu wirken. In Apg. 7, 2‑4 lesen wir: "Der Gott der Herrlichkeit erschien unserem Vater Abraham, als er in Mesopotamien war, ehe er in Haran wohnte, und sprach zu ihm: Geh aus deinem Lande und aus deiner Verwandt­schaft, und komm in das Land, das ich dir zeigen werde. Da ging er aus dem Lande der Chaldäer und wohnte in Haran; und von da übersiedelte er ihn, nachdem sein Vater gestorben war, in dieses Land, in welchem ihr jetzt wohnet". Das Ergebnis dieser Aufforderung finden wir in 1. Mose 11, 31. 32: "Und Tarah nahm seinen Sohn Abram,... und Sarai, seine Schwiegertochter, das Weib seines Sohnes Abram; und sie zogen miteinander aus Ur in Chaldäa, um in das Land Kanaan zu gehen; und sie kamen bis Haran und wohnten daselbst ... und Tarah starb in Haran". Nehmen wir diese Stellen zusammen, so sehen wir daraus, daß die natürlichen Bande das Herz Abrahams hinderten, dem Ruf Gottes voll zu entsprechen. Obwohl er nach Kanaan gerufen worden war, zögerte er dennoch in Haran, bis jenes Band durch den Tod zerrissen wurde. Dann erst machte er sich auf den Weg nach dein Ort, wohin der "Gott der Herrlichkeit" ihn gerufen hatte.

 

Das hat eine tiefe Bedeutung. Die Einflüsse der Natur stehen der Ver­wirklichung und praktischen Kraft der "Berufung Gottes" stets feindlich gegenüber. Leider sind wir so sehr geneigt, einen niedrigeren Boden einzunehmen, als den, der unserer Berufung entspricht. Es ist daher große Einfalt und Lauterkeit des Glaubens nötig, um die Seele bis zur Höhe der Gedanken Gottes zu erheben und um uns die Dinge anzu­eignen, die Er uns offenbart.

 

Das Gebet des Paulus in Eph. 1, 15‑22 zeigt uns, wie klar er durch den Heiligen Geist die Schwierigkeiten erkannte, mit denen die Kirche beim Ergreifen der "Hoffnung der Berufung Gottes und des Reichtums der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen" zu kämpfen haben würde. Es ist klar, daß wir nicht fähig sind, "dieser Berufung würdig zu wan­deln", wenn wir sie nicht kennen. Wir müssen wissen, wohin wir be­rufen sind, bevor wir hingehen können. Wäre Abraham sich ganz be­wußt gewesen, daß Gott ihn nach Kanaan berufen hatte, und daß dort sein Erbe lag, so wäre es ihm nicht möglich gewesen, in Haran zu bleiben. So ist es auch mit uns. Wenn uns der Heilige Geist Verständnis darüber gegeben hat, daß wir eine himmlische Berufung haben, und daß unsere Heimat, unser Teil, unsere Hoffnung und unser Erbe droben sind, wo "Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes", so werden wir niemals danach jagen, eine angesehene Stellung in der Welt zu bekommen oder Schätze auf der Erde zu sammeln.

 

Die himmlische Berufung ist kein leeres Dogma oder eine kraftlose Theorie. Sie ist entweder eine absolute Wirklichkeit oder gar nichts. War etwa die Berufung Abrahams nach Kanaan reine Theorie, die er erörtern konnte, während er gleichzeitig in Haran blieb? Nun, sie war eine göttliche Wahrheit. Abraham war nach Kanaan berufen, und Gott konnte seine Unterbrechung auf dein Weg dahin nicht billigen. Wenn wir die Anerkennung und Gegenwart Gottes wünschen, müssen wir im Glauben Gottes Ruf folgen, mit anderen Worten, wir müssen in Erfahrung, Handlungsweise und Charakter den Punkt zu erreichen suchen, zu dem Gott uns berufen hat. Und dieser Punkt ist die völlige Gemeinschaft mit Seinem Sohn, Gemeinschaft mit Ihm in Seiner Ver­werfung auf der Erde, und Gemeinschaft mit Ihm in Seiner Annahme im Himmel. Wie nun bei Abraham der Tod das Band zerriß, durch das die Natur ihn in Haran zurückhielt so bricht auch bei uns der Tod die Kette, die uns an die gegenwärtige Welt fesselt. Wir müssen die Wahrheit verwirklichen, daß wir mit Christus, unserem Haupt und Stellvertreter, gestorben sind, daß unser Platz in der Welt der Vergan­genheit angehört, daß das Kreuz Christi für uns dasselbe ist, was einst das Rote Meer für Israel war, nämlich eine ewige Trennung zwischen uns und dem Land des Todes und des Gerichts. Nur so werden wir fähig sein, "würdig zu wandeln der Berufung, mit welcher wir berufen worden sind" (Eph. 4,1), würdig der hohen und himmlischen Berufung, der "Berufung Gottes in Christo Jesu".

 

Wir wollen uns einen Augenblick mit den beiden wesentlichen Seiten des Kreuzes Christi befassen. Das Kreuz ist die Grundlage unserer An­betung und unseres Dienstes, unseres Friedens und unseres Zeugnisses, unserer Beziehung zu Gott und unserer Beziehungen zu der Welt. Wenn ich als überführter Sünder meinen Blick auf das Kreuz des Herrn Jesus Christus richte, so erkenne ich darin die ewige Grundlage meines Frie­dens. Ich sehe meine "Sünde' ihrem Grundsatz nach und in ihrer Wur­zel gerichtet, und ich sehe meine "Sünden" getragen. Ich sehe, daß Gott „für mich" ist, und zwar gerade in dem Zustand, in dem ich mich nach der Sprache meines überführten Gewissens befinde. Das Kreuz offen­bart Gott als den Freund des Sünders. Es offenbart Ihn in dem wunder­baren Charakter eines gerechten Rechtfertigers des gottlosen Sünders. Schöpfung und Vorsehung hätten das niemals tun können. In beiden kann ich ohne Zweifel die Macht, Majestät und Weisheit Gottes er­kennen. Aber was würde aus mir werden, wenn alle diese Dinge sich gegen mich richteten? Und für sich allein betrachtet, müssen sie gegen mich sein, weil ich ein Sünder bin.

 

Am Kreuz aber sehe ich, wie Gott sich in einer Weise mit der Sünde be­schäftigt, daß Er sich selbst unendlich verherrlicht. Ich sehe hier die majestätische Entfaltung und die vollkommene Harmonie aller göttli­chen Eigenschaften. Ich sehe eine Liebe, die mein Herz überzeugt und gewinnt und es in dem Maße von jedem anderen Gegenstand abzieht ' wie ich diese Liebe verwirkliche. Ich sehe eine Weisheit, welche die Teufel zum Schweigen bringt und die Engel in Erstaunen versetzt. Ich sehe eine Heiligkeit, die die Sünde abschafft und zugleich den stärksten Ausdruck des Abscheus Gottes gegen sie zu erkennen gibt. Ich sehe endlich eine Gnade, die den Sünder in die Gegenwart Gottes Selbst versetzt. Wo sonst könnte ich alle diese Dinge erblicken, als am Kreuz? Nirgends finden wir die beiden Wahrheiten: Herrlichkeit Gott in der Höhe!" und: "Friede auf Erden!" so herrlich vereinigt wie am Kreuz.

 

Wie kostbar ist es daher, das Kreuz von diesem ersten Gesichtspunkt aus zu sehen, als Grundlage des Friedens für den Sünder, als Grund­lage seiner Anbetung und seiner ewigen Gemeinschaft mit dem Gott, der sich dort in so herrlicher und gesegneter Weise geoffenbart hat! Wie kostbar ist es für Gott, da es für Ihn eine gerechte Grundlage geschaffen hat, auf der Er seine Vollkommenheit entfalten und mit dem Sünder nach der ganzen Fülle Seiner Gnade handeln kann! Das Kreuz hat für Gott einen so hohen Wert, daß alles, was Er von Anbeginn gesagt und getan hat, nur den Beweis liefert, daß das Kreuz immer den ersten Platz in Seinem Herzen einnahm. Sein teurer, vielgeliebter Sohn sollte dort hängen zwischen Himmel und Erde, als Gegenstand der Be­schimpfung und der Leiden, womit Menschen und Teufel Ihn überhäu­fen konnten, weil es Seine Freude war, den Willen Seines Vaters zu tun und die Kinder Seiner Gnade zu erlösen. In Ewigkeit wird das Kreuz, als der vollkommene Ausdruck Seiner Liebe, den großen Mittel­punkt bilden.

 

Auch als Grundlage unserer Jüngerschaft, unseres Dienstes und Zeugnis­ses erfordert das Kreuz unsere ganze Aufmerksamkeit. Dasselbe Kreuz das mich mit Gott in Verbindung bringt, trennt mich von der Welt. Ein Gestorbener kann mit der Welt nichts mehr zu tun haben, und daher ist der Gläubige, weil er mit Christus gestorben ist, fertig mit der Welt. Er ist der Welt und die Welt ist ihm gekreuzigt (Gal. 6, 14). Weil er mit Christus auferstanden ist, ist er mit Gott verbunden in der Macht eines neuen Lebens und einer neuen Natur. Der Gläubige, der auf diese Weise untrennbar mit Christus verbunden ist, hat teil an Seiner Annahme bei Gott und an Seiner Verwerfung von seiten der Welt. Diese beiden Dinge gehen zusammen. Das erste macht ihn zu einem Anbeter und Himmelsbürger, das zweite zu einem Zeugen und Fremdling auf der Erde. Jenes führt ihn innerhalb des Vorhangs ein, dieses stellt ihn an den Platz außerhalb des Lagers. Das eine ist so voll­kommen wie das andere. Wenn sich das Kreuz zwischen mich und meine Sünden gestellt und mir den Platz des Friedens mit Gott ge­schenkt hat, so hat es sich auch zwischen mich und die Welt gestellt und mir mit Christus den Platz der Verwerfung und der Feindschaft von seiten der Welt angewiesen. Zugleich hat es in einem anderen Sinn aus mir einen demütigen und ausharrenden Zeugen von der kost­baren, unergründlichen, ewigen Gnade gemacht, die das Kreuz vor unsere Augen stellt.

 

Der Gläubige sollte diese beiden Seiten des Kreuzes Christi erkennen und klar unterscheiden. Er sollte nicht versuchen, die Segnungen zu ge­nießen, während er die Pflicht versäumt. Wenn sein Ohr geöffnet wor­den ist, die Stimme innerhalb des Vorhangs zu hören, so sollte es auch geöffnet sein, diese Stimme außerhalb des Lagers zu vernehmen. Wenn er die am Kreuz vollbrachte Versöhnung angenommen hat, sollte er auch nicht vor der Verwerfung zurückschrecken, die sie notwendiger­weise mit sich bringt. Ist es doch unser Vorrecht, nicht nur mit der Sünde, sondern auch mit der Welt abgeschlossen zu haben. Das alles ist in der Lehre vom Kreuz eingeschlossen, und darum konnte der Apostel sagen: "Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch den mir die Welt ge­kreuzigt ist, und ich der Welt" (Gal. 6, 14). Paulus betrachtete die Welt als eine Sache, die nur wert ist, ans Kreuz genagelt zu werden, und die Welt hat, indem sie Christus kreuzigte, alle diejenigen gekreuzigt, die Sein Eigentum waren. Laßt uns diese Wahrheit mit tiefem Ernst und unter Gebet betrachten, und möchte der Heilige Geist uns die Kraft schenken, die praktische Bedeutung der beiden Seiten des Kreu­zes zu verwirklichen! Doch kehren wir jetzt zu unserem Thema zurück.

 

Es wird uns nicht Mitgeteilt, wie lange Abraham in Haran blieb. Gott wartete jedoch gnädig auf Seinen Diener, bis er frei von allen Fesseln Seinem Befehl völlig gehorchte. Eine Anpassung des Befehls an die natürlichen Umstände, in denen Abraham sich befand, war unmöglich. Gott liebt Seine Diener viel zu sehr, als daß Er sie um den vollen Segen eines bedingungslosen Gehorsams bringen könnte. Abraham empfing keine neue Offenbarung während seines Aufenthaltes in Haran. Es ist gut, das zu beachten. Wir müssen nach dem uns gegebe­nen Licht handeln, dann wird Gott uns mehr geben. "jedem, der da hat, wird gegeben werden." Das ist Gottes Grundsatz. jedoch wird Gott uns auf dem Weg aufrichtiger Nachfolge niemals wie etwas Lebloses im Schlepptau führen. Nein, Er zieht uns den Pfad entlang, um uns zu unaussprechlichem Segen in Ihm Selbst zu führen. Und wenn wir nicht verstehen, daß es zu unserem Vorteil ist, wenn wir alle Schranken der Natur durchbrechen, um Gottes Ruf zu folgen, so vernachlässigen wir die Gnade, die uns geschenkt ist. Unsere Herzen begreifen oft wenig von diesen Dingen. Wir beginnen damit, die Opfer, Schwierigkeiten und Hindernisse zu erwägen, anstatt mit Eifer den Pfad des Gehorsams zu laufen, weil wir Den kennen und lieben, dessen Ruf unser Herz er­reicht hat.

 

Jeder Schritt auf dem Weg des Gehorsams bringt wahren Segen, weil der Gehorsam die Frucht des Glaubens ist und der Glaube uns in lebendige Verbindung und Gemeinschaft mit Gott versetzt. Wenn wir den Gehorsam von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, so werden wir leicht erkennen, wie stark er sich von der Gesetzlichkeit unter­scheidet, die den mit der ganzen Last seiner Sünden beladenen Men­schen dahin bringt, Gott durch Beobachtung des Gesetzes dienen zu wollen, was zur Folge hat, daß die Seele dauernd mit Furcht erfüllt ist, und anstatt den Weg des Gehorsams zu gehen, nicht einmal den ersten Schritt auf diesem Weg getan hat. Wahrer Gehorsam dagegen ist die Offenbarung einer neuen, durch die Gnade geschenkten Natur. Gott gibt in Seiner Güte der neuen Natur Richtlinien, und diese göttliche Natur wird nie in Gesetzlichkeit ausarten. Gesetzlichkeit ist es jedoch, wenn die alte Natur sich abmüht, die Vorschriften Gottes zu halten. ja, der Versuch, die Natur des gefallenen Menschen durch das reine und heilige Gesetz Gottes zu regeln, ist nutzlos und töricht. Wie könnte die gefallene Natur in einer so reinen Luft atmen?

 

Aber Gott schenkt dem Gläubigen nicht nur eine göttliche Natur und leitet diese durch Seine Vorschriften. Er stellt ihr auch die rechten Hoff­nungen und Erwartungen vor. So war es auch bei Abraham: "Der Gott der Herrlichkeit erschien ihm." Und zu welchem Zweck? Um ihm einen Gegenstand von großer Anziehungskraft vorzustellen, nämlich: "das Land, das ich dir zeigen werde." Da war kein Zwang, sondern Anziehungskraft. Nach dem Urteil der neuen Natur und des Glaubens war das Land Gottes weit besser als Ur oder Haran, und obwohl Abra­ham dieses Land nie gesehen hatte, hielt sein Glaube es doch für wert, es zu besitzen, ja, nicht nur es zu besitzen, sondern seinetwegen auch das Vorhandene zu verlassen. Wir lesen deshalb: "Durch Glauben war Abraham, als er gerufen wurde, gehorsam, auszuziehen an den Ort, den er zum Erbteil empfangen sollte, und er zog aus, ohne zu wissen, wohin er komme", d. h. er ging seinen Weg durch Glauben, nicht durch Schauen. Obwohl er mit seinen Augen nichts gesehen hatte, glaubte er mit seinem Herzen, und der Glaube wurde die mächtige Triebfeder in seiner Seele. Der Glaube ruht auf einer weit festeren Grundlage als auf der Überzeugung unserer Sinne, und diese Grundlage ist das Wort Gottes. Unsere Sinne können uns täuschen, das Wort Gottes täuscht uns nie.

 

Das System der Gesetzlichkeit wirft demgegenüber die Lehre von der neuen göttlichen Natur samt den sie leitenden Vorschriften und den sie belebenden Hoffnungen über Bord. Es lehrt, daß wir die Erde aufgeben müssen, um den Himmel zu erlangen. Wie aber könnte die gefallene Natur das aufgeben, womit sie verbunden ist? Wie könnte sie durch etwas angezogen werden, was keinen Reiz für sie hat? Der Himmel hat nichts Anziehendes für die Natur. Er ist der letzte Platz, wo sie sich befinden möchte. Sie hat kein Gefallen am Himmel und an seinen Be­wohnern. Wäre es für die Natur möglich, in den Himmel zu gelangen, würde sie sich dort äußerst unglücklich fühlen. Sie hat weder die Fähig­keit, die Erde aufzugeben, noch den Wunsch, den Himmel zu besitzen. Wohl möchte sie gern der Hölle und ihrer Qual und Finsternis ent­fliehen, aber die beiden Wünsche, der Hölle zu entrinnen und den Himmel zu erlangen, entspringen zwei ganz verschiedenen Quellen. Der erste Wunsch mag in der alten Natur vorhanden sein, aber der zweite liegt nur in der neuen Natur. Gäbe es keinen "Feuersee" und kein "Zähneknirschen" in der Hölle, so würde die Natur nicht so sehr vor ihr erschrecken. Derselbe Grundsatz gilt für alle Wünsche und Be­strebungen der Natur. Das System der Gesetzlichkeit lehrt, daß wir die Sünde aufgeben müssen, bevor wir die Gerechtigkeit erlangen können, aber die Natur kann die Sünde nicht aufgeben, und Gerechtigkeit haßt sie aus tiefstem Grund. Allerdings liebt sie ein gewisses Maß von Religion, aber nur in der Hoffnung, dadurch dem Feuer der Hölle zu ent­gehen. Wahre Religion liebt sie deshalb nicht, weil diese die Seele in die gegenwärtige Freude an Gott und Seinen Wegen einführt.

 

Wie unterscheidet sich das "Evangelium der Herrlichkeit des seligen Gottes" in jeder Beziehung von Gesetzlichkeit! Das Evangelium offenbart Gott selbst, wie Er in vollkommener Gnade herniederkommt und die Sünde durch das Opfer am Kreuz wegnimmt, und zwar in absoluter Weise, auf dem Boden ewiger Gerechtigkeit, weil Christus gelitten hat, indem er für uns zur Sünde gemacht wurde. Aber außerdem gibt Gott auch ein neues Leben, das Auferstehungsleben Seines verherrlichten Sohnes, ein Leben, das jeder wahre Gläubige besitzt, weil er durch den ewigen Ratschluß Gottes mit dem vereinigt worden ist, der ans Kreuz genagelt wurde, aber jetzt auf dem Thron der Majestät in den Himmeln sitzt. Diese neue Natur leitet Gott in Seiner Güte durch die Vorschriften Seines heiligen Wortes, wenn es durch den Heiligen Geist in Kraft angewendet wird. Auch belebt Er sie durch die Darreichung unzerstör­barer Hoffnungen und zeigt ihr als Ziel "die Hoffnung der Herrlich­keit", "eine Stadt, welche Grundlagen hat", "ein besseres Vaterland, das ist ein himmlisches", "die vielen Wohnungen im Hause des Vaters", "die weißen Kleider", "ein unerschütterliches Reich", eine ewige Ver­einigung mit Ihm selbst in diesen Gebieten des Segens und des Lichts, wo Trauer und Finsternis keinen Zugang haben, sowie das Vorrecht ' in Ewigkeit an "den stillen Wassern und auf den grünen Auen" der er­lösenden Liebe zu wohnen.

 

Wie verschieden ist das alles von gesetzlichen Begriffen! Anstatt mich aufzufordern, durch die Lehrsätze einer äußerlichen Religion eine un­heilbare, verdorbene Natur zu erziehen und zu bilden, damit sie eine Erde, die sie liebt, aufgibt, und einen Himmel, den sie haßt, erlangt, gibt Gott mir in Seiner unendlichen Gnade und aufgrund des Opfers Christi eine Natur, die sich über den Himmel freuen kann, sowie einen Himmel zum Genuß für diese Natur, ja, ich empfange nicht nur einen Himmel, sondern Ihn selbst, die unversiegbare Quelle aller Freude des Himmels.

 

Das ist der Weg Gottes. So handelte Er mit Abraham und mit Saulus von Tarsus, und so handelt Er mit uns. Der Gott der Herrlichkeit zeigte Abraham ein besseres Vaterland als Ur oder Haran. Er zeigte dem Apostel eine so prachtvolle Herrlichkeit, daß sein Auge sich für allen Glanz dieser Erde verschloß und er alles für "Dreck" achtete, um Christus zu gewinnen, der ihm erschienen und dessen Stimme bis in das Innerste seiner Seele gedrungen war. Paulus sah einen himmlischen Christus in der Herrlichkeit, und von diesem Augenblick an erfüllte trotz der Schwachheit des "irdenen Gefäßes" dieser himmlische Christus und diese himmlische Herrlichkeit seine ganze Seele.

 

,Und Abraham durchzog das Land bis zu dem Orte Sichem, bis zur Terebinthe Mores. Und die Kanaaniter waren damals im Lande" (V. 6). Die Gegenwart der Kanaaniter mußte sich für Abraham als Prüfung erweisen, als Forderung, die an seinen Glauben und an seine Hoffnung gestellt wurde, als Herzensübung und Geduldsprobe. Er hatte Ur und Haran verlassen und war in das Land gekommen, von dem der "Gott der Herrlichkeit" zu ihm geredet hatte, und dort fand er die "Kanaani­ter.‑ Aber er fand auch den Herrn dort. "Und der HERR erschien dem Abram und sprach: Deinem Samen will ich dieses Land geben" (V. 7). Die Verbindung zwischen diesen beiden Mitteilungen ist berührend schön. "Die Kanaaniter waren im Lande." Damit Abraham nicht auf die gegenwärtigen Besitzer sah, erschien ihm der HERR als der, der ihm und seinem Samen dieses Land für immer geben wollte. Auf diese Weise wurden die Gedanken Abrahams auf den Herrn und nicht auf die Kanaaniter gelenkt. Darin liegt für uns eine wichtige Lehre. Die »Kanaaniter im Lande" sind der Ausdruck der Macht Satans. Aber anstatt uns mit dieser Macht zu beschäftigen, die uns von unserem Erbteil fernhalten möchte, werden wir aufgefordert, die Macht Christi zu ergreifen, die uns in unser Erbe einführt. "Unser Kampf ist nicht wider Fleisch und Blut..., sondern wider die geistlichen Mächte der Bosheit in den himmlischen Örtern" (Eph. 6, 12). Gerade der Bereich, in den wir gerufen worden sind, ist der Ort unseres Kampfes. Sollte uns das erschrecken? Durchaus nicht ' denn dort ist der siegreiche Chri­stus, in dem wir "mehr als Überwinder" sind. Anstatt uns daher einem "Geist der Furcht" hinzugeben, pflegen wir vielmehr einen Geist der Anbetung. Und Abraham "baute daselbst dem HERRN, der ihm er­schienen war, einen Altar. Und er brach auf von dannen nach dem Ge­birge ostwärts von Bethel und schlug sein Zelt auf" (V. 7. 8). Der Altar und das Zelt zeigen uns die beiden großen Charakterzüge Abrahams: er war ein Anbeter Gottes und ein Fremdling in der Welt. Gesegnete Charakterzüge: nichts auf Erden, aber alles in Gott zu be­sitzen! Von der Erde besaß Abraham nichts, "auch nicht einen Fußbreit." Aber er hatte Gott, und das war genug für ihn.

 

Doch Gott antwortet dem Glauben nicht nur, Er prüft ihn auch. Man darf sich nicht einbilden, daß der Mann des Glaubens, nachdem er sein Schiff vom Ufer der Umstände abgestoßen hat, immer stilles Fahrwasser findet. Vielmehr muß er immer wieder rauher See und sturmbringenden Wolken begegnen. Aber alles ist von Gott gnädig vorgesehen, um in ihm eine tiefe und gereifte Erfahrung zu bewirken über das, was Gott für ein Herz ist, das Ihm vertraut. Wäre der Himmel stets wolkenlos und das Meer stets glatt, so würde der Gläubige den Gott, mit dem er es zu tun hat, sicher nicht so gut kennenlernen, denn wir wissen, wie leicht das Herz den äußeren Frieden mit dem Frieden Gottes ver­wechselt. Wenn uns alles nach Wunsch geht, wenn unser Geschäft blüht, wenn unsere Kinder prächtig heranwachsen, wenn unsere Woh­nung gemütlich ist und unsere Gesundheit nichts zu wünschen übrig läßt, wie sehr sind wir dann geneigt, den Frieden, der sich auf solche Umstände gründet, mit dem Frieden zu verwechseln, der in der Ge­genwart Christi gefunden wird! Der Herr weiß das, und wenn wir statt in Ihm in den Umständen ruhen, so erschüttert Er in irgendeiner Weise unsere falschen Stützen.

 

Auch beurteilen wir so leicht die Richtigkeit eines Weges nach dem Fehlen oder Vorhandensein von Prüfungen. Auch das ist ein großer Fehler. Der Pfad des Gehorsams bringt oft die meisten Versuchungen mit sich. Abraham wurde nicht nur berufen, in dem Lande, in das Gott ihn geführt hatte, den Kanaanitern zu begegnen, sondern es war auch eine "Hungersnot im Lande" (V. 10). Hätte er etwa daraus schließen sollen, daß er nicht am rechten Platz war? Sicher nicht, denn dann hätte er danach geurteilt, was seine Augen sahen, und das tut der Glaube niemals. Es war ohne Zweifel eine schwere Probe für sein Herz, eine unbegreifliche Sache für seine Natur, aber für den Glauben war alles einfach und leicht. Als Paulus nach Macedonien berufen wurde, war das Gefängnis zu Philippi beinahe das erste, was ihm begegnete. Ein Herz, das nicht in Gemeinschaft mit Gott gewesen wäre, hätte in dieser Prüfung den Todesstoß für die ganze Sendung gesehen. Aber Paulus bezweifelte keinen Augenblick, daß er auf dem richtigen Weg war, und er war fähig, im Gefängnis "Loblieder zu singen", in der vollen Gewißheit, daß alles so war, wie es sein mußte. Und er hatte recht, denn in dem Gefängnis zu Philippi befand sich ein Gegenstand der Erbarmungen Gottes, jemand, der menschlich gesprochen niemals das Evangelium hätte hören 'können, wenn der Prediger nicht gerade dort eingesperrt worden wäre, wo er sich befand. Gegen seinen Willen diente der Teufel als Werkzeug, um das Evangelium einem Auser­wählten Gottes nahe zu bringen.

 

Nun hätte Abraham in der Hungersnot ebenso denken sollen, wie Pau­lus im Gefängnis. Er befand sich an dem Ort, an den Gott ihn gestellt hatte, und er empfing keinen Befehl, diesen Ort zu verlassen. Freilich war die Hungersnot nicht zu leugnen. Außerdem war Ägypten nahe und bot ihm Befreiung von jedem Druck. Doch der Weg des Dieners Gottes war einfach: Besser in Kanaan darben, wenn es sein soll, als in Ägypten in Überfluß leben! Besser auf dem Pfad Gottes leiden, als auf dem Weg Satans in Gemächlichkeit leben, besser arm mit Christus, als reich ohne Ihn. Abraham bekam "Kleinvieh und Rinder und Esel und Knechte und Mägde und Eselinnen und Kamele". Beweis genug, würde ein natürliches Herz sagen, daß Abraham richtig handelte, als er nach Ägypten hinabzog. Aber in Ägypten hatte er keinen Altar, keine Ge­meinschaft mit Gott. Das Land des Pharao war nicht der Ort der Ge­genwart des HERRN, und Abraham verlor durch seinen Zug nach Ägypten mehr als er gewann. Nichts kann den Verlust unserer Ge­meinschaft mit Gott ersetzen. Die Befreiung von einem zeitweiligen Druck und das Erlangen von Reichtum sind ein armseliger Ersatz für das, was man verliert, wenn man auch nur um Haaresbreite von dem geraden Weg des Gehorsams abweicht. Wie viele unter uns werden das bestätigen können! Wie viele sind, weil sie den Prüfungen und Mühen ausweichen wollten, die mit dem Weg Gottes verbunden sind, in den Strom des gegenwärtigen bösen Zeitlauf geraten und haben sich dadurch Dürre und Armut, Druck und Finsternis für ihre Seelen eingetragen! Vielleicht haben sie "ihr Glück gemacht", Reichtümer aufgehäuft und Ehre in der Welt erlangt vielleicht auch eine gute Behandlung von ihrem „Pharao" erfahren und sich einen Namen und eine Stellung in der Welt erworben. Aber können alle diese Dinge die Freude in Gott, die Gemeinschaft, ein glückliches Herz, ein reines Gewissen, einen Geist des Dankens und der Anbetung, ein lebendiges Zeugnis und einen wirkungsvollen Dienst ersetzen? Wer möchte so etwas behaupten? Und dennoch sind nur zu oft alle diese unvergleichlichen Segnungen für ein wenig Wohlleben, für ein bißchen Einfluß und für ein wenig Geld verkauft worden.

 

Laßt uns wachsam sein gegen die Neigung, von dem schmalen, aber sicheren, dem oft rauhen, aber stets glücklichen und gesegneten Weg des aufrichtigen Gehorsams abzuweichen! Laßt uns mit Sorgfalt und Eifersucht über den "Glauben und ein gutes Gewissen" wachen, die durch nichts ersetzt werden können! Wenn eine Prüfung naht, so laßt uns auf Gott warten, anstatt nach Ägypten zu gehen! Dann wird die Prüfung nicht ein Anlaß zu Straucheln, sondern eine Gelegenheit, unseren Gehorsam zu zeigen. Und wenn wir versucht werden, dem Strom dieser Welt zu folgen, so laßt uns unsere Blicke auf Ihn richten, der "sich selbst für unsere Sünden hingegeben hat, damit Er uns heraus­nehme aus der gegenwärtigen bösen Welt, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters" (Gal. 1, 4). Wenn Er solche Liebe zu uns hatte und solche Gedanken über den wahren Charakter der gegenwärtigen Welt, daß Er sich selbst dahingab, um uns von der Welt zu befreien, sollten wir Ihn dann dadurch verleugnen, daß wir wieder zu dem zurückkehren, wovon Sein Kreuz uns auf ewig befreit hat? Gott wolle es verhüten! Möge Seine mächtige Hand uns bewahren bis wir Jesus sehen, wie Er ist. Dann werden wir Ihm gleich sein und ewig bei Ihm bleiben!

 

Kapitel 13

 

ABRAHAM UND LOT

 

Der Anfang dieses Kapitels behandelt den wahren Charakter der gott­gemäßen Wiederherstellung. Wenn der Gläubige in irgendeiner Weise seine geistliche Stellung verlassen und die Gemeinschaft mit Gott ver­loren hat so ist er, sobald das Gewissen zu wirken beginnt, in Gefahr, die Gnade Gottes nicht völlig zu erfassen, und nicht wirklich gottgemäß wiederhergestellt zu werden. Nun, wir wissen, daß Gott alles in einer Weise tut ' die Seiner würdig ist. In der Schöpfung, der Erlösung, der Bekehrung, der Wiederherstellung, und auch in Seiner Sorge für uns kann Er nur gemäß dem handeln, was Er ist. Nur die Übereinstimmung mit Seiner Natur kennzeichnet Sein Handeln, und das ist ein großes Glück für uns, da wir stets versucht sind, dem "Heiligen Israels" Gren­zen zu setzen, und zwar ganz besonders dann, wenn es sich um Seine wiederherstellende Gnade handelt.

 

In unserem Kapitel sehen wir, daß Abraham nicht nur aus Ägypten befreit, sondern auch "bis zu dem Ort" zurückgeführt wurde, "wo im Anfang sein Zelt gewesen war . . ., zu der Stätte des Altars, den er zuvor daselbst gemacht hatte. Und Abram rief daselbst den Namen des HERRN an" (V. 1‑4). Gott kann nicht eher zufrieden sein, bis Er den Irrenden oder Zurückbleibenden völlig wiederhergestellt hat. Wir mögen in unserer Selbstgerechtigkeit meinen, daß einem solchen Menschen jetzt ein geringerer Platz als zuvor zukommen müsse, und es wäre tat­sächlich so, wenn es sich um sein Verdienst oder seinen Charakter handelte. Aber da es nur eine Frage der Gnade ist, so ist es Gottes Vorrecht, das Maß der Wiederherstellung zu bestimmen, und dieses Maß wird uns in den Worten: "Wenn du umkehrst, Israel, spricht der HERR, so kehre um bis zu mir", vor Augen gestellt. Das ist die Weise, wie Gott wiederherstellt. Es wäre Seiner unwürdig, anders zu handeln. Wenn Er wiederherstellt, kann es nur in einer Weise sein, die den Reichtum Seiner Gnade verherrlicht. Wenn daher der Aus­sätzige in das Lager zurückgeführt wurde, so wurde er bis an den Eingang des Zeltes der Zusammenkunft" gebracht (3. Mose 14, 11). Als der verlorene Sohn in das Vaterhaus zurückkehrte, gab ihm der Vater einen Platz an Seinem Tisch. Und als Petrus nach seinem Fall wiederhergestellt war, durfte er den Männern von Israel zurufen: "Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet" (Apg. 3, 14), und sie einer Handlung anklagen, die er unter erschwerenden Umständen selbst begangen hatte. In diesen und vielen anderen Fällen sehen wir, daß Gott vollkommen wiederherstellt. In der vollen Kraft der Gnade und bei vollem Vertrauen des Glaubens führt Er stets die Seele zu sich selbst zurück. "Wenn du umkehrst, so kehre um bis zu mir". "Abram zog wieder bis zu dem Orte, wo im Anfang sein Zelt gewesen war".

 

Außerdem hat die gottgemäße Wiederherstellung der Seele eine sehr praktische Wirkung, und wenn der Charakter dieser Wiederherstellung die Gesetzlichkeit schon beschämt, so bringt ihre Wirkung die Gesetz­losigkeit ganz zum Schweigen. Die wiederhergestellte Seele wird ein lebendiges und tiefes Gefühl von dem Bösen haben, von dem sie e­freit worden ist, und dies wird sich durch einen Geist des Eifers, des Gebets, der Heiligkeit und der Besonnenheit offenbaren. Gott stellt uns nicht wieder her, damit wir es noch leichter als bisher mit der Sünde nehmen und von neuem hineinfallen, nein, Er sagt: "Gehe hin und sündige nicht mehr" (Joh. 8, 11). je tiefer mein Gefühl von der Gnade der Wiederherstellung ist, desto tiefer wird auch mein Gefühl von Gottes Heiligkeit sein. Dieser Grundsatz wird in der ganzen Hei­ligen Schrift gelehrt. "Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit" (i. Joh. 1, 9). Der rechte Weg einer gottgemäß wiederhergestellten Seele ist "der Pfad der Gerechtigkeit". "Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen" (Ps. 23, 3). Mit anderen Worten, wenn wir die Gnade geschmeckt haben, so gehen wir unseren Weg in Gerechtigkeit. Von Gnade reden und in Ungerechtig­keit leben heißt nach den Worten des Apostels: "Die Gnade unseres Gottes in Ausschweifung verkehren" (Judas 4). Wenn aber "die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben" (Röm. 5, 21), so zeigt sie sich auch in Werken der Gerechtigkeit, als den Früchten dieses ewigen Lebens. Die Gnade, die uns unsere Sünden vergibt, reinigt uns  auch von aller Ungerechtigkeit. Nie dürfen diese beiden Dinge vonein­ander getrennt werden. Vereinigt bringen sie, wie bereits bemerkt, so­wohl die Gesetzlichkeit als auch die Gesetzlosigkeit des menschlichen Herzens zum Schweigen.

 

Es gab jedoch für das Herz Abrahams noch eine schwerere Prüfung als die Hungersnot, und diese hatte ihren Ursprung in der Verbindung mit jemand, der offensichtlich weder in der Kraft eines persönlichen Glaubens, noch in dem Gefühl einer persönlichen Verantwortlichkeit seinen Weg ging. Es scheint, daß Lot von Anfang an mehr durch den Einfluß und das Beispiel Abrahams als durch seinen eigenen Glauben an Gott geleitet wurde. Dies ist kein ungewöhnlicher Fall. Ein Blick in die Geschichte des Volkes Gottes zeigt uns, daß sich jeder großen, durch den Geist Gottes hervorgerufenen Bewegung immer einige an­schlossen, die persönlich nicht die Kraft besaßen, die die Bewegung hervorgerufen hatte. Solche Personen gehen eine Zeitlang mit, indem sie entweder wie totes Gewicht auf dem Zeugnis lasten, oder es sogar ganz deutlich hemmen. So war es in Abrahams Fall. Gott hatte ihm geboten, seine Verwandtschaft zu verlassen, aber anstatt zu gehorchen, nahm er sie mit sich. Tarah hemmte den Weg Abrahams, bis der Tod ihn aus dem Weg räumte, und Lot begleitete ihn ein wenig weiter, bis "die Begierde nach den übrigen Dingen" (Mark. 4, 19) ihn besiegte und ganz übermannte.

 

Bei dem Auszug der Kinder Israel aus Ägypten sehen wir dasselbe. Ein "Mischvolk" folgte ihnen und wurde für sie häufig die Ursache von Verunreinigung, Schwachheit und Trauer. In 4. Mose 11, 4 lesen wir: "Und das Mischvolk, das in ihrer Mitte war, wurde lüstern, und auch die Kinder Israel weinten wiederum und sprachen: Wer wird uns Fleisch zu essen geben?" Ebenso war es in den ersten Tagen der Kirche und auch später. Bei allen durch den Geist Gottes hervorgerufe­nen Erweckungen und Neubelebungen haben sich vielfach Personen der Bewegung unter den verschiedenartigsten Einflüssen angeschlossen. Weil diese Einflüsse aber nicht göttlich waren, waren Sie nur vorüber­gehend und ließen diese Personen bald wieder zurücktreten und ihren Platz in der Welt einnehmen. Nur das, was von Gott ist, wird Bestand haben. Ich muß die Verbindung verwirklichen, die zwischen mir und dem lebendigen Gott besteht. Ich muß mir bewußt sein, daß Er mich in die Stellung berufen hat, die ich einnehme, denn sonst werde ich weder Standhaftigkeit noch Ausdauer in dieser Stellung beweisen. Wir können nicht der Spur eines anderen folgen, nur weil er diesen Weg geht. Gott zeigt in Seiner Gnade jedem von uns einen Weg, den er gehen soll, einen Wirkungskreis, in dem er sich bewegen, und Pflichten, die er erfüllen soll. An uns ist es, unsere Berufung und die damit verbunde­nen Pflichten zu kennen, damit wir durch die Gnade, die uns täglich dargereicht wird, in dieser Berufung zur Verherrlichung Gottes wirken können. Es tut nichts zur Sache, wie groß oder wie klein unser Wir­kungskreis ist, wenn nur Gott ihn uns zugeteilt hat. Ob wir fünf Talente oder nur ein einziges empfangen haben, wenn wir im Blick auf den Herrn das eine treu verwenden, werden wir ebenso gewiß aus Seinem Mund die Worte hören: "Wohl, du guter und treuer Knecht!" (Matth. 25, 21), als wenn wir "die fünf" verwaltet hätten. Paulus, Petrus, Jakobus und Johannes hatten jeder ihr besonderes Maß, ihr besonderes Verdienst. Genauso ist es mit uns. Keiner braucht sich in die Arbeit eines anderen zu mischen. Ein Tischler hat eine Säge und einen Hobel, einen Hammer und ein Stecheisen, und er benutzt jedes Werkzeug, wie er es braucht. Nichts ist wertloser als bloße Nach­ahmung. In der Natur finden wir so etwas niemals. jedes Geschöpf hat seinen Platz und seine besondere Funktion. Wenn es so in der natür­lichen Welt ist, wieviel mehr in der geistlichen! Das Feld ist weit genug für alle. In jedem Hause gibt es Gefäße verschiedener Größe und Form, und der Eigentümer gebraucht sie alle.

 

Wir sollten uns daher immer prüfen, ob wir unter einem göttlichen oder einem menschlichen Einfluß stehen, ob unser Glaube auf Men­schenweisheit oder auf Gotteskraft beruht, ob wir etwas tun, weil andere dasselbe getan haben, oder weil der Herr uns dazu berufen hat, und endlich, ob wir uns nur auf das Beispiel und den Einfluß unserer Umgebung stützen, oder ob wir durch persönlichen Glauben aufrecht gehalten werden. Das sind ernste Fragen. Es ist ohne Zweifel ein Vorrecht, die Gemeinschaft unserer Brüder zu genießen. Aber wenn wir uns auf sie stützen, so werden wir bald Schiffbruch erleiden. Ebenso wird unser Tun seinen Wert verlieren, wenn wir über unser Maß hinausgehen. Es wird gezwungen und unnatürlich sein. Es ist nicht schwer zu erkennen, ob ein Mensch an seinem Platz ist und nach dem Maß seiner Fähigkeit arbeitet. Alles gezwungene, gezierte Wesen, alle Anmaßung und alles Nachäffen ist verächtlich. Der Herr gebe uns Gnade, stets wahr, aufrichtig und natürlich zu sein! Wer nicht schwim­men kann und sich trotzdem in tiefes Wasser wagt, wird bald mit Händen und Füßen zappeln. Und wenn ein Schiff in See geht, ohne seetüchtig und ohne ordentlich ausgerüstet zu sein, wird es bald wieder in den Hafen zurückkehren müssen oder zu Grunde gehen. Lot verließ zwar "Ur in Chaldäa", aber er unterlag in den Ebenen Sodoms. Die Berufung Gottes hatte nicht sein Herz erreicht, und sein Auge blieb geschlossen für die Herrlichkeit des Erbes Gottes. Ernster Gedanke! Aber Gott sei Dank! Es gibt für jeden Diener Gottes einen Weg, der erleuchtet ist durch Seine Anerkennung und durch das Licht Seines Angesichts, und es sollte unsere Freude sein, diesen Weg zu gehen. Seine Anerkennung genügt dem Herzen, das Ihn kennt. Wir werden allerdings nicht immer nur Beifall und Zustimmung unserer Brüder finden, sondern vielmehr häufig von ihnen mißverstanden wer­den. Aber "der Tag" wird alles an seinen richtigen Platz stellen, und das treugesinnte Herz kann mit Ruhe diesem Tag entgegensehen, da es weiß, daß dann "einem jeden sein Lob werden wird von Gott" (Vergl. 1. Kor. 3, 13; 4, 5).

 

Doch laßt uns noch etwas näher untersuchen, was Lot veranlaßte, den Weg des öffentlichen Zeugnisses zu verlassen. Es gibt in der Geschichte jedes Menschen einen Wendepunkt, wo sich zeigt, auf welchem Boden er steht, und was für Beweggründe ihn leiten. So war es bei Lot. Die sichtbare Ursache seines späteren Falls in Sodom war ein Streit zwi­schen seinen Hirten und den Hirten Abrahams. Wer nicht mit ein­fältigem Auge und mit geläuterten Neigungen seinen Weg geht, wird leicht über einen Stein fallen. In gewissem Sinne macht es wenig aus, was die scheinbare Ursache des Abweichens vom geraden Weg ist. Die wirkliche Ursache entgeht vielleicht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie liegt unter der Oberfläche verborgen, in den geheimen Kammern des Herzens, dort wo die Welt in der einen oder anderen Form bereits Eingang gefunden hat. Der Streit der Hirten hätte ohne geistlichen Nachteil für Abraham wie für Lot beschwichtigt werden können. Er gab Abraham allerdings Gelegenheit, die herrliche Kraft des Glaubens zu zeigen, und die moralische Erhabenheit und himmlische Überlegen­heit sichtbar werden zu lassen, womit der Glaube den Glaubenden be­kleidet. Lot aber bot er Gelegenheit, die totale Weltlichkeit, mit der sein Herz erfüllt war, unter Beweis zu stellen. Der Streit erzeugte im Her­zen Lots ebensowenig die Weltlichkeit, wie in dem Herzen Abrahams den Glauben, aber er machte bei beiden offenbar, was in ihren Herzen war.

 

Streitigkeiten und Spaltungen entstehen auch in der Kirche Gottes. Viele werden dadurch zu Fall gebracht und auf die eine oder andere Weise in die Welt zurückgetrieben. Sie schieben dann die Schuld auf die Streitigkeiten und Spaltungen, während in Wirklichkeit diese Dinge nur das Mittel waren, um den wirklichen Zustand ihrer Seele und die Neigungen ihres Herzens zu offenbaren. Ist die Welt einmal im Herzen, so ist der Weg zu ihr leicht zu finden. Auch verrät es wenig moralische Qualität, wenn man Menschen und Umstände tadelt, während die Wurzel des Bösen in uns selbst liegt. Es ist traurig und demütigend, in Gegenwart der "Kanaaniter und Perisiter" Brüder sich streiten zu se en. Unsere Sprache sollte stets lauten: "Laß doch kein Gezänk sein zwi­schen mir und dir; denn wir sind Brüder!" (V. s. 9). Doch warum wählte Abraham nicht Sodom? Warum trieb der Streit ihn nicht in die Welt? Warum wurde er für ihn kein Anlaß zum Fall? Weil er alles von der Seite Gottes aus betrachtete. Sein Herz war nicht weniger leicht zu begeistern für die bewässerten Ebenen" wie das Herz Lots, aber er erlaubte seinem Herzen nicht zu wählen. Er ließ zunächst Lot seine Wahl treffen, und dann überließ er es Gott, für ihn zu wählen. Das war himmlische Weisheit. So handelte der Glaube. Er überläßt es Gott, sein Erbteil festzusetzen, wie er es Ihm auch überläßt, ihn darin einzuführen. Der Glaube kann sagen: "Die Meßschnüre sind mir gefallen in lieblichen Örtern; ja, ein schönes Erbteil ist mir geworden" (Ps. 16, 6). Es kümmert ihn wenig, wo "die Meßschnüre" für ihn fallen, denn nach dem Urteil des Glaubens fallen sie immer in "liebli­chen Örtern", weil Gott sie festlegt. Der Mann des Glaubens kann dem Mann des Schauens getrost die Wahl überlassen. Er kann sagen: "willst du zur Linken, so will ich mich zur Rechten wenden, und willst du zur Rechten, so will ich mich zur Linken wenden“ (V. 9). Welch ein schönes Bild von Uneigennützigkeit und moralischer Er­habenheit!

 

Der Mensch von Natur wird trotz seiner vermessenen Wünsche mit Sicherheit niemals seine Hand nach dem Schatz des Glaubens ausstrek­ken. Er wird sein Teil stets in der entgegengesetzten Richtung suchen. Der Glaube bewahrt seinen Schatz an einem Ort, wo die Natur ihn im Traume nicht suchen würde. Sie könnte sich ihm nicht einmal nähern, selbst wenn sie es wollte, und würde es nicht wollen, wenn sie es könnte, so daß der Glaube in vollkommener Sicherheit und bewunde­rungswürdiger Uneigennützigkeit der Natur die Wahl überlassen kann. Was tat Lot, als er wählen durfte? Er wählte Sodom, gerade den Ort ' über den das Gericht Gottes bald hereinbrechen sollte. Warum traf er eine ‑Wie Wahl? Weil er auf den äußeren Anschein und nicht auf den wahren Charakter und auf das zukünftige Schicksal dieses Ortes blickte. Der wahre Charakter Sodoms war Bosheit, und sein zukünftiges Los das Gericht, die Zerstörung durch Feuer und Schwefel. Aber, wird man einwenden, Lot wußte hiervon nichts. Vielleicht nicht. Abraham wußte es auch nicht. Aber Gott wußte es, und hätte Lot Ihm die Wahl seines Erbteils überlassen, so hätte Gott ihm sicher nicht einen Ort angewiesen, dessen Zerstörung Er beschlossen hatte. Aber Lot wählte selbst und sah im Gegensatz zu Gottes Urteil in Sodom einen geeigne­ten Aufenthaltsort. Seine Augen sahen die "bewässerten Ebenen", und sein Herz wurde von ihnen angezogen. Er "schlug Zelte auf bis nach Sodom" (V. 10‑12). So wählt die Natur. ‑ "Demas hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat" (2. Tim. 4, 10). Lot ver­ließ Abraham aus demselben Grund. Er verließ den Ort des Zeugnisses und betrat den Ort des Gerichts.

 

"Und der HERR sprach zu Abram, nachdem Lot sich von ihm ge­trennt hatte: Hebe doch deine Augen auf und schaue von dem Orte, wo du bist, gegen Norden und gegen Süden und gegen Osten und gegen Westen! Denn das ganze Land, das du siehst, dir will ich es geben und deinem Samen auf ewig" (V. 14. 15). Der Streit und die Trennung blieben weit davon entfernt, dem geistlichen Zustand Abra­hams zu schaden, sie brachten seine himmlischen Grundsätze nur um so klarer hervor und stärkten das Leben des Glaubens in seiner Seele. Außerdem dienten sie dazu, seinen Weg zu erhellen und ihn von einem Begleiter zu befreien, der nur seinen Schritt hemmte. So wirkte also für Abraham alles zum Guten mit und brachte ihm reichen Segen ein.

 

Vergessen wir nicht die ernste und zugleich ermutigende Wahrheit, daß jeder Mensch auf die Dauer seinen eigenen Standpunkt einnehmen wird. Alle die laufen, ohne gesandt zu sein, werden irgendwie zusammen­brechen und zu dem zurückkehren, was sie verlassen zu haben be­kannten, während andererseits alle. die von Gott berufen sind und sich auf Ihn stützen, durch Seine Gnade aufrechtgehalten werden. "Der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht das stets heller leuchtet bis zur Tageshöhe" (Spr. 4, 18). Der Gedanke hieran erhält uns demütig, wachsam und im Gebet. "Wer zu stehen sich dünkt, sehe zu, daß er nicht falle" (l. Kor. 10, 12), denn "es sind Letzte, welche Erste sein werden, und es sind Erste, welche Letzte sein werden" (Luk. 13, 30). Das Wort: "Wer aber ausharrt bis ans Ende, dieser wird er­rettet werden" (Matth. 10, 22), ist ein Grundsatz von großer moralischer Tragweite, wenn man von seiner besonderen Anwendung einmal ab­sieht. Manches stolze Schiff verhieß beim Auslaufen eine herrliche Fahrt, aber Stürme.. Wogen, Felsenriffe und Sandbänke änderten bald das Bild, und die unter günstigen Aussichten begonnene Reise endete in völligem Mißlingen. Ich rede hier natürlich nur von dem Weg des Dienstes und Zeugnisses, keineswegs von der Annahme eines Men­schen und seinem ewigen Heil in Christus. Das hängt, Gott sei geprie­sen! in keiner Weise von uns, sondern von Ihm ab, der gesagt hat: "ich gebe ihnen ewiges Leben, und sie gehen nicht verloren ewiglich, und niemand wird sie aus meiner Hand rauben" (Joh. 10, 28). Aber sehen wir nicht oft Christen den Weg eines besonderen Dienstes oder Zeug­nisses einschlagen, (unter dem Eindruck, daß sie von Gott dazu beru­fen sind), und nach einiger Zeit zusammenbrechen? Sehen wir nicht auch viele, die, nachdem sie sich zu bestimmten Grundsätzen ihrer Tätigkeit bekannt hatten, über die sie nicht von Gott belehrt sind, oder deren Folgen sie in der Gegenwart Gottes nicht reiflich erwogen hatten, damit enden, daß sie selbst diese Grundsätze offen verletzen? Solche Dinge sind sehr traurig, und wir sollten sie sorgfältig meiden. Sie dienen dazu, den Glauben der Auserwählten zu schwächen, und geben dem Feind der Wahrheit Anlag zur Lästerung. jeder sollte seine Berufung und Sendung unmittelbar vom Herrn selbst empfangen. Alle, die Christus zu einem besonderen Dienst beruft, wird Er auch darin er­halten, denn Er hat noch nie jemand auf seinen eigenen Sold in den Krieg gesandt. Wenn wir aber laufen, ohne gesandt zu sein, so wer en wir nicht nur selbst eines Tages unsere Torheit erkennen müssen, son­dern auch andere werden sie wahrnehmen.

 

Der Leser möge mich jedoch nicht mißverstehen. Nie sollte sich jemand als Vorbild eines besonderen Charakters des Dienstes oder Zeugnisses darstellen. Gott verhüte es! Das wäre nichts als Torheit und Betrug. Die Aufgabe eines Lehrers ist, das Wort Gottes zu erklären, und die Aufgabe eines Dieners, den Willen des Herrn vorzustellen. Aber wenn wir auch das alles verstehen und als richtig erkennen, so dürfen wir doch nicht vergessen, die Kosten zu überschlagen, bevor wir es unter­nehmen, einen Turm zu bauen oder in den Krieg zu ziehen (Luk. 14, 28). Wir würden weniger Verwirrung und verkehrte Dinge in unserer Mitte sehen, wenn dieser Ermahnung mehr Aufmerksamkeit geschenkt würde. Gott berief Abraham von Ur nach Kanaan, und daher leitete Gott ihn auch auf dem ganzen Weg. Als Abraham in Haran zögerte, wartete Gott auf ihn. Als er nach Ägypten hinabzog, stellte Gott ihn wieder her. Als Streit und Trennung entstand, trug Gott Sorge für ihn, so daß Abraham sagen konnte: "Wie groß ist deine Güte, welche du aufbewahrt hast denen, die dich fürchten, gewirkt für die, die auf dich trauen, angesichts der Menschenkinder!" (Ps. 31, 19). Er verlor nichts durch den Streit. Er besaß nach wie vor sein Zelt und seinen Altar. "Und Abram schlug Zelte auf, und kam und wohnte unter den Te­rebinthen Mamres, die bei Hebron sind; und er baute daselbst dem HERRN einen Altar" (V. 18). Mochte Lot Sodom wählen, Abraham suchte und fand alles in Gott. In Sodom gab es keinen Altar, und alle, die diese Richtung einschlagen, suchen alles andere als einen Altar. Nicht die Anbetung Gottes, sondern die Liebe zur Welt lenkt ihre Schritte nach Sodom. Und was ist das Ende, wenn sie ihr Ziel erreicht haben? Das Wort Gottes gibt Antwort: "Da gab er ihnen ihr Begehr, aber er sandte Magerkeit in ihre Seelen" (Ps. 106, 15).

 

Kapitel 14

 

DIE "SCHLACHT DER KÖNIGE". MELCHISEDEK

 

Dieses Kapitel berichtet uns die Geschichte der Empörung von fünf Königen gegen Kedorlaomer und der daraus entstehenden Schlacht. Der Heilige Geist kann sich mit den Bewegungen der Könige und ihrer Heere beschäftigen, wenn sie in irgendeiner Weise mit dem Volke Gottes in Berührung kommen. Abraham war nicht persönlich in diese Empörung und ihre Folgen verwickelt. Sein Zelt und sein Altar konn­ten weder Anlaß zu einer Kriegserklärung bieten, noch standen sie in Gefahr, durch den Ausbruch oder den Ausgang des Streites berührt zu werden. Wie könnte auch der Besitz eines himmlischen Menschen die Habsucht oder den Ehrgeiz der Könige und Eroberer dieser Welt reizen? Wenn auch Abraham nicht durch die Schlacht der "vier Könige gegen die fünf" berührt wurde, so war es mit Lot doch anders. Seine Stellung war so, daß sie ihn in die ganze Angelegenheit verwickelte. Solange wir durch die Gnade den Weg des Glaubens gehen, befinden wir uns außerhalb des Bereiches der Umstände, die diese Welt erschüttern. Wenn wir aber unsere hohe Stellung als solche, deren "Bürgertum in den Himmeln ist" (Phil. 3, 20), verlassen und einen Namen, einen Platz und ein Teil auf der Erde suchen, müssen wir auch damit rechnen, von den Erschütterungen und Wandlungen dieser Welt berührt zu werden. Lot hatte sich in den Ebenen Sodoms niedergelassen, und folglich wurde er auch durch die Kriege Sodoms schwer betroffen. Es wird bitter und schmerzlich werden für ein Kind Gottes, wenn es mit den Kindern die­ser Welt in Verbindung tritt. Nicht nur seine Seele, sondern auch das Zeugnis, das Gott ihm anvertraut hat, leidet ernsten Schaden. Welches Zeugnis konnte Lot in Sodom ablegen? Bestenfalls ein äußerst schwa­ches. Schon die Tatsache, daß er sich an diesem Ort angesiedelt hatte, gab seinem Zeugnis den Todesstoß. jedes Wort gegen Sodom und

 

gegen das gottlose Leben seiner Bewohner wäre ein gegen ihn selbst gerichtetes Urteil gewesen, denn warum war er dort? Es scheint jedoch überhaupt nicht, daß er beim Aufschlagen seiner Zelte "bis nach So­dom" je die Absicht gehabt hat, für Gott ein Zeugnis abzulegen. Per­sönliche und Familien‑Interessen bildeten ohne Zweifel die Triebfeder seines Handelns, und obwohl Petrus uns sagt, daß "der unter ihnen wohnende Gerechte durch das, was er sah und hörte, Tag für Tag seine gerechte Seele mit ihren gesetzlosen Werken quälte", so ist es doch deutlich, daß er, selbst wenn er gewollt hätte, wenig Kraft besitzen konnte, um diese "gesetzlosen Werke" zu strafen.

 

Wir sehen also, daß wir niemals von zwei Absichten zugleich geleitet werden können. Ich kann z. B. nicht zu gleicher Zeit meine zeitlichen Interessen und die des Evangeliums Christi verfolgen. Wenn ich irgend­wohin gehe, um Geschäfte zu machen, so ist das Geschäft mein Zweck und nicht die Verkündigung des Evangeliums. Freilich kann ich mir vor­nehmen, meine Geschäfte zu besorgen und zugleich das Evangelium zu predigen, aber es ist klar, daß das eine oder das andere mein Zweck sein muß. Das bedeutet nicht, daß ein Diener Christi nicht segensreich das Evangelium predigen und zugleich sein Geschäft betreiben kann, aber in diesem Fall wird nicht das Geschäft, sondern das Evangelium der eigentliche Zweck sein, der ihn leitet. Paulus predigte das Evangelium und machte auch Zelte. Jedoch nicht die Herstellung der Zelte, sondern die Verkündigung des Evangeliums war sein Zweck. Wenn ich meine Geschäfte im Auge habe, wird meine Predigt bald zu fruchtloser Form­sache, selbst dann, wenn ich sie nicht dazu benutze, meine Habsucht zu heiligen. Das Herz ist sehr trügerisch und täuscht uns oft in erstaun­licher Weise, wenn wir einen bestimmten Zweck erreichen wollen. Es wird sehr glaubhafte Gründe für unser Handeln finden, bis die Augen unseres Verstandes verdunkelt sind durch persönliche Interes­sen oder durch einen nicht gerichteten Eigenwillen und den wahren Charakter dieser Scheingründe nicht mehr erkennen. Wie oft begegnet man Personen, die ihre falsche Stellung zwar erkannt haben, sich aber damit rechtfertigen, daß ihnen diese Stellung einen weiteren Wirkungs­kreis eröffnet. Die einzige Antwort Gottes auf solche Ausflüchte ist: "Siehe, Gehorchen ist besser als Schlachtopfer, Aufmerken besser als das Fett der Widder" (i. Sam. 15, 22). Beweist nicht die Geschichte Abrahams und Lots zur Genüge, daß wir der Welt am besten dienen, wenn unsere Trennung von ihr gewissenhaft und unser Zeugnis auf­richtig ist?

 

Wir können uns nicht oft genug daran erinnern, daß wahre Absonde­rung von der Welt nur das Ergebnis der Gemeinschaft mit Gott sein kann. Ich mag mich von der Welt trennen und wie ein Mönch oder Ein­siedler mich selbst zum Mittelpunkt meines Daseins machen, aber Absonderung für Gott ist etwas ganz anderes. Die eine Art der Abson­derung erzeugt Kälte und Engherzigkeit, die andere Wärme und Weit­herzigkeit. Die eine treibt uns zur Beschäftigung mit uns selbst die andere läßt uns aus uns selbst heraustreten in tätiger Liebe und Teil­nahme für andere. Die eine macht unser Ich und seine Interessen zu unserem Mittelpunkt, die andere gibt Gott und Seiner Verherrlichung diesen Platz. So sehen wir bei Abraham, daß gerade seine Absonde­rung ihn fähig machte, dem einen wirkungsvollen Dienst zu erweisen, der durch seinen weltlichen Weg in Trübsal verwickelt war. "Als Abram hörte, daß sein Bruder gefangen weggeführt war, ließ er seine Geübten, seine Hausgeborenen, ausrücken, dreihundertachtzehn Mann, und jagte ihnen nach bis nach Dan ... Und er brachte alle Habe zurück; und auch Lot, seinen Bruder, und dessen Habe brachte er zurück, und auch die Weiber und das Volk" (V. 14‑16). Trotz allem Vorgefallenen war Lot der Bruder Abrahams, und die brüderliche Liebe mußte handeln. "Ein Bruder wird für die Drangsal geboren" (Spr. 17, 17), und es geschieht oft, daß eine Zeit der Not das Herz weich macht und uns zur Güte gegen die bewegt, von denen wir uns trennen mußten. Es ist bemerkenswert, daß wir in Vers 12 lesen: "Und sie nahmen Lot, Abrams Bruders Sohn", aber in Vers 14 die Worte finden: "Und als Abram hörte, daß sein Bruder gefangen weggeführt war". Der Notruf eines Bruders findet Ant­wort in der Liebe eines Bruderherzens. Das ist göttlich. Wahrer Glaube macht uns wohl unabhängig, nie aber gleichgültig. Es gibt drei Dinge, die der Glaube tut: er "reinigt das Herz" (Apg. 15, 9), er "wirkt durch die Liebe" (Gal. 5, 6), er "überwindet die Welt" (i. Joh. 5, 4), und diese drei Ergebnisse des Glaubens zeigen sich bei dieser Gelegenheit bei Abraham in ihrer ganzen Schönheit. Sein Herz war gereinigt von der Befleckung Sodoms, er offenbarte eine aufrichtige Zuneigung zu Lot, seinem Bruder, und er trug einen vollständigen Sieg über die Köni­ge davon. Das sind die kostbaren Früchte des Glaubens, dieses himm­lischen Grundsatzes, der Christus verherrlicht.

 

Aber auch der Mann des Glaubens ist nicht sicher vor den Angriffen des Feindes. Vielmehr stürmen oft unmittelbar nach einem Sieg neue Versuchungen auf ihn ein. So war es bei Abraham. "Und als er zu­rückgekehrt war, nachdem er Kedorlaomer und die Könige, die mit ihm gewesen, geschlagen hatte, zog der König von Sodom aus, ihm ent­gegen" (V. 17). Dieses Ereignis barg offensichtlich eine listige Absicht des Feindes in sich. Der "König von Sodom" stellt eine andere Seite der Macht des Feindes dar, die ganz verschieden ist von derjenigen, die wir i "Kedorlaomer und den Königen, die mit ihm waren", sehen. Während wir in Kedorlaomer das Brüllen des Löwen hören, läßt uns der König von Sodom das Zischen der Schlange vernehmen. Aber ob Abraham nun der Schlange oder dem Löwen begegnete, die Gnade des Herrn war völlig genügend, und diese Gnade handelte für den Diener Gottes gerade im Augenblick der Gefahr. "Und Melchisedek, König von Salem, brachte Brot und Wein heraus; und er war Priester Gottes, des Höchsten. Und er segnete ihn und sprach: Gesegnet sei Abram von Gott, dem Höchsten' der Himmel und Erde besitzt! Und gepriesen sei Gott, der Höchste, der deine Feinde in deine Hand geliefert hat!" (V. 18‑20). Beachten wir zunächst den Zeitpunkt, da Melchisedek er­scheint, und dann die doppelte Wirkung seines Dienstes. Er kam Abraham nicht entgegen, als er bei der Verfolgung Kedorlaomers war, sondern als Abraham von dem König von Sodom verfolgt wurde. Das ist ein sehr großer Unterschied. Um einen Kampf aufnehmen zu kön­nen, der einen gefährlicheren Charakter hatte, als der soeben bestandene, war für Abraham eine noch tiefere Gemeinschaft mit Gott notwendig. "Brot und Wein" Melchisedeks erfrischten nach dem Kampf mit Kedor­laomer die Seele Abrahams, während der Segen sein Herz für den Kampf stärkte, den er gegen den König von Sodom zu bestehen hatte.

 

Es ist besonders schön, zu sehen, wie Melchisedek Abraham gegenüber von Gott redet. Er nennt Ihn "Gott, den Höchsten, der Himmel und Erde besitzt, und verkündet Abraham zugleich, daß er von diesem Gott "gesegnet" sei. Das war eine wirksame Vorbereitung für das Zu­sammentreffen mit dem König von Sodom. Ein von Gott gesegneter Mensch brauchte nicht was ihm der Feind anzubieten hatte, und wenn „der Besitzer des Himmels und der Erde" seinen Gesichtskreis aus­füllte, so konnte die "Habe" Sodoms nur wenig Reiz für ihn haben. Daher überrascht es uns nicht, daß Abraham, als der König von Sodom ihm den Vorschlag machte: "Gib mir die Seelen, und die Habe nimm für dich" (V. 21), die Antwort gab: "Ich hebe meine Hand auf zu dem HERRN, zu Gott, dem Höchsten, der Himmel und Erde besitzt: Wenn vom Faden bis zum Schuhriemen, ja, wenn ich irgend etwas nehme von dem, was dein ist ... 1 auf daß du nicht sagest: ich habe Abram reich gemacht" (V. 22. 23). Abraham weigerte sich, durch den König von Sodom bereichert zu werden. Wie hätte er auch denken dürfen, Lot von der Macht dieser Welt zu befreien, wenn er sich selbst durch sie hätte beherrschen lassen! Ich kann meinen Nächsten nur dann befreien, wenn ich selbst völlig frei bin. So lange ich mich selbst im Feuer befinde, kann ich unmöglich einen anderen herausreißen. Der Weg der Absonderung für Gott ist der Weg der Kraft, und zugleich der Pfad des Friedens und des Segens.

 

Die Welt in ihren verschiedenen Formen ist das große Werkzeug, das Satan benutzt, um die Hände des Dieners Christi zu lähmen und seine Zuneigungen erkalten zu lassen. Aber, Gott sei gepriesen! Wenn das Herz aufrichtig ist, naht der Herr stets zur rechten Stunde, um zu erfreuen, zu ermutigen und zu stärken. "Denn des HERRN Augen durchlaufen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist" (2. Chron. 16, 9). Das ist eine ermuti­gende Wahrheit für unsere armen, ängstlichen und zweifelnden Herzen. Christus will unsere Stärke und unser Schild sein. "Er unterweist meine Hände zum Kampf, meine Finger zum Kriege" (Ps. 144, 1). Er be­schirmt das Haupt der Seinen "am Tage der Waffen" (Ps. 140, 7), und Er wird "in kurzem den Satan unter unsere Füge zertreten" (Röm. 16, 20). Möge der Herr unsere Herzen in dieser versuchungsreichen Welt treu für Ihn erhalten!

 

Kapitel 15

 

DIE VERHEISSUNG

 

"Nach diesen Dingen geschah das Wort des HERRN zu Abram in einem Gesicht also. Fürchte dich nicht, Abram; ich bin dir ein Schild, dein sehr großer Lohn" (V. 1). Der Herr wollte nicht zulassen, daß Sein Diener irgendeinen Verlust erlitt, wenn er die Angebote der Welt ausschlug. Es war weit besser für Abraham, Schutz hinter dem Schild des Herrn zu finden und Seines "sehr großen Lohnes" teilhaftig zu sein, als Zuflucht unter der Herrschaft des Königs von Sodom zu suchen und die "Habe Sodoms" anzunehmen. Der in dem ersten Vers unseres Kapitels angedeutete Platz, auf den Abraham gestellt wird, redet in schöner Weise von der Stellung, in die jede Seele durch den Glauben an Christus eingeführt wird. Der HERR war Abrahams "Schild", so daß er in Ihm ruhen konnte, und Er war sein "Lohn", so daß er auf Ihn warten konnte. Genauso ist die Situation des Gläubigen heute: er in et seine Ruhe, seinen Frieden, seine Sicherheit in Christus. Kein Pfeil des Friedens kann den Schild durchdringen, der auch den schwäch­sten Jünger Christi deckt. Und die Zukunft? Christus füllt sie aus. Welch ein kostbares Teil! Welch eine Hoffnung! Ein Teil, das nie er­schöpft werden kann, eine Hoffnung, die nie enttäuscht. Das eine wie das andere ist unabänderlich gesichert durch die Ratschlüsse Gottes und durch das vollbrachte Opfer Christi, und wir genießen jetzt diese Dinge durch den Dienst des in uns wohnenden Heiligen Geistes. Deswegen liegt es auf der Hand, daß der Gläubige, der ein weltliches Ziel verfolgt oder fleischlichen Begierden nachhängt, sich weder über den "Schild" noch den "Lohn" freuen kann. Wenn der Heilige Geist betrübt ist ' so wird Er das nicht darreichen, was das besondere Teil und die besondere Hoffnung des Gläubigen ausmacht. Wir sehen daher in diesem Teil der Geschichte Abrahams, daß, nachdem er aus der Schlacht der Könige  zurückgekehrt war und das Angebot des Königs von Sodom ausgeschlagen hatte, der HERR in einem doppelten Charakter, als "sein Schild und sein sehr großer Lohn", vor seine Seele tritt.

 

Der übrige Teil unseres Kapitels stellt uns die beiden Grundsätze der Sohnschaft und des Erbrechtes vor Augen. "Und Abram sprach: Herr HERR, was willst du mir geben? ich gehe ja kinderlos dahin, und der Erbe meines Hauses, das ist Elieser von Damaskus. Und Abram sprach: 'Siehe, mir hast du keinen Samen gegeben, und siehe, der Sohn meines Hauses wird mich beerben" (V. 2. 3). Abraham wünschte einen Sohn, ,denn er wußte auf Grund des Wortes Gottes, daß "sein Same" das Land erben sollte (Vergl. Kap. 13, 15). Sohnschaft und Erbrecht sind in den Gedanken Gottes untrennbar miteinander verbunden. "Der aus deinem Leibe hervorgehen wird, der wird dich beerben" (V. 4). Die Sohnschaft ist die eigentliche Grundlage von allem. Sie ist außerdem das Ergebnis des unumschränkten Ratschlusses und des Wirkens Gottes, ‑wie wir im Brief des Jakobus lesen: "Er hat uns nach seinem eigenen Willen gezeugt". Schließlich gründet sie sich auf Gottes ewigen Grund­satz der Auferstehung. Wie könnte es anders sein? Der Leib Abrahams war bereits "erstorben", so daß es in seinem wie in jedem anderen Fall eine Sohnschaft in der Macht der Auferstehung sein mußte. Die Natur ist tot und kann für Gott weder etwas hervorbringen noch etwas empfangen. Das Erbteil in seiner ganzen Größe und Herrlichkeit breitet sich vor den Augen des Patriarchen aus, aber wo war der Erbe? Der Leib Abrahams und der Mutterleib Sarahs waren bereits "erstorben", aber der HERR ist der Gott der Auferstehung, und ein "erstorbener Leib" bot deshalb der Macht Gottes nur Gelegenheit zum Handeln. Wäre die Natur nicht tot gewesen, so hätte Gott sie vorher sterben lassen müssen, um Seine Macht völlig offenbaren zu können, denn der eindrucksvollste Schauplatz für den lebendigen Gott ist da, wo die Natur mit ihren hochgerühmten Kräften und ihrer Anmaßung durch das Urteil des Todes verbannt ist. Deshalb lautete das Wort Gottes an Abraham: "Blicke doch gen Himmel und zähle die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: Also wird dein Same sein!" (V. 5). Wenn der Geist der Auferstehung die Seele erfüllt, gibt es keine Grenzen für ihre Segnungen, denn der Gott, der Tote lebendig macht, kann alles bewirken.

 

Abraham "glaubte dem HERRN; und er rechnete es ihm zur Gerechtig­keit" (V. 6). Die hier dem Abraham zugerechnete Gerechtigkeit gründete sich auf seinen Glauben an Gott als den, der Tote lebendig macht. Gerade in diesem Charakter offenbart sich Gott in einer Welt, wo der Tod herrscht, und die Seele, die an Ihn als an einen solchen Gott glaubt, wird vor Gott als gerecht anerkannt. Dadurch wird natürlich der Mensch von einer Mitwirkung völlig ausgeschlossen, denn was kann er in einer Szene des Todes tun? Kann er Tote auferwecken? Kann er die Pforten des Grabes öffnen? Kann er sich der Macht des Todes entziehen und außerhalb dieses traurigen Bereichs Leben und Freiheit erlangen? Keineswegs, und deshalb kann er auch weder Gerechtigkeit hervor­bringen, noch sich in das Verhältnis eines Kindes versetzen. "Gott ist nicht der Gott der Toten, sondern der Lebendigen" (Mark. 12, 27), und darum kann ein Mensch, solange er sich unter der Macht des Todes und unter der Herrschaft der Sünde befindet, weder die Stellung eines Kindes noch den Zustand der Gerechtigkeit kennen. Gott allein kann also die Stellung der Sohnschaft schenken, und nur Er kann Gerechtigkeit zurechnen, und beides knüpft sich an den Glauben an Ihn als den Gott, der Christus aus den Toten auferweckt hat.

 

In dieser Weise behandelt der Apostel die Frage, wenn er im 4. Ka­pitel des Römerbriefes den Glauben Abrahams schildert: "Es ist aber nicht allein seinetwegen geschrieben, daß es ihm zugerechnet worden, sondern auch unsertwegen, denen es zugerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesum, unseren Herrn, aus den Toten auferweckt hat" (V. 24). Der Gott der Auferstehung wird "auch uns" hier als der Gegenstand des Glaubens dargestellt, und unser Glaube an Ihn als die alleinige Grundlage unserer Gerechtigkeit genannt. Hätte Abraham seinen "schon erstorbenen Leib angesehen, nachdem er das mit un­zähligen Sternen besäte Himmelsgewölbe betrachtet hatte, so hätte er nie den Gedanken fassen können, daß sein Same so zahlreich wie eben diese Sterne sein sollte. Aber er blickte nicht auf seinen eigenen Leib, sondern auf die Auferstehungsmacht Gottes, und da diese Macht es war, die den verheißenen Samen hervorbringen sollte, können wir verstehen, daß die Sterne des Himmels und der Sand am Ufer des Meeres nur ganz schwache Bilder waren, denn welches Bild könnte die Wirkung einer Macht erläutern, die Tote auferwecken kann?

 

Ebenso würde ein Sünder, nachdem er die gute Botschaft des Evan­geliums gehört und das reine Licht der Gegenwart Gottes geschaut hat, beim Erkennen der unergründlichen Tiefen seiner sündigen Natur mit Recht ausrufen: "Wie werde ich je fähig sein, in diesem Licht zu woh­nen?" Wo ist die Antwort? In ihm selbst? Nein, die Antwort ist in unserem hochgelobten Herrn, der aus dem Schoß des Vaters kam und bis zum Kreuz, ja, bis ins Grab hinabstieg, und der von dort aus auf den Thron erhöht worden ist, so daß Er durch Seine Person und durch Sein Werk den ganzen Raum ausfüllte, der diese beiden äußersten Endpunkte voneinander trennt. Es kann nichts Höheres geben, als den Schoß des Vaters, diesen ewigen Wohnplatz des Sohnes, und nichts Niedrigeres als das Kreuz und das Grab, aber wie wunderbar ist es, daß ich Christus im Schoß des Vaters finde und auch im Grab. Er stieg in den Tod hinab, um im Staub des Grabes die ganze Last der Sünden und Ungerechtigkeiten Seines Volkes zurückzulassen. Christus im Grab stellt uns das Ende alles dessen vor Augen, was menschlich ist, das Ende der Sünde. In Ihm ist zugleich der Macht Satans für immer eine Schranke gesetzt. Das Grab Jesu ist der große Abschluß von allem. Die Auferstehung jedoch führt uns über diesen Abschluß hinaus und bildet die unvergängliche Grundlage für die Herrlichkeit Gottes und die Segnung des Menschen. Sobald das Auge des Glaubens sich auf einen auferstandenen Christus richtet, findet es in Ihm eine triumphierende Antwort auf Sünde, Gericht, Tod, und Grab. Der, der allen diesen Dingen in göttlicher Weise begegnet ist, ist aus den Toten auferweckt worden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in den Himmeln, und nicht nur das, der Geist des auferweckten und verherrlichten Christus in dem Gläubigen macht ihn zum Sohn. Der Gläubige ist gleichsam aus dem Grab Christi heraus lebendig gemacht, wie wir lesen: "Und euch, als ihr tot waret in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mit lebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat" (Kol. 2,13).

 

Weil die Sohnschaft auf die Auferstehung gegründet ist, steht sie in Verbindung mit vollkommener Rechtfertigung, Gerechtigkeit und Be­freiung von allem, was in irgendeiner Weise gegen uns sein könnte. Gott könnte uns den Zutritt in Seine Gegenwart nicht gestatten, wenn irgendeine Sünde an uns wäre, Er kann nicht einen einzigen Flecken von Sünde an Seinen Söhnen und Töchtern dulden. Der Vater des verlorenen Sohnes konnte diesem keinen Platz an Seinem Tisch anweisen, so lange er noch in Lumpen des fernen Landes gekleidet war. Er konnte ihm entgegengehen, ihm um den Hals fallen und ihn in seinen Lumpen küssen, und dies war eine Seiner Gnade würdige Handlung, aber es war unmöglich, den zerlumpten Sohn an Seinem Tisch Platz nehmen zu lassen. Die Gnade, die den Vater dem verlorenen Sohn entgegentrieb, herrscht durch die Gerechtigkeit, die den Verlorenen in das Haus und in die Nähe des Vaters führte. Es wäre nicht Gnade gewesen, wenn der Vater auf den Sohn gewartet hätte, bis dieser sich in neue, selbst beschaffte Kleider gekleidet hätte, und ebensowenig wäre es gerecht gewesen, ihn in seinen Lumpen ins Haus zu bringen. jedoch Gnade und Gerechtigkeit strahlen in ihrem vollen Glanz, wenn der Vater dem verlorenen Sohn entgegenläuft und ihm um den Hals fällt, ihm aber dennoch nicht eher einen Platz an Seinem Tisch gibt, bis er Seiner hohen Stellung würdig gekleidet ist. Gott ist in Christus bis zu der niedrigsten Stufe des Zustandes des Menschen hinabgestiegen, um ihn durch diese Erniedrigung bis zur höchsten Stufe der Glückselig­keit in Gemeinschaft mit sich selbst zu erheben. Hieraus geht hervor, daß unsere Kindschaft mit allen damit verbundenen Vorrechten durchaus unabhängig von uns selbst ist. Wir haben ebensowenig damit zu schaffen, wie der erstorbene Leib Abrahams und der erstorbene Mutter­leib Sarahs mit einer Nachkommenschaft, die den zahllosen Sternen des Himmels und dem Sand am Meeresufer gleichen sollte. Alles ist von Gott. Gott der Vater entwarf den Plan, Gott der Sohn legte die Grundlage, und Gott der Heilige Geist führt den Bau aus, und dieser Bau trägt die Inschrift: "Durch Gnade, durch Glauben, ohne Gesetzes­werke" (Röm. 3. 28; Eph. 2, 8).

 

Aber unser Kapitel stellt uns noch einen anderen wichtigen Gegenstand vor Augen, nämlich das Erbrecht. Nachdem die Frage der Sohnschaft und der Gerechtigkeit göttlich geordnet war, sprach Gott zu Abraham: "Ich bin der HERR, der dich herausgeführt hat aus Ur in Chaldäa, um dir dieses Land zu geben, es zu besitzen" (V. 7). Hier wird die wichtige Erbschaftsfrage behandelt und der Weg beschrieben, den die erwählten Erben zu gehen haben, bevor sie das verheißene Erbe erreichen. "Wenn aber Kinder, so auch Erben ‑ Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir anders mitleiden, auf daß wir auch mitverherrlicht werden" (Röm. 8, 17). Unser Weg zum Reich führt durch Leiden, Kummer und Trübsal, aber durch den Glauben können wir sagen, daß "die Leiden der Jetzt­zeit nicht wert sind, verglichen zu werden mit der zukünftigen Herr­lichkeit, die an uns geoffenbart werden soll" (Röm. 8, :[8). Wir wissen ferner, daß "das schnell vorübergehende Leichte unserer Drangsal uns ein über die Maßen überschwengliches, ewiges Gewicht von Herrlich­keit bewirkt" (2. Kor. 4, 17), und endlich "rühmen wir uns auch der Trübsale, da wir wissen, daß Trübsal Ausharren bewirkt, das Aus­harren aber Erfahrung, die Erfahrung aber Hoffnung" (Röm. 5, 3. 4).

 

Es ist eine hohe Ehre und ein Vorrecht für uns, wenn es uns erlaubt wird, aus dein Kelch unseres Herrn zu trinken, mit Seiner Taufe getauft zu werden und in Seiner Gemeinschaft den Weg zu gehen, der zu unserem Erbteil führt. Der Erbe wie die Miterben erreichen dieses Erb­teil auf dem Weg des Leidens.

 

Erinnern wir uns jedoch, daß die Leiden, an denen die Miterben teil­haben, nicht mit Strafe zu tun haben. Es ist kein Leiden wegen der Sünde unter der Hand der göttlichen Gerechtigkeit, denn dieses Leiden hat Christus, das Schlachtopfer Gottes, am Kreuz, vollkommen er­duldet, als Gottes Gerechtigkeit Ihn schlug. "Denn es hat ja Christus einmal für Sünden gelitten" (i. Petr. 3, 18), und dieses "einmal" ge­schah am Kreuz und sonst nirgends. Nie hat Er vorher für Sünden ge­litten, und nie wird Er von neuem für Sünden leiden können. "jetzt aber ist Er einmal in der Vollendung der Zeitalter geoffenbart worden zur Abschaffung der Sünde durch Sein Opfer." "Christus ist einmal geoffenbart worden" (Hebr. 9, 26. 28).

 

Es gibt zwei Gesichtspunkte, unter denen wir den leidenden Christus betrachten können: Zunächst als von Gott geschlagen, und dann als von den Menschen verworfen. In dem ersten Leiden stand Er ganz allein, in dem zweiten haben wir das Vorrecht, mit Ihm vereint zu sein. In dem ersten Leiden mußte Er ganz allein sein, denn wer hätte Ihm zur Seite stehen können? Er trug allein den Zorn Gottes. Einsam stieg Er hinab in den "immer fließenden Bach, in welchem nicht gearbeitet und nicht gesät wird" (5. Mose 21, 4), und dort ordnete Er für immer die Frage unserer Sünden. An diesen Leiden Christi hatten wir keinen Teil, obwohl wir ihnen alles verdanken. Ganz allein hat Er gekämpft und gesiegt, aber Er teilt die Beute mit uns. Er war allein "in der Grube des Verderbens, in kotigem Schlamm" (Ps. 40, 2). Sobald Er aber Seinen Fuß auf den ewigen "Fels" der Auferstehung stellte, vereinigte Er uns mit sich. Er war allein, als Er am Kreuz den "lauten Schrei ausstieß, aber Er hat Gefährten, wenn Er das "neue Lied" singt (Ps. 40, 3).

 

Nun ergibt sich die Frage: Wollen wir uns weigern, mit Ihm zu leiden von seiten der Menschen, nachdem Er für uns von seiten Gottes gelitten hat? Daß es in gewissem Sinn eine Frage ist, geht daraus hervor, daß der Heilige Geist in diesem Zusammenhang beständig das Wörtchen "wenn" gebraucht. "Wenn wir anders mitleiden" (Röm. 8, '17); "wenn wir ausharren, so werden wir auch mit herrschen" (2. Tim. 2, 12). Es gibt kein "wenn" bezüglich der Kindschaft. Wir erlangen nicht durch Leiden die hohe Stellung von Söhnen, sondern durch die lebendigma­chende Kraft des Heiligen Geistes, gegründet auf das vollbrachte Werk Christi, gemäß dem ewigen Ratschluß Gottes. Diese Stellung ist unan­tastbar. Aber als solche, die der Familie Gottes angehören, die sich als Kinder bereits im Hause befinden, sind wir berufen zu leiden. Unser Weg zum Reich führt allerdings durch Leiden, und das Maß dieses Leidens entspricht unserer Hingabe für den König und unserer Gleich­förmigkeit mit Ihm. Je mehr wir Ihm ähnlich sind, desto mehr werden wir mit Ihm leiden, und je tiefer unsere Gemeinschaft mit Ihm ist im Leiden, desto tiefer wird sie auch mit Ihm sein in der Herrlichkeit.

 

Es besteht ein Unterschied zwischen dem Haus des Vaters und dem Reich des Sohnes. Das erste spricht von Fähigkeit, das zweite von einer angewiesenen Stellung. Alle meine Kinder können rund um meinen Tisch sitzen, aber ihre Freude an meiner Gesellschaft und meiner Unter­haltung hängt ganz von ihrer Fähigkeit ab. Eins mag in der vollen Freude über sein Kindes‑Verhältnis auf meinem Schoß sitzen, ohne aber fähig zu sein, ein einziges meiner Worte zu verstehen, während ein anderes vielleicht ungewöhnliche Intelligenz in der Unterhaltung zeigt, ohne deshalb etwa in seinem Verhältnis zu mir glücklicher zu sein als das Kind auf meinen Knieen. Aber sobald es sich um den Dienst meiner Kinder für mich oder um ihre öffentliche Identifizierung mit mir handelt, liegt die Sache ganz anders. Dieser Vergleich ist jedoch nur eine schwache Erläuterung des Gedankens von der Fähigkeit im Haus des Vaters und der angewiesenen Stellung im Reich des Sohnes.

 

Wir sollten jedoch stets daran denken, daß unser Leiden mit Christus nicht knechtisches Joch ist, sondern ein Vorrecht, nicht ein eisernes Gesetz, sondern eine Gabe der Gnade, nicht ein gezwungener Dienst, sondern eine freiwillige Hingabe. Denn euch ist es in Bezug auf Chri­stum geschenkt worden, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden" (Phil. 1, 29). Ferner unterliegt es wohl keinem Zwei­fel, daß das wahre Geheimnis des Leidens für Christus darin besteht, daß die Zuneigungen unserer Herzen in Ihm ihren Mittelpunkt finden. Je mehr ich Jesus liebe, in desto engerer Gemeinschaft mit Ihm werde ich meinen Weg gehen, je näher ich mit Ihm verbunden bin, um so treuer werde ich Ihn nachahmen, und je treuer ich Ihn nachahme, soviel mehr werde ich mit Ihm leiden. So hat alles seine Ursache in der Liebe zu Christus, und es ist eine Grundwahrheit, daß wir Ihn lieben, weil Er uns zuerst geliebt hat. Hüten wir uns in diesem wie in jedem an­deren Punkt vor einem gesetzlichen Geist, denn wir dürfen nicht meinen, daß jemand für Christus leidet, der unter dem Joch der Gesetzlichkeit steht. Es ist vielmehr zu befürchten, daß solch einer weder Christus noch die gesegnete Stellung der Kindschaft kennt, daß er nicht in der Gnade befestigt ist, sondern eher versucht, durch Gesetzeswerke in die Familie einzutreten, als auf dem Weg des Leidens das Reich zu erreichen.

 

Hüten wir uns aber auch andererseits, daß wir nicht vor dem Kelch und der Taufe unseres Herrn zurückweichen. Wir können uns nicht der Segnungen rühmen, die Sein Kreuz uns sichert, während wir uns wei­gern, an der Verwerfung teilzunehmen, die dieses Kreuz in sich schließt! Wir dürfen überzeugt sein, daß auf dem Weg zum Reich nicht die Gunst und das Glück dieser Welt zu finden sind. Wenn ein Christ in der Welt vorwärts kommt, so hat er große Ursache zu fürchten, daß er seinen Weg nicht in Gemeinschaft mit Christus geht. "Wenn mir jemand dient, so folge er mir nach; und wo ich bin, da wird auch mein Diener sein!“  (Joh. 12, 26). Was war das Ziel der irdischen Laufbahn Christi? Strebte Er nach Einfluß und nach einer hohen Stellung in dieser Welt? Nein. Er fand Seinen Platz auf dem Kreuz zwischen zwei verurteilten Verbrechern. "Aber", wird man sagen, "Gott hatte Seine Hand darin.“ Allerdings, aber auch des Menschen Hand war im Spiele. Und diese Wahrheit zieht unvermeidlich unsere Verwerfung seitens der Welt nach sich, wenn wir nur in Gemeinschaft mit Christus sind. Unsere Vereinigung mit Christus, die uns den Himmel öffnet, wirft uns aus dieser Welt hinaus, und wenn wir von dem ersten reden, ohne von dem zweiten etwas zu erfahren, beweist dies nur, daß bei uns etwas nicht in Ordnung ist. Wenn Christus heute auf der Erde wäre, wie würde Sein Weg sein, und wo würde er enden? Würden wir gerne mit Ihm gehen? Gott schenke uns Gnade, diese Fragen im Licht Seines Wortes zu be­antworten, das schärfer ist als jedes zweischneidige Schwert, und möge der Heilige Geist uns treu machen für unseren gekreuzigten und ver­worfenen Herrn! Wer im Geist lebt, wird von Christus erfüllt sein und sich nicht mit den Leiden, sondern mit dem beschäftigen, für den er leidet. Wenn das Auge auf Christus ruht, wird das Leiden unbedeutend erscheinen im Vergleich mit der gegenwärtigen Freude und der zu­ künftigen Herrlichkeit.

 

Wir wollen jetzt noch einen Blick auf das bedeutungsvolle Gesicht Abrahams werfen, das uns in den Schlußversen unseres Kapitels mitgeteilt wird. "Und es geschah, als die Sonne untergehen wollte, da fiel ein tiefer Schlaf auf Abram; und siehe, Schrecken, dichte Finsternis überfiel ihn. Und er sprach zu Abram: Gewißlich sollst du wissen, daß dein Same ein Fremdling sein wird in einem Lande, das nicht das ihre ist; und sie werden ihnen dienen, und sie werden sie bedrücken vier­hundert Jahre. Aber ich werde die Nation auch richten, welcher sie dienen werden; und danach werden sie ausziehen mit großer Habe ... Und es geschah, als die Sonne untergegangen und dichte Finsternis geworden war, siehe da, ein rauchender Ofen und eine Feuerflamme, die zwischen jenen Stücken hindurchfuhr" (V. 12‑17).

 

Man kann sagen, daß die ganze Geschichte Israels in diesen zwei Bil­dern des "rauchenden Ofens" und der "Feuerflamme" zusammengefaßt ist. Der "rauchende Ofen" zeigt uns die verschiedenen Zeitabschnitte, in denen die Israeliten in Leiden und Trübsale gebracht waren, wie z. B. in der langen Sklaverei in Ägypten, in der Zeit ihrer Unterwer­fung unter die Könige Kanaans, in der babylonischen Gefangenschaft, und schließlich in ihrer seitherigen Zerstreuung und Erniedrigung. Während dieser Zeitabschnitte sehen wir Israel gleichsam durch den rauchenden Ofen gehen (Siehe 5. Mose 4, 20; 1. Kön. 8, 51; Jes. 48, 10).

 

Die Feuerflamme hingegen bildet jene Abschnitte in der ereignisvollen Geschichte Israels, in denen der HERR in Gnade erschien, um ihnen beizustehen, wie z. B. die Befreiung aus Ägypten durch die Hand Moses, die Befreiung von der Macht der Könige Kanaans durch den Dienst der verschiedenen Richter, die Rückkehr aus Babylon auf den Befehl des Cyrus, sowie am Ende die Befreiung des Volkes, wenn Christus in Seiner Herrlichkeit erscheinen wird. Das Erbe muß durch den rauchen­den Ofen hindurch erreicht werden, und je finsterer der Rauch des Ofens ist, desto glänzender und herrlicher wird die Feuerflamme" des Heils ,Gottes sein.

 

Dieser Grundsatz ist auch nicht nur auf das Volk Gottes insgesamt anwendbar, sondern ebensogut auf einzelne. Alle, die je eine hervor­ragende Stellung als Diener erlangt haben, sind durch den rauchenden Ofen gegangen, ehe sie sich der Feuerflamme erfreuen durften. "Schrek­ken und dichte Finsternis" erfüllten den Geist Abrahams. Jakob mußte zwanzig Jahre lang im Hause Labans mühsame Arbeiten verrichten. Joseph fand seinen rauchenden Ofen des Elends in den Kerkern Ägyp­tens. Mose brachte vierzig Jahre in der Wüste zu. So muß es mit den Dienern Gottes stets sein. Sie müssen zunächst "erprobt" werden, und erst, wenn sie "tadellos" erfunden sind, können sie ihren Dienst an­treten (Vergl. 1. Tim. 3, 10).

 

Ein Kind Gottes und ein Diener Christi zu sein, sind zwei ganz ver­schiedene Dinge. Ich mag mein Kind sehr lieb haben, aber wenn ich es im Garten an die Arbeit stelle, tut es vielleicht mehr Falsches als Gutes. Warum? Etwa deshalb, weil es nicht ein geliebtes Kind ist? Nein, sondern weil es nicht geübt ist. Darin besteht der Unterschied. Ver­hältnis und Dienst sind zwei verschiedene Dinge. Das heißt nicht, daß nicht alle Kinder Gottes etwas zu tun, zu leiden und zu lernen haben. Sie haben es ohne Zweifel, aber es bleibt stets wahr, daß der öffentliche Dienst und die geheime Zucht in den Wegen Gottes eng miteinander verbunden sind. Jeder, der viel an die Öffentlichkeit tritt, braucht eine demütige Gesinnung, ein gereiftes Urteil, einen unterwürfigen und der Welt abgestorbenen Geist, einen gebrochenen Willen, einen sanften Ton, kurz, all die schönen und sicheren Ergebnisse der geheimen Zucht Gottes, und wir werden sehen, daß alle, die einen hervorragenden Platz einnehmen, ohne diese Eigenschaften in irgendeinem Maß zu besitzen, früher oder später ermatten.

 

Kapitel 16

 

HAGAR

 

Hier finden wir, wie der Unglaube seinen dunklen Schatten auf den Geist Abrahams wirft und ihn eine Zeitlang wieder von dem Weg des glücklichen und einfachen Gottvertrauens ablenkt. "Und Sarai sprach zu Abram, Siehe doch, der HERR hat mich verschlossen, daß ich nicht gebäre" (V. 2). Diese Worte zeugen von der üblichen Ungeduld des Unglaubens, und Abraham hätte sie entsprechend behandeln und vom Herrn die Erfüllung Seiner gnädigen Verheißung geduldig erwarten sollen. Unser armes Herz zieht naturgemäß alles andere einer Stellung des geduldigen Wartens vor. Es benutzt lieber eigene Hilfsmittel und Pläne, als in dieser Stellung zu bleiben. Im Anfang an eine Verheißung glauben oder ihre Erfüllung geduldig abwarten, sind zwei verschiedene Dinge. Wir können diesen Unterschied in dem Verhalten eines Kindes deutlich wahrnehmen. Wenn ich meinem Kind etwas verspreche, zwei­felt es überhaupt nicht an meinem Wort, aber dennoch entdecke ich bei ihm Unruhe und Ungeduld, weil es wissen möchte, wie und wann ich mein Versprechen erfüllen werde. Das Betragen eines Kindes aber ist ein Spiegel, in dem auch der weiseste Mensch sein eigenes Bild sehen kann. Abraham zeigt Glauben in Kap. 15, und dennoch fehlt ihm die Geduld in Kap. 16. Wie kraftvoll und schön sind daher die Worte des Apostels in Hebr. 6: "Daß ihr nicht träge werdet, sondern Nachahmer derer, welche durch Glauben und Ausharren die Verheißungen ererben". Gott gibt eine Verheißung. Der Glaube glaubt daran. Die Hoffnung ge­nießt sie im voraus, und die Geduld erwartet ruhig ihre Erfüllung.

 

Die Bedeutung der an Abraham gerichteten Worte Sarahs ist diese: "Der Herr hat mich versäumt. Vielleicht wird meine ägyptische Magd sich als eine Hilfsquelle für mich erweisen". Alles außer Gott sagt einem Herzen zu, das unter dem Einfluß des Unglaubens steht, und man ist oft nicht wenig erstaunt, wenn man sieht, an welche erbärmlichen Dinge der Gläubige hängen kann, wenn er einmal das Gefühl der Nähe Gottes verloren und folglich vergessen hat, daß Seine Treue unveränderlich ist und Er in allem genügt. Wir verlieren den friedvollen und ausgegliche­nen Seelenzustand, der für das Zeugnis des Gläubigen so notwendig ist, und nehmen wie die Welt unsere Zuflucht zu jedem Hilfsmittel, das sich uns zur Erreichung des gewünschten Ziels anbietet und nennen das. dann "einen guten Gebrauch von den vorhandenen Mitteln machen".

 

Doch es ist eine bittere Sache, wenn wir den Platz der unbedingten Abhängigkeit von Gott aufgeben, und die Folgen müssen traurig sein. Hätte Sara gesagt: "Die Natur hat mich im Stich gelassen, aber Gott ist meine Hilfe", so hätte sie ihren wirklichen Platz eingenommen, denn die Natur hatte sie in der Tat im Stich gelassen. Aber nach dem Urteil Gottes und dem des Glaubens war die Natur in Hagar nicht besser als in Sara. Ob die Natur alt oder jung ist, spielt für Gott keine Rolle und deshalb auch nicht für den Glauben, aber die Kraft dieser Wahr­heit ist nur dann in uns, wenn wir in Gott selbst unseren lebendigen Mittelpunkt finden. Sobald wir unsere Blicke von Gott abwenden, sind wir allen Erfindungen des Unglaubens preisgegeben. Nur dann, wenn wir uns bewußt auf den lebendigen, allein wahren und allein weisen Gott stützen, sind wir imstande, von allen menschlichen Hilfsmitteln abzusehen. Das bedeutet nicht, daß wir die Werkzeuge verachten, die Gott gebraucht, denn das wäre Sorglosigkeit und nicht Glauben. Der Glaube schätzt das Werkzeug sehr, jedoch nicht um des Werkzeugs willen, sondern weil Gott es ist, der es gebraucht, während der Unglaube nur das Werkzeug sieht und seiner scheinbaren Macht jeden Erfolg zuschreibt, anstatt es nach der allmächtigen Kraft dessen zu beurteilen, der sich seiner bedient. So sprach Saul zu David, als er ihn mit dem Philister verglich: "Du vermagst nicht wider diesen Philister zu gehen, um nüt ihm zu kämpfen; denn du bist ein Jüngling". Aber in dem Herzen Davids handelte es sich nicht um die Frage, ob er, sondern Ob Gott imstande war, Goliath zu besiegen.

 

Der Pfad des Glaubens ist ein sehr einfacher und schmaler Pfad. Der Glaube vergöttert weder die Mittel, noch verachtet er sie. Er schätzt sie, soweit sie die Mittel sind, die Gott gebraucht, aber nicht mehr. Es be­steht ein großer Unterschied zwischen dem Gebrauch, den Gott von dem Geschöpf macht, um mir zu dienen, und dem Gebrauch, den der Mensch von ihm macht, um Gott auszuschließen. Dieser Unterschied wird leider nicht genug beachtet. Gott bediente sich der Raben, um Elia zu ernähren, aber Elia bediente sich ihrer nicht, um Gott auszu­schließen. Wenn das Herz wirklich sein Vertrauen auf Gott setzt, ist es nicht um die Mittel besorgt. Es wartet auf Ihn in der vollen Gewiß­heit, daß Er stets segnen, helfen und sorgen wird, unabhängig davon, welche Mittel Er benutzt.

 

In dem vorliegenden Fall war Hagar offensichtlich nicht das Werkzeug Gottes, um die dem Abraham gegebene Verheißung zu erfüllen. Gott hatte Abraham zwar einen Sohn verheißen, aber Er hatte nicht gesagt, daß er von Hagar kommen würde, und tatsächlich belehrt uns die Er­zählung, daß Abraham wie Sara "ihre Schmerzen vervielfältigten", indem sie bei Hagar Hilfe suchten. Denn als Hagar sah, „daß sie schwanger war, da wurde ihre Herrin gering in ihren Augen" (V. 4), und dies war nur der Anfang der vielfältigen Schmerzen, die aus der Suche nach menschlichen Hilfsmitteln hervorgingen. Eine ägyptische Magd trat die Würde Saras mit Füßen, und sie selbst befand sich in einem Zustand der Schwachheit und der Verachtung. Wir halten unsere Würde und unsere Kraft nur aufrecht, wenn wir unsere Schwachheit und Ab­hängigkeit fühlen. Niemand ist so vollständig unabhängig von seiner Umgebung, wie der, der wirklich im Glauben lebt und nur auf Gott vertraut. Sobald aber ein Kind Gottes sich zum Schuldner der Natur oder der Welt macht, verliert es seine Würde, und es wird bald seinen Verlust spüren. Es ist schwer, den Verlust zu ermessen, der aus dem geringsten Abweichen von dem Weg des Glaubens entsteht. Ohne Zweifel werden allen, die diesen Weg gehen, Prüfungen und Übungen begegnen, aber eins ist sicher: Die Freude und die Segnungen, die ihr Teil sein werden, entschädigen sie mehr als reichlich. Andererseits wer­den diejenigen, die von diesem Weg abweichen, weit schwereren Prü­fungen entgegengehen, und zwar ohne einen Ersatz zu finden.

 

"Und Sarai sprach zu Abram: Das Unrecht, das mir widerfährt, fällt auf dich!" (V. 5). Wenn wir gefehlt haben, möchten wir oft gern die Schuld auf einen anderen schieben. Sara erntete nur die Frucht ihres eigenen Vorschlags, und dennoch sagte sie zu Abraham: "Das Unrecht, das mir widerfährt, fällt auf dich", und damit versuchte sie, sich mit der Erlaubnis Abrahams von einer Prüfung zu befreien, die ihre eigene Ungeduld über sie gebracht hatte. "Und Abram sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist in deiner Hand; tue ihr, was gut ist in deinen Augen.

 

Und Sarai behandelte sie hart, und sie floh von ihr hinweg" (V. 6). Doch so geht es nicht. Durch eine harte Behandlung kann man nicht „die Magd" loswerden. Wenn wir Fehler begehen und die Folgen uns treffen, können wir uns ihnen nicht durch Hochmut und Gewalttätigkeit entziehen. Wir versuchen zwar oft diese Methode, aber wir verschlim­mern dadurch nur die Angelegenheit. Wenn wir gefehlt haben, sollten wir uns demütigen, unseren Fehler bekennen und von Gott die Be­freiung erwarten. Aber wir finden davon nichts in dem Verhalten Saras. Im Gegenteil, sie hatte gar kein Bewußtsein davon, daß sie etwas Böses getan hatte, und anstatt von Gott die Befreiung zu erwarten, sucht sie Befreiung auf Ihrem eigenen Weg. Aber alle unsere An­strengungen, um unsere Fehler wieder gutzumachen, bevor wir sie völlig bekannt haben, machen unseren Weg nur schwieriger. Aus diesem Grund mußte Hagar zu ihrer Herrin zurückkehren, um dort einem Sohn das Leben zu geben, der nicht der Sohn der Verheißung war, 'sondern sich als eine große Prüfung für Abraham und sein Haus erwies, wie wir noch sehen werden.

 

Wir können dies alles unter einem zweifachen Gesichtspunkt betrachten. Zunächst lehrt es uns einen praktischen Grundsatz von hohem Wert, und dann liefert es uns eine interessante bildliche Belehrung. Was den praktischen Grundsatz betrifft, so lernen wir, daß, wenn wir durch den Unglauben unserer Herzen Fehler machen, wir diese weder sofort, noch durch einen Kunstgriff heilen können. Die Dinge müssen ihren Gang gehen. "Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten. Denn wer für sein eigenes Fleisch sät, wird von dem Fleische Ver­derben ernten; wer aber für den Geist sät, wird von dem Geiste ewiges Leben ernten" (Gal. 6, 7. 8). Diesem unveränderlichen Grundsatz begegnen wir immer wieder in der Heiligen Schrift und in unserer eigenen Geschichte. Die Gnade vergibt die Sünde und stellt die Seele wieder her, aber was einmal gesät ist, das muß geerntet werden. Abra­ham und Sara mußten die Gegenwart der Magd und ihres Sohnes tagelang ertragen und konnten nur auf einem Weg, der nach den Ge­danken Gottes war, von ihnen befreit werden. Es liegt ein besonderer Segen darin, wenn man sich den Händen Gottes überläßt. Hätten Abraham und Sara sich allein diesen Händen anvertraut, so wären sie nie durch die Gegenwart der Magd und ihres Sohnes beschwert worden, aber weil sie zu der Natur ihre Zuflucht genommen hatten, mußten sie ,die Folgen tragen. Wir gleichen oft einem jungen Stier, der noch nicht ,ans Joch gewöhnt ist (Jer. 31, 18), während es besser für uns wäre, uns still und ruhig zu verhalten "gleich einem entwöhnten Kinde bei seiner Mutter" (Ps. 131, 2). Es wird kaum zwei Bilder geben, die einen schärferen Gegensatz bilden, als ein junger, ungezähmter Stier und ein entwöhntes Kind. Der ungezähmte Stier stellt einen Menschen vor,. der sich unter dem Joch der Umstände bäumt und sträubt und sein Joch dadurch nur noch schmerzlicher macht. Das entwöhnte Kind ist ein Bild von dem, der sein Haupt demütig unter alles beugt und durch die gänzliche Unterwürfigkeit seines Geistes sein Los erleichtert.

 

Was die in diesem Kapitel außerdem enthaltene bildliche Lehre betrifft, so sehen wir in Hagar und ihrem Sohn Bilder des Bündnisses der Werke ­und derjenigen, die dadurch in Knechtschaft gebracht sind. "Denn es steht geschrieben, daß Abraham zwei Söhne hatte, einen von der Magd' und einen von der Freien; aber der von der Magd war nach dem Fleische geboren, der aber von der Freien durch die Verheißung, was, einen bildlichen Sinn hat; denn diese sind zwei Bündnisse: eines vom Berge Sinai, das zur Knechtschaft gebiert, welches Hagar ist" (Gal.. 4, 22‑24). In dieser wichtigen Stelle wird das "Fleisch" der "Verhei­ßung" gegenüber gestellt, und dadurch verstehen wir nicht nur die Ge­danken Gottes über die Bedeutung des Wortes "Fleisch", sondern auch über Abrahams Anstrengung, durch das Mittel Hagar den verheißenen Samen zu erlangen, anstatt vertrauensvoll in der Verheißung Gottes zu ruhen. Die beiden Bündnisse werden durch Hagar und Sara bildlich vorgestellt und sind einander vollkommen entgegengesetzt. Das eine Bündnis gebar zur Knechtschaft, indem es die Fähigkeit des Menschen, "zu tun. oder "nicht zu tun" untersuchte und das Leben ganz von jener Fähigkeit abhängig machte. "Wer diese Dinge getan hat, wird durch sie leben" (Gal. 3, 12). Das war das Hagar‑Bündnis. Aber das Sara‑Bündnis offenbart Gott als den Gott der Verheißung, einer Ver­heißung, die von dem Menschen unabhängig und gegründet ist auf die­ Bereitwilligkeit und die Fähigkeit Gottes, sie zu erfüllen. Gott knüpft kein "wenn" an Seine Verheißungen. Er gibt sie ohne Bedingung und ist entschlossen, sie zu erfüllen, und der Glaube ruht in Ihm in voll­kommener Freiheit des Herzens. Keine Anstrengung der Natur ist nötig, um die Verheißungen Gottes zu erfüllen, und eben in diesem Punkt fehlten Abraham und Sara. Sie suchten durch eigene Mittel ein. Ziel zu erreichen, das ihnen durch eine Verheißung Gottes fest zuge­sichert war. Das ist der große Fehler des Unglaubens. Durch seine ruhe­lose Geschäftigkeit bildet er einen undurchdringlichen Nebel um die Seele, der die Strahlen der Herrlichkeit Gottes nicht zu ihr gelangen läßt. "Und er tat daselbst nicht viele Wunderwerke wegen ihres Un­glaubens" (Matth. 13, 58). Es ist einer der besonderen Charakterzüge des Glaubens, daß er stets Gott sich selbst offenbaren läßt, und wenn Gott sich offenbart, dann bleibt dem Menschen nur übrig, den Platz eines glücklichen Anbeters einzunehmen.

 

Der Irrtum der Galater bestand darin, daß sie versuchten, dem etwas von der "Natur beizumischen, was Christus am Kreuz bereits für sie voll­bracht hatte. Das Evangelium, das ihnen von Paulus verkündigt worden war, und das sie angenommen hatten, war die einfache Darstellung der unumschränkten, bedingungslosen Gnade Gottes. Jesus Christus war ihnen, als unter ihnen gekreuzigt, vor Augen gemalt worden (Gal. 3, 1). Das war nicht nur eine Verheißung Gottes, sondern die göttliche und herrliche Erfüllung einer Verheißung. Ein gekreuzigter Christus ordnete alles hinsichtlich der Forderungen Gottes und der Bedürfnisse des Menschen. Aber die falschen Lehrer verdrehten dies oder versuchten es jedenfalls, indem sie sagten: "Wenn ihr nicht beschnitten worden seid nach der Weise Moses', so könnt ihr nicht errettet werden" (Apg. 15, 1). Sie machten auf diese Weise, wie der Apostel sagt, in Wirklichkeit "die Gnade Gottes ungültig", aber dann wäre Christus "umsonst gestorben" (Gal. 2, 21). Christus war entweder ein vollkommener, oder überhaupt kein Erretter. Sobald jemand sagt: Wenn ihr nicht so c>der so seid, könnt ihr nicht errettet werden', untergräbt er das Christentum, denn das Christentum offenbart Gott, wie Er zu mir, einem schuldigen, ver­lorenen, durch sich selbst zu Grunde gerichteten Sünder, herabgestiegen ist und mir durch Sein eigenes Werk am Kreuz eine völlige Erlösung von meinen Sünden und eine vollkommene Befreiung aus meinem ver­lorenen Zustand bringt. Wenn mir daher jemand sagt: Du mußt so oder so sein, um errettet zu werden', dann raubt er dem Kreuz seine Herrlichkeit und mir meinen Frieden, denn wenn das Heil von unserem Sein oder Tun abhängt, sind wir verloren. Aber es ist nicht so. Der große Grundsatz des Evangeliums lautet: Gott ist alles, und der Mensch ist nichts. Es gibt keine Mischung von Gott und Mensch ‑alles ist von Gott. Der durch das Evangelium geschenkte Friede gründet sich nicht teilweise auf das Werk Christi und teilweise auf das des Menschen, sondern ganz auf das Werk Christi, weil dieses Werk für immer vollkommen ist und alle, die darauf vertrauen, so vollkommen macht, wie es selbst ist.

 

Unter dem Gesetz verhielt sich Gott sozusagen still, um zu sehen, was der Mensch tun könnte. Aber im Evangelium sehen wir Ihn handeln, und der Mensch ist berufen, "stille zu sein und die Rettung des HERRN zu sehen" (2. Mose 14, 13). Aus diesem Grund zögert der Apostel nicht, den Galatern zu sagen: "Ihr seid abgetrennt von dem Christus, so viele ihr im Gesetz gerechtfertigt werdet; ihr seid aus der Gnade gefallen" (Gal. 5, 4). Wenn der Mensch selbst irgend etwas zu tun hätte, so wäre Gott ausgeschlossen und die Erlösung unmöglich, weil der Mensch niemals die Erlösung durch das vollbringen kann, was ihn als ein verlorenes Geschöpf erweist. Wenn es also eine Frage der Gnade ist, so muß es ausschließlich Gnade sein, und nicht halb Gnade und halb Gesetz. Die beiden Bündnisse sind völlig verschieden; es muß entweder das eine oder das andere sein, nicht aber halb Sara und halb Hagar. Ist es Hagar, so hat Gott nichts dabei zu tun, und ist es Sara, so hat der Mensch nichts dabei zu tun. Das Gesetz richtet sich an den Menschen. Es stellt ihn auf die Probe, offenbart seinen wahren Wert, zeigt, daß er abgefallen ist, und bringt ihn, so lange er mit dem Gesetz zu schaffen hat, d. h. so lange er lebt, unter den Fluch. "Das Gesetz herrscht über den Menschen, so lange er lebt" (Röm. 7, 1). Wenn er aber gestorben ist, so hat natürlich diese Herrschaft über ihn aufgehört (siehe Röm. 7, 1‑6; Gal. 2, 19; Kol. 2, 20; 3, 3), obwohl das Gesetz stets in voller Kraft bestehen bleibt, um jeden lebenden Menschen zu verfluchen.

 

Das Evangelium jedoch offenbart Gott als den Erretter der Verlorenen, der den Schuldigen vergibt und die Toten lebendig macht, während es bestätigt daß der Mensch verloren, verderbt und tot ist. Es offenbart uns Ihn nicht als einen Gott, der irgend etwas von dem Menschen fordert (denn was könnte von einem Menschen erwartet werden, der tot und verderbt ist?), sondern als den, der Seine freie Gnade in der Er­lösung offenbart.

 

Der Unterschied ist also wesentlich und läßt die außergewöhnliche Strenge in den Worten des Apostels begreifen, wenn er zu den Galatern sagt: "Ich wundere mich", ‑ "Wer hat euch bezaubert?" ‑ "Ich fürchte um euch", ‑ "Ich bin eurethalben in Verlegenheit", ‑ "Ich wollte, daß sie sich auch abschnitten, die euch aufwiegeln!" Das ist die Sprache des Heiligen Geistes, der den Wert eines vollkommenen Christus und einer völligen Errettung kennt, und der weiß, wie wesentlich die Erkenntnis von beidem für einen verlorenen Sünder ist. Wir finden solche Worte in keinem anderen Brief, selbst nicht in dem an die Korinther, obwohl der Apostel hier großer Unordnung entgegentreten mußte. jeder menschliche Fehler und Irrtum kann durch die Gnade Gottes berichtigt werden, aber die Galater handelten wie Abraham in unserem Kapitel, sie wandten sich von Gott ab und kehrten zu dem Fleisch zurück. Wo wäre ein Heilmittel in diesem Fall zu finden? Wie könnte man einen Irrtum berichtigen, der im Sichabwenden von dem besteht, was allein alles berichtigen kann? Aus der Gnade fallen heißt unter das Gesetz zurückkehren, von dem man niemals etwas anderes als Fluch ernten kann.

 

Kapitel 17

 

ABRAHAM VOR GOTT, DEM ALLMÄCHTIGEN. DER BUND DER BESCHNEIDUNG

 

In diesem Kapitel begegnen wir dem Heilmittel Gottes für den Fehler Abrahams. "Und Abram war neunundneunzig Jahre alt, da erschien der HERR dem Abram und sprach zu ihm: Ich bin Gott, der All­mächtige; wandle vor meinem Angesicht und sei vollkommen" (V. 1).

 

(Ich möchte hier eine Bemerkung zu dem Ausdruck "vollkommen" ein­schalten. Wenn Abraham berufen wurde, "vollkommen" zu sein, so bedeutet das nicht eine Vollkommenheit in ihm selbst, (er war in diesem Sinn nie vollkommen und konnte es nicht sein), sondern einfach eine Vollkommenheit bezüglich des Gegenstandes, der vor seinem Herzen stand. Es ist eine Aufforderung, seine Hoffnungen und Erwar­tungen vollkommen und ungeteilt auf den "Allmächtigen" zu setzen.

 

Das Wort "vollkommen" findet sich im Neuen Testament in mindestens drei verschiedenen Bedeutungen. In Matth. 5, 48 lesen wir: "Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist". Der Zusammenhang belehrt uns, daß sich das Wort "vollkommen" hier auf den Grundsatz unseres Wandels bezieht, denn im 44. Vers lesen wir: "Liebet eure Feinde ... , damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist; denn Er läßt regnen über Gerechte und Ungerechte". "Vollkommen" sein in dem Sinne des 48. Verses heißt daher, mit allen, selbst mit denen, die uns beleidigen und uns feindlich gesinnt sind, nach dem Grundsatz der Gnade handeln. Ein Christ der sich in Pro­zesse und Streitigkeiten einläßt, um sein Recht zu behaupten, ist nicht .vollkommen wie sein Vater", denn sein Vater handelt in Gnade, während er in Gerechtigkeit handelt.

 

Es ist hier nicht die Frage, ob es recht oder unrecht ist, mit Leuten aus der Welt vor Gericht zu gehen (wenn es sich um Brüder handelt, ist 1. Kor. 6 entscheidend). Worauf ich hinweisen möchte, ist dies: wenn ein Christ es tut, handelt er in einem Charakter, der dem seines Vaters unmittelbar entgegengesetzt ist. Denn Gott geht zweifellos jetzt nicht mit der Welt ins Gericht. Er sitzt jetzt nicht auf einem Richterstuhl, sondern auf einem Gnadenthron. Er gießt Seine Segnungen über die aus, die in der Hölle ihren Platz finden würden, wenn Er mit ihnen ins Gericht gehen würde. Es ist deshalb klar, daß ein Christ, der einen seiner Mitmenschen vor Gericht bringt, nicht vollkommen ist wie sein Vater im Himmel.

 

Das Gleichnis in Matth. 18 belehrt uns ferner, daß derjenige, der sein Recht behaupten will, den wahren Charakter und die Wirkung der Gnade nicht kennt. Der Knecht war nicht ungerecht, indem er forderte, was ihm zukam, aber er war unbarmherzig. Er war seinem Herrn ganz und gar unähnlich. Zehntausend Talente waren ihm erlassen worden' und dennoch konnte er seinen Mitknecht wegen hundert elender Denare ergreifen und würgen. Was war die Folge? Er wurde den Peinigern überliefert. Er verlor seinen Sinn für Gnade und mußte durch das Behaupten seiner Rechte bittere Früchte ernten, während er selbst ein Gegenstand der Gnade war. Beachten wir außerdem, daß er ein "böser Knecht" genannt wird, und zwar nicht weil er "zehntausend Talente" schuldete, sondern weil er die "hundert Denare" nicht erlassen hatte. Dieses Gleichnis redet ernst zu allen Christen, die sich in Prozesse ver­wickeln, denn obwohl in seiner Anwendung gesagt wird: "Also wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebet", so hat doch der Grundsatz allgemeine Anwendung, daß jeder, der nach dem Maßstab der Gerechtigkeit han­delt, das Bewußtsein der Gnade verlieren wird.

 

In Hebr. 9 begegnen wir einer anderen Bedeutung des Wortes "voll­kommen", und auch hier erklärt der Zusammenhang die Bedeutung. Es handelt sich hier um Vollkommenheit bezüglich des "Gewissens" (Vgl. Vers 9). Der Anbeter unter dem Gesetz konnte nie ein vollkommenes Gewissen haben, und zwar aus dem einfachen Grund, weil er nie ein vollkommenes Opfer besaß. Das Blut eines Stieres oder eines Bockes konnte nicht die "Sünden wegnehmen", und sein Wert war nur für eine Zeit, nicht aber für immer, so daß es niemals ein vollkommenes Gewissen geben konnte. Jetzt aber besitzt der schwächste Gläubige das Vorrecht, ein vollkommenes Gewissen zu haben. Warum? Ist er besser als der Anbeter unter dem Gesetz? Nein, aber er hat ein besseres Opfer. Wenn das Opfer Christi vollkommen, und zwar für immer vollkommen ist, dann ist auch das Gewissen des Gläubigen für immer vollkommen. (Vgl. V. 9‑11. 25. 26; Kap. 10, 14). Ein unvollkommenes Gewissen bei einem Christen wäre eine Unehre für das Opfer Christi, denn es würde bedeuten, daß dieses Opfer in seiner Wirkung nur zeitlich und nicht ewig wäre. Dadurch aber würde das Opfer Christi zu den Opfern unter der mosaischen Haushaltung erniedrigt werden. Jedoch ist es nötig, zwischen der Vollkommenheit im Fleisch und der Vollkommen­heit bezüglich des Gewissens zu unterscheiden. Das erste sich anzu­maßen, ist Selbstüberhebung, das zweite zu verneinen, ist eine Ver­unehrung Christi. Das Kindlein in Christus sollte ein vollkommenes Gewissen haben, während ein Paulus vollkommenes Fleisch weder hatte noch haben konnte. Das Fleisch wird in der Heiligen Schrift nicht als etwas dargestellt, das vollkommen gemacht, sondern das gekreuzigt werden sollte. Der Unterschied ist schwerwiegend. Der Christ hat Sünde in sich, aber nicht auf sich. Warum? Weil Christus, der keine Sünde in sich hatte, die Sünde auf sich nahm, als Er ans Kreuz ge­nagelt wurde.

 

Schließlich wird das Wort "vollkommen" in Phil. 3, 15 noch in einem anderen Sinn angewandt. Paulus sagt dort: "So viele nun vollkommen sind, laßt uns also gesinnt sein". Die hier genannte Vollkommenheit haben alle die erlangt, die ihre neue, unveränderliche Stellung in Chri­stus durch den Glauben eingenommen haben, und von Christus, Ihrem alles beherrschenden Gegenstand, durchdrungen sind.)

 

Der erste Vers dieses Kapitels ist sehr bedeutungsvoll. Es ist klar, daß Abraham nicht vor dem Allmächtigen wandelte, als er den Vorschlag Saras bezüglich Hagar annahm. Der Glaube allein macht fähig, sich vor dem Angesicht des Allmächtigen frei zu bewegen, während der Unglaube immer das Ich, die Umstände und ähnliche Dinge in Be­tracht zieht und uns dadurch Freude und Frieden, Ruhe und heilige Un­abhängigkeit raubt, die das Teil dessen sind, der sich allein auf den Allmächtigen stützt.

 

"Wandle vor mir!« Vor dem Angesicht Gottes wandeln ist wahre Kraft und schließt ein, daß das Herz mit nichts anderem als mit Gott selbst beschäftigt ist. Wenn ich meine Erwartungen auf das Geschöpf, auf Menschen und Dinge setze, so wandle ich nicht vor Gott, sondern vor dem Geschöpf. Es ist wichtig, sich darüber klar zu sein, wer oder was der Gegenstand ist, der vor meinem Herzen steht. Auf was ist in diesem Augenblick mein Auge gerichtet, und auf wen stütze ich mich? Füllt Gott meine Zukunft aus, oder mischen sich Menschen oder Um­stände in gewissem Maße darein? Durch Glauben wandeln ist das einzige Mittel, sich über die Welt zu erheben, weil der Glaube die Szene so völlig mit Gott ausfüllt, daß für das Geschöpf und für die Welt kein Raum übrig bleibt. Wenn Gott meinen ganzen Gesichtskreis ausfüllt, verschwindet jeder andere Gegenstand, und ich kann mit dem Psalmisten sagen: "Nur auf Gott vertraue still meine Seele! denn von ihm kommt meine Erwartung. Nur er ist mein Fels und meine Rettung, meine hohe Feste; ich werde nicht wanken" (Ps. 62, 5. 6). Dieses Wört­chen "nur" erforscht das Herz. Die Natur spricht anders. Freilich will sie Gott nicht ganz ausschließen, es sei denn, daß sie unter dem Ein­fluß eines gotteslästerlichen Skeptizismus steht, aber ihre Aufmerksam­keit und ihre Erwartung werden geteilt sein, sie kann nicht sagen: "Nur Er".

 

Es ist beachtenswert, daß Gott Seine Herrlichkeit nicht mit dem Ge­schöpf teilen will, und zwar weder in dem Werk der Erlösung, noch in den Einzelheiten unseres täglichen Lebens. Von Anfang bis Ende muß "nur Er" es sein. Es genügt nicht, von der Abhängigkeit von Gott zu reden, während unser Herz sich in Wirklichkeit auf das Geschöpf stützt. Gott wird alles offenbar machen. Er wird das Herz prüfen und den Glauben in den Schmelzofen bringen. "Wandle vor meinem An­gesicht und sei vollkommen!" Das ist der Weg, um das, wahre Ziel zu erreichen. Wenn die Seele durch die Wirkung der Gnade aufhört, ihre Erwartungen auf das Geschöpf zu setzen, dann und nur dann besitzt sie die Fähigkeit, Gott handeln zu lassen, und wenn Er handelt, muß alles gut werden. Er läßt nichts unvollendet. Er ordnet alles für die, die ihr Vertrauen auf Ihn setzen. Wenn eine nie irrende Weisheit, eine allmächtige Kraft und eine unendliche Liebe sich miteinander vereinigen, kann sich das vertrauende Herz einer ungestörten Ruhe erfreuen. Wir haben keine Ursache, auch nur im geringsten besorgt zu sein, es sei denn, wir könnten irgendeinen Umstand aufweisen, der zu groß oder zu klein für den "allmächtigen Gott" wäre. Das ist eine erstaunliche Wahrheit, die jeden Gläubigen in die gesegnete Stellung versetzen kann, in der wir Abraham in diesem Kapitel finden. Als Gott ihm gleichsam gesagt hatte: Überlasse nur alles, und ich werde über deine kühnsten Wünsche und Hoffnungen hinaus für alles Sorge tragen; der Same, das Erbteil und alles, was dazu gehört, wird vollkommen und für ewig gesichert sein gemäß dem Bund des allmächtigen Gottes' ‑"da fiel Abram auf sein Angesicht" (V. 3). Das ist wirklich eine ge­segnete Stellung, die einzig passende für einen schwachen, wertlosen Sünder in der Gegenwart des lebendigen Gottes, des Schöpfers des Himmels und der Erde, des Besitzers aller Dinge, des "allmächtigen Gottes" 1

 

"Und Gott redete mit ihm" (V. 3). Wenn der Mensch im Staub liegt, dann kann Gott in Gnade mit ihm reden. Diese Stellung Abrahams ist der schöne Ausdruck wahrer Demütigung in der Gegenwart Gottes. Er fühlt seine Schwachheit und sein Nichts, und dies geht stets der Offenbarung Gottes voraus. Wenn das Geschöpf vor Ihm am Boden liegt, kann Gott sich in dem Glanz Seines Wesens zeigen. Er wird Seine Ehre keinem anderen geben. Er kann sich offenbaren und dem Menschen erlauben, angesichts dieser Offenbarung anzubeten, aber bevor der Mensch den ihm gebührenden Platz einnimmt, kann Gott Seinen Charakter nicht entfalten. Wie anders ist die Haltung Abrahams in diesem Kapitel als in dem vorigen! Dort hatte er die Natur ver sich, hier ist er in der Gegenwart des allmächtigen Gottes. Dort handelte er, hier betet er an. Dort nahm er seine Zuflucht zu seinen Berechnungen und zu den Vorschlägen Saras, hier überläßt er sich und seine Um­stände, seine Gegenwart und seine Zukunft den Händen Gottes und gestattet Ihm, in ihm, für ihn und durch ihn zu handeln. Daher kann Gott sagen: "Ich werde machen", "ich werde errichten", "ich werde geben", "ich werde segnen". Mit einem Wort, Gott ist da, um zu handeln, und das gibt dem Herzen, das sich ein wenig kennengelernt hat, wahre Ruhe.

 

Nun wird der Bund der Beschneidung eingeführt. jedes Glied der Haushaltung des Glaubens mußte an seinem Leibe das Siegel des Bundes tragen. "Alles Männliche bei euch soll beschnitten werden ... Es soll gewißlich beschnitten werden dein Hausgeborener und der für dein Geld Erkaufte. Und mein Bund soll an eurem Fleische sein als ein ewiger Bund. Und der unbeschnittene Männliche, der am Fleische seiner Vorhaut nicht beschnitten wird, selbige Seele soll ausgerottet werden aus ihrem Volke; meinen Bund hat er gebrochen!" (V. 13. 14). Das 4. Kapitel des Römerbriefes sagt uns, daß die Beschneidung das "Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens" war. "Abraham glaubte Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet". Und nachdem ihm auf diese Weise die Gerechtigkeit zugerechnet worden war, drückte Gott ihm Sein "Siegel" auf.

 

Das Siegel, mit dein der Gläubige jetzt versiegelt ist, ist nicht ein Zei­chen am Fleisch, sondern "der Heilige Geist Gottes, durch welchen er auf den Tag der Erlösung versiegelt worden ist" (Vgl. Eph. 4, 30). Diese Versiegelung ist auf die ewige Vereinigung des Gläubigen mit Christus und auf seine vollkommene Einsmachung mit Ihm in Tod und Auferstehung gegründet, wie wir lesen in Kol. 2, 10‑13. "Und ihr seid vollendet in ihm, welcher das Haupt jedes Fürstentums und jeder Gewalt ist; in welchem ihr auch beschnitten worden seid mit einer nicht mit Händen geschehenen Beschneidung, in dem Ausziehen des Leibes des Fleisches, in der Beschneidung des Christus, mit ihm begraben in der Taufe, in welcher ihr auch mitauferweckt worden seid durch den Glauben an die wirksame Kraft Gottes, der ihn aus den Toten auferweckt hat. Und euch, als ihr tot waret in den Vergehungen und in der Vorhaut eures Fleisches, hat er mitlebendig gemacht mit ihm, indem er uns alle Vergehungen vergeben hat". Diese herrliche Stelle gibt uns Aufschluß über die bildliche Bedeutung der Beschneidung. jeder Gläubige gehört zur "Beschneidung“ durch seine lebendige Verbindung mit Ihm, der durch Sein Kreuz für immer alles beseitigt hat, was der vollkommenen Rechtfertigung Seiner Kirche im Wege stand. Es gibt keinen einzigen Flecken von Sünde auf dem Gewissen der Seinigen, noch irgendeine Sünde in ihrer Natur, wofür Christus nicht am Kreuz gerichtet worden wäre. Und jetzt werden die Gläubigen als solche betrachtet, die mit Christus gestorben, mit Ihm begraben, mit Ihm auferweckt und in Ihm angenehm gemacht sind, indem ihre Sünden, ihre Ungerechtigkeiten, ihre Vergehungen, ihre Feindschaft, ihre Nicht­beschneidung durch das Kreuz völlig weggetan worden sind. Das Urteil des Todes ist auf das Fleisch geschrieben worden, aber der Gläubige besitzt neues Leben durch die Vereinigung mit seinem auferstandenen Haupt in der Herrlichkeit.

 

In der soeben angeführten Stelle zeigt uns der Apostel, daß die Kirche sozusagen aus dem Grabe Christi heraus lebendig gemacht worden ist, und außerdem, daß die Vergebung ihrer Sünden ebenso vollkommen und genauso vollständig das Werk Gottes ist, wie es die Auferweckung Christi aus den Toten war. Nun aber wissen wir, daß die Auferweckung Christi das Ergebnis der Macht Gottes war, daß sie sich vollzog "nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke" (Siehe Eph. :L, 19). Was für ein Ausdruck, um die Größe und Herrlichkeit der Erlösung, sowie die feste Grundlage zu beschreiben, auf der sie ruht!

 

Welch eine vollkommene Ruhe gibt es hier für Herz und Gewissen! Welch eine völlige Befreiung für eine belastete Seele! Alle unsere Sünden, selbst die kleinste ist nicht ausgenommen, liegen begraben in dem Grab Christi! Das tat Gott für uns! Alle Ungerechtigkeiten, die Er an uns entdecken konnte, hat Er auf das Haupt Christi gelegt, als dieser am Kreuz hing. Dort am Kreuz richtete Er Christus, anstatt uns zu ewigen Qualen der Hölle zu verurteilen. Das sind die kostbaren Früchte der ewigen Ratschlüsse der erlösenden Liebe. Und wir sind nicht durch ein äußeres, in unser Fleisch eingeschnittenes Zeichen "versie­gelt", sondern durch den Heiligen Geist, und mit diesem Siegel ist der ganze Haushalt des Glaubens versiegelt. Das Blut Christi hat einen so unermeßlichen Wert eine so unveränderliche Kraft, daß der Heilige Geist Wohnung machen kann in allen denen, die ihr Vertrauen auf dieses Blut gesetzt haben.

 

Kapitel 18

 

DER HERR BEI ABRAHAM. ABRAHAMS FÜRBITTE

 

Kapitel 18 liefert uns ein gutes Beispiel von den Ereignissen eines Lebens der Absonderung und des Gehorsams. "Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten' und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen" (Joh. 14, 23). Diese Stelle zeigt uns, in Verbindung mit dem Inhalt des vor­liegenden Kapitels, daß eine gehorsame Seele eine Art von Gemein­schaft genießt, die demjenigen völlig unbekannt bleibt, der sich in einer weltlichen Atmosphäre bewegt.

 

Dies berührt jedoch in keiner Weise die Frage der Vergebung oder er Rechtfertigung. Alle Gläubigen sind mit demselben fleckenlosen Kleid der Gerechtigkeit bekleidet. Alle stehen in derselben Rechtfertigung vor dem Angesicht Gottes. Dasselbe Leben strömt vom Haupt im Him­mel durch alle Glieder auf der Erde. Diese bereits wiederholt erwähnte wichtige Lehre wird in der Heiligen Schrift klar festgestellt. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die Rechtfertigung und ihre Früchte zwei ganz verschiedene Dinge sind. Ein Kind zu sein und ein gehor­sames Kind zu sein, ist nicht dasselbe. Ein Vater liebt ein gehorsames Kind und wird es zum Vertrauten seiner Gedanken und Pläne machen. Und sollte es nicht auch bei unserem himmlischen Vater der Fall sein? Die Worte des Herrn (Joh. 14, 23. 24) bestätigen dies zweifellos und beweisen zugleich, daß es Heuchelei ist, wenn jemand behauptet, Chri­stus zu lieben, und nicht "sein Wort" hält. "Wenn jemand mich liebt, so wird er mein Wort halten". Sein Wort nicht halten ist also der sichere Beweis, daß wir nicht in der Liebe Seines Namens unseren Weg gehen. Unsere Liebe zu Christus zeigt sich darin, daß wir die Dinge tun, die Er befohlen hat, und daß wir nicht nur "Herr, Herr!" sagen. Welchen Wert hat es, zu sagen: "Ich gehe, Herr", wenn das Herz nicht daran denkt zu gehen?

 

Nun, obwohl Abraham in Einzelheiten gefehlt hat, so sehen wir doch in ihm einen Menschen, der sich im allgemeinen durch ein erhabenes, gott­verbundenes Leben auszeichnete, und in dem jetzt vor uns liegenden, interessanten Teil seiner Geschichte findet er Freude an drei besonderen Vorrechten, nämlich: Für den Herrn eine Erfrischung zuzubereiten, mit dem Herrn in völliger Gemeinschaft zu sein, und vor dem Herrn sich für andere zu verwenden. Das sind herrliche Auszeichnungen, und doch begleiten sie stets ein heiliges Leben der Absonderung und des Gehorsams. Gehorsam erfreut den Herrn, denn es ist die Frucht Seiner eigenen Gnade in unseren Herzen. Wir sehen, wie der einzig vollkom­mene Mensch, der jemals auf dieser Erde war, den Vater ohne Unterlaß erfreute und erquickte. Immer wieder gab Gott Ihm vom Himmel Zeug­nis, daß Er sein geliebter Sohn sei, an dem Er Wohlgefallen gefunden hatte. Das Leben Christi auf der Erde ließ einen duftenden Wohlge­ruch zu Gottes Thron emporsteigen. Von der Krippe bis zum Kreuz tat Er stets das, was Seinem Vater wohl gefiel. Da gab es keine Unter­brechung, keine Veränderung, keine Ungleichmäßigkeit. Er war der einzige Vollkommene. Doch wenn wir die Berichte der Heiligen Schrift verfolgen, begegnen wir hier und dort einer Seele, die gelegentlich den Himmel erfreute, wie z. B. im vorliegenden Kapitel der Fremdling im Hain Mamre, als er in seinem Zelt dem Herrn selbst eine Erquickung bereitete, die in Liebe dargeboten und willig angenommen wurde (V. 8).

 

Dann finden wir Abraham in der Freude tiefer Gemeinschaft mit dem Herrn, während er sich zunächst wegen seiner eigenen persönlichen Interessen (V. 9‑15) und dann über das Schicksal Sodoms (V. 16‑21) mit Ihm unterhält. Welch eine Stärkung für das Herz Abrahams lag in der Verheißung: "Sara wird einen Sohn haben!" Bei Sara löste diese Verheißung freilich nur ein Lachen aus, wie im vorhergehenden Kapitel bei Abraham.

 

Bei dieser Gelegenheit möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die Heilige Schrift von zwei Arten von "Lachen" redet. Zunächst gibt es ein Lachen, mit dem der Herr den Mund Seines Volkes füllt, wenn Er im Augenblick großer Prüfungen in besonderer Weise zu dessen Hilfe erscheint. "Als der HERR die Gefangenen Zions zurückführte, waren wir wie Träumende. Da ward unser Mund voll Lachens, und unsere Zunge voll Jubels; da sagte man unter den Nationen: Der HERR hat Großes an uns getan: wir waren fröhlich!" (Ps. 126, 1‑3). Dann aber gibt es ein Lachen des Unglaubens, wenn die Verheißungen Gottes zu herrlich sind, um in unseren engen Herzen Aufnahme zu finden, oder wenn die sichtbaren Mittel, die Gott zur Ausführung Seiner großartigen Pläne benutzen will, unserer Meinung nach zu gering sind. Des ersten Lachens schämen wir uns niemals, noch fürchten wir uns, es einzuge­stehen. Die Söhne Zions schämten sich nicht zu sagen: "Da ward unser Mund voll Lachens." Wir dürfen herzhaft lachen, wenn der HERR es ist der das Lachen hervorruft. Aber "Sara leugnete und sprach: Ich habe nicht gelacht! denn sie fürchtete sich". Der Unglaube macht uns furchtsam und unehrlich, der Glaube macht uns kühn und wahrheits­getreu. Er befähigt uns, mit "Freimütigkeit“ und "mit wahrhaftigem Herzen" hinzuzutreten (Hebr. 10).

 

Außerdem läßt Gott Abraham an Seinen Gedanken und Absichten be­züglich Sodom teilnehmen. Obwohl er persönlich mit dem Schicksal Sodoms nichts zu tun hatte, stand er dem Herrn doch so nahe, daß er in Seine geheimen Absichten mit dieser Stadt eingeweiht wurde. Die Absichten Gottes über die gegenwärtige böse Welt lernen wir nicht kennen durch Verbindung mit der Welt, sondern nur durch absolute Trennung von ihr. je mehr wir in enger Gemeinschaft mit Gott leben und je mehr wir Seinem Wort unterworfen sind, desto besser werden wir Seine Gedanken über alle Dinge kennen. Ich muß nicht unbedingt die Zeitungen lesen, um zu erfahren, was sich in dieser Welt ereignen wird. Das Wort Gottes offenbart mir alles, was ich darüber wissen muß. Durch dieses Wort werde ich über den Charakter, den Lauf und das Schicksal dieser Welt eingehend unterrichtet. Wenn ich mich dagegen von den Menschen dieser Welt über diese Dinge informieren lasse, so brauche ich mich nicht zu wundern, wenn der Teufel sie benutzt, um mir Sand in die Augen zu streuen.

 

Wenn Abraham Sodom besucht hätte, um sich über die Lage der Dinge Informationen zu verschaffen, wenn er sich an die führenden Männer der Stadt gewandt hätte, um ihre Gedanken über den Zustand und die Aussichten Sodoms kennenzulernen, dann hätten sie ohne Zweifel die Aufmerksamkeit Abrahams auf ihre wirtschaftlichen und architek­tonischen Unternehmungen, sowie auf die unermeßlichen Reserven des Landes gelenkt und ihm ein buntes Gewimmel von Menschen gezeigt, die kauften und verkauften, bauten und pflanzten, aßen und tranken, heirateten und sich verheirateten. Die Führer Sodoms dachten zweifellos an alles andere als an Gericht, und hätte jemand darüber zu ihnen ge­redet, so hätten sie sicher ungläubig gelacht. Offensichtlich war deshalb Sodom nicht der Platz, wo man etwas über das Ende der Stadt erfahren konnte. Der Platz, wo Abraham vor dem Herrn stand (Kap. 19, 27), war der einzige Punkt, der eine Aussicht über die ganze Szene bot. Dort stand er über all den finsteren Wolken, die sich an Sodoms Horizont zusammengeballt hatten. Dort, in der Reinheit und Stille der Gegen­wart Gottes, konnte er alles verstehen lernen.

 

Und wozu benutzte Abraham seine Erkenntnis und seine hohe Stellung? Womit war er in der Gegenwart Gottes beschäftigt? Er trat fürbittend für andere vor Gott ein, und dies ist das dritte Vorrecht, das dem Patriarchen in diesem Kapitel gewährt wird. Er konnte für die bitten, die sich mit dem verderbten Volk Sodoms vermengt hatten und nun in Gefahr standen, in das Gericht dieser Stadt hineingezogen zu wer­den. Das war in der Tat ein guter und heiliger Gebrauch, den er von seiner Stellung in der Nähe Gottes machte. So wird es aber stets sein. Die Seele, die in voller Gewißheit des Glaubens Gott nahen kann und die, befreit vom bösen Gewissen und mit gereinigtem Her­zen, ihr Vertrauen auf Gott setzen kann, wird fähig und willig sein, für andere fürbittend einzutreten. Wer die "ganze Waffenrüstung Gottes" angelegt hat, kann „für alle Heiligen" beten (Eph. 6, 18). Welch ein schönes Bild gibt uns dies von der Fürbitte unseres großen Hohenpriesters, der durch die Himmel gegangen ist! (Hebr. 4, 14). Nut welcher Wirksamkeit vertritt Er vor der göttlichen Majestät alle, die sich in dieser Welt des Verderbens abmühen! Wie glücklich und sicher sind doch die Gegenstände dieser allmächtigen Fürbitte!

 

So gesegnet die Fürbitte Abrahams auch war, so blieb sie dennoch begrenzt, weil der Fürbittende nur ein Mensch war. Sie erreicht nicht die Höhe des Bedürfnisses. Abraham sagt: "Möge doch der Herr nicht zürnen, und ich will nur noch diesmal reden" (V. 32), und dann hört er auf, als befürchte er, in der Schatzkammer der unendlichen Gnade einen Wechsel über einen zu hohen Betrag vorgezeigt zu haben. Abraham wurde nicht von seiten Gottes beschränkt. In Gott war ein Überfluß von Gnade und Geduld vorhanden. Er hätte auf Seinen ge­liebten Diener gehört, selbst wenn dieser in seiner Fürbitte auf drei, ja, auf einen einzigen Gerechten zurückgegangen wäre. Die Schuld lag auf seiten des Dieners. Er fürchtete die Höhe seines Kredits zu über­schreiten. Er hörte auf zu bitten, und Gott hörte auf zu geben. So ist es nicht bei unserem hochgelobten Fürsprecher. Von Ihm kann gesagt werden: "Daher vermag er auch völlig zu erretten..., indem er im­merdar lebt um sich für sie zu verwenden" (Hebr. 7, 25).

 

Bevor wir dieses Kapitel schließen, möchte ich noch eine Bemerkung machen, die mir beachtenswert erscheint. Bei der Erforschung der Heiligen Schrift ist es von großer Wichtigkeit, zwischen der Regierung Gottes über die Welt und der besonderen Hoffnung der Kirche oder Versammlung zu unterscheiden. Alle Prophezeiungen des Alten und ein großer Teil der Prophezeiungen des Neuen Testaments handeln von dieser Regierung Gottes, und ich brauche kaum zu sagen, daß sie des­wegen für jeden Christen sehr interessant sind. Es ist sicher der Mühe wert zu wissen, wie Gott mit den Nationen der Erde handelt und han­deln wird, und was Seine Gedanken sind über Tyrus, Babylon, Ninive und Jerusalem, über Ägypten, Assyrien und das Land Israel. Vergessen wir jedoch nicht, daß in diesen Prophezeiungen die besondere Hoff­nung der Versammlung Gottes nicht enthalten ist. Wie wäre es auch möglich? Wenn nicht einmal die Existenz der Kirche im Alten Testament geoffenbart ist, wie könnte dann von ihrer Hoffnung die Rede sein? Das heißt natürlich nicht, daß die Prophezeiungen des Alten Testa­ments nicht eine Menge göttlicher und sittlicher Grundsätze in sich schließen, aus denen die Versammlung reichen Nutzen ziehen kann, aber das ist etwas ganz anderes, als in ihnen die Offenbarung der Existenz und der besonderen Hoffnung der Kirche finden zu wollen. Und doch ist ein großer Teil der alttestamentlichen Prophezeiungen auf die Kirche angewandt worden, und man hat dadurch die ganze Sache so verwirrt, daß einfache Gemüter vom Studium der Prophezeiungen abgehalten worden und dahin gekommen sind, sogar die Betrachtung dessen zu vernachlässigen, was gar nichts mit ihnen zu tun hat, näm­lich der Hoffnung der Kirche Gottes. Diese Hoffnung aber, wir wie­derholen es, hat nichts zu tun mit den Wegen Gottes bezüglich der Völker der Erde, sondern besteht darin, dem Herrn entgegengerückt zu werden in die Luft, um für allezeit bei Ihm und Ihm gleich zu sein (Siehe 1. Thess. 4, 13 ff).

 

Kapitel 19

 

LOT UND DAS GERICHT ÜBER SODOM

 

Der Herr wendet in Seiner Gnade zwei Methoden an, um das Herz des Menschen von den Dingen dieser Welt abzulenken. Zunächst of­fenbart Er den Wert und die Unveränderlichkeit der "Dinge, die dro­ben sind", und dann zeigt Er die Nichtigkeit und Vergänglichkeit der "Dinge, die auf der Erde sind"( Kol. 3, 1. 2). Der Schluß von Hebr. 12 liefert uns ein schönes Beispiel von diesen beiden Methoden. Nachdem die Wahrheit festgestellt ist, daß wir zum Berge Zion und zu allen damit verbundenen Freuden und Vorrechten gekommen sind, fährt der Apostel fort: "Sehet zu, daß ihr den nicht abweiset, der da redet! Denn wenn jene nicht entgingen, die den abwiesen, der auf Erden die göttlichen Aussprüche gab, wieviel mehr wir nicht, wenn wir uns von dem abwenden, der von den Himmeln her redet! dessen Stimme damals die Erde erschütterte; jetzt aber hat er verheißen und gesagt: Noch ein­mal werde ich nicht allein die Erde bewegen, sondern auch den Himmel. Aber das noch einmal' deutet die Verwandlung der Dinge an, die er­schüttert werden als solche, die gemacht sind, auf daß die, welche nicht erschüttert werden, bleiben". Nun ist es ohne Frage besser, durch die Freuden des Himmels gezogen, als durch die Sorgen der Erde getrieben zu werden. Der Gläubige sollte nicht darauf warten, aus den gegen­wärtigen Dingen hinausgeworfen zu werden. Er sollte nicht darauf warten, daß die Welt ihn aufgibt, ehe er sie aufgeben will. Er sollte sie aufgeben in der Kraft der Gemeinschaft mit den himmlischen Din­gen. Wenn man durch den Glauben Christus ergriffen hat, ist es nicht schwer, die Welt aufzugeben. Es wäre viel schwieriger, mit ihr in Ver­bindung zu bleiben, Wenn ein Straßenfeger plötzlich in den Besitz eines großen Vermögens käme, würde er seinen Beruf wohl nicht mehr lange ausüben. Ebenso gewiß werden wir, wenn wir durch den Glau­ben unseren Anteil an den unveränderlichen Gütern, die in den Him­meln für uns aufbewahrt sind, verwirklichen, keine Schwierigkeit fin­den, die zeitlichen Freuden der Erde aufzugeben.

 

Wenden wir uns jetzt dem nun beginnenden ernsten Teil unserer Ge­schichte zu. "Und Lot saß im Tore Sodoms" (V. 1). Es war der Platz der staatlichen Gewalt. ja, er hatte Fortschritte gemacht, er war in der Welt vorangekommen. Sein Weg war äußerlich mit Erfolg gekrönt gewesen. Im Anfang "schlug er Zelte auf bis nach Sodom". Später ging er zweifellos in die Stadt hinein, und jetzt sehen wir ihn im Tore sitzen, in einer einflußreichen Position. Wie verschieden ist das alles von der Szene, die sich im Anfang des vorhergehenden Kapitels vor uns auftat! Die Ursache ist klar. "Durch Glauben hielt Abraham sich auf in dem Lande der Verheißung, wie in einem fremden, und wohnte in Zelten." Wir hören nichts ähnliches über Lot. (Es gibt eine Frage, die das Herz bis auf den tiefsten Grund erforscht, und die wir uns vor jeder Handlung stellen sollten. Sie lautet: Handle ich durch Glauben? "Was nicht aus Glauben ist, ist Sünde"; und: "Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott wohlzugefallen".) Man könnte nicht sagen: Durch Glauben saß Lot im Tore Sodoms'. Lot fand keinen Platz in der gro­ßen Wolke von Zeugen, die in der Kraft des Glaubens lebten. Die Welt war sein Fallstrick und die gegenwärtigen Dinge wurden ihm zum Ver­hängnis. Er hielt nicht standhaft aus, "als sähe er den Unsichtbaren" (Hebr. 11, 27). Seine Blicke waren auf die sichtbaren und zeitlichen Dinge gerichtet, während Abraham die Dinge anschaute, die man nicht sieht und die ewig sind (2. Kor. 4, 18). Der Unterschied zwischen die­sen beiden Männern ist groß. Obwohl sie ihren Lauf gemeinsam be­gonnen hatten, erreichten sie, wenigstens was ihr öffentliches Zeugnis betrifft, doch ein ganz verschiedenes Ziel. Lot war ohne Zweifel er­rettet, doch "so wie durchs Feuer", denn, "sein Werk verbrannte" (i. Kor. 3, 15). Abraham dagegen fand "Eingang in das ewige Reich unseres Herrn und Heilands Jesu Christi" (2. Petr. i, 11). Außerdem finden wir nirgends, daß Lot etwas von den hohen Vorrechten genießen durfte' deren Abraham sich erfreute. Anstatt durch den Besuch des Herrn geehrt zu werden, "quälte er Tag für Tag seine gerechte Seele" (2. Petr. 2, 8). Anstatt die Gemeinschaft mit dem Herrn zu genießen, befindet er sich fern von Ihm. Anstatt für andere eintreten zu können, kann er höchstens für sich selbst bitten. Der Herr blieb bei Abraham zurück, um ihm Seine Gedanken mitzuteilen, während Er nur Seine Engel nach Sodom sandte, und selbst diese waren nur mit großer Mühe zu bewegen, in das Haus Lots einzutreten und seine Gastfreundschaft anzunehmen. "Nein", sagen sie, "sondern wir wollen auf dem Platze übernachten" (V. 2). Wie verschieden ist diese Weigerung von der wil­ligen Annahme der Einladung Abrahams, wie sie sich in den Worten ausdrückt: "Tue also, wie du geredet hast".

 

Die Annahme von Gastfreundschaft ist bedeutungsvoll. Sie drückt, ge­naugenommen, die Gemeinschaft des Gastes mit dem Gastgeber aus. "Zu dem werde ich eingehen und das Abendbrot mit ihm essen, und er mit mir" (Offbg. 3, 20). "Wenn ihr urteilet, daß ich dem Herrn treu sei, so kehret in mein Haus ein und bleibet" (Apg. 16, '15). Die Wei­gerung der Engel enthält daher eine entscheidende Verurteilung der Stellung Lots in Sodom. Sie wollten lieber die ganze Nacht auf der Gasse bleiben, als unter dem Dach eines Mannes übernachten, der sich in einer falschen Stellung befand. Ihr Weg nach Sodom scheint wirk­lich keinen anderen Zweck gehabt zu haben, als Lot zu befreien, und dies noch um Abrahams willen, denn wir lesen: "Und es geschah, als Gott die Städte der Ebene verderbte, da gedachte Gott des Abraham und entsandte Lot mitten aus der Umkehrung, als er die Städte um­kehrte, in welchen Lot gewohnt hatte" (V. 29). Wir sehen also, daß Lot um Abrahams willen dem Gericht entrann. Das ist beachtenswert. Der Herr hat keine Gemeinschaft mit einem weltlich gesinnten Herzen, und gerade die Liebe zur Welt hatte Lot verleitet, sich in dem Sumpf dieser schuldigen Stadt niederzulassen. Der Glaube hatte ihn nicht dahin ge­bracht, auch eine himmlische Gesinnung hatte ihn nicht dorthin gehen lassen, und auch nicht "seine gerechte Seele". Nur seine Liebe zu dem gegenwärtigen bösen Zeitlauf leitete ihn, zuerst zu "wählen", dann "Zelte bis nach Sodom aufzuschlagen", und endlich "im Tore Sodoms zu sitzen". Was für eine Wahl! Es waren in der Tat "geborstene Zister­nen", die kein Wasser halten konnten, es war ein "geknickter Rohr­stab", der ihm „die Hand durchbohrte" (Vgl. Jer. 2, 13 und Jes. 36, 6). Es ist bitter, wenn wir auf irgendeine Weise unsere Wege selbst be­stimmen wollen. Wir werden dann ganz sicher die traurigsten Fehler machen. Wieviel besser ist es, uns von Gott unsere Wege vorzeichnen zu lassen und Ihm in der Gesinnung eines kleinen Kindes alles anzu­vertrauen, weil Er es ist, der in Seiner nie irrenden Weisheit und unendlichen Liebe alles für uns ordnen kann und will!

 

Ohne Zweifel hatte Lot eine Übersiedlung nach Sodom für sich und seine Familie für vorteilhaft gehalten. Aber die Folgen zeigen, wie sehr er sich getäuscht hatte, und das Ende seiner traurigen Geschichte mahnt uns ernst, auf die ersten Regungen weltlicher Gesinnung in uns _zu achten. "Begnüget euch mit dem, was vorhanden ist" (Hebr. 13, 4. 5). Warum? Etwa weil wir ein gutes Einkommen haben und alle unsere Wünsche befriedigt sind? Sollte das der Grund unserer Zu­friedenheit sein? Nein, sondern weil der Herr gesagt hat: "Ich will dich nicht versäumen noch dich verlassen". Gesegnetes Teil! Hätte Lot sich damit begnügt, so hätte er die wasserreichen Ebenen Sodoms nicht auf­gesucht.

 

'Sollten wir noch andere Gründe für ein Leben im Geist der Genügsam­keit benötigen, so werden wir sie in diesem Kapitel finden. Was ge­wann Lot an Glück und Zufriedenheit auf seinem Weg? Wenig. Die Leute von Sodom umringen sein Haus und drohen, den Eingang aufzubrechen, und vergeblich versucht er, sie durch die niedrigsten Angebote zu beschwichtigen. jeder, der sich mit der Welt verbindet, um sich ,selbst zu erhöhen, muß darauf gefaßt sein, die Folgen zu ernten. Wir können nicht aus der Welt Nutzen ziehen und gleichzeitig ein wirk­sames Zeugnis gegen sie ablegen. "Der eine da ist gekommen, als Fremdling hier zu weilen, und will den Richter machen?" (V. 9). Das .geht unmöglich. Der einzige Weg, die Welt verurteilen und richten zu 'können, besteht darin, daß man sich in der Kraft der Gnade von .ihr getrennt hält, nicht aber in der hochmütigen Gesinnung des Pharisäertums. Die Welt von ihren bösen Wegen überführen zu wollen, während man wegen eigener Vorteile mit ihr verbunden bleibt, ist ein nutzloses Unternehmen. Die Welt wird von einem solchen Zeugnis wenig beeindruckt sein. Genauso wurde das Zeugnis Lots von seinen 'Schwiegersöhnen aufgenommen: "Er war in ihren Augen wie einer, der Scherz treibt" (V. 14). Es ist wertlos, von dem nahenden Gericht zu reden, so lange wir unser Teil und unsere Freude an dem Ort suchen, über den das Gericht hereinbrechen soll.

 

Abraham befand sich in einer besseren Stellung, um von Gericht reden zu können. Er war außerhalb des Gefahrenbereichs. Sodom konnte in hellen Flammen stehen, die Zelte des Fremdlings in Mamre waren keiner Gefahr ausgesetzt.

 

Lot bedauert es auch noch, den Ort seiner Wahl verlassen zu müssen. Nicht nur mußten ihn die Engel bei der Hand fassen und ihn zur Flucht drängen, sondern als sie ihn ermahnten, sich um seines Lebens willen zu retten (das einzige, was er aus der Verwüstung retten konnte), und auf das Gebirge zu fliehen, antwortet er: "Nicht doch, Herr! Siehe doch, dein Knecht hat Gnade gefunden in deinen Augen, und du hast deine Güte groß gemacht, die du an mir erwiesen hast, meine Seele am Leben zu erhalten; aber ich kann mich nicht auf das Gebirge retten, es möchte mich das Unglück erhaschen, daß ich stürbe. Siehe doch, diese Stadt ist nahe, um dahin zu fliehen, und sie ist klein; laß mich doch dahin mich retten (ist sie nicht klein?), damit meine Seele am Leben bleibe" (V. 18‑20). Wie ein Ertrinkender greift er nach einem Stroh­halm. Obwohl der Engel ihn auffordert, sich auf das Gebirge zu retten, weigert er sich und klammert sich an eine "kleine Stadt", an einen elen­den Fetzen von der Welt. Er fürchtete, dort den Tod zu finden, wohin die Barmherzigkeit Gottes ihn sandte. Er fürchtete allerlei Unheil und sah die einzige Rettungsmöglichkeit in einer kleinen Stadt, in einem Ort seiner Wahl. "Laß mich doch dahin mich retten, damit meine Seele am Leben bleibe". Wie traurig! Lot brachte es nicht fertig, sich Gott völlig anzuvertrauen. Er hatte zu lange fern von Gott gelebt, er hatte zu lange die Atmosphäre einer Stadt eingeatmet, als daß er die reine Luft der Gegenwart Gottes hätte schätzen oder auf den Arm des All­mächtigen sich hätte stützen können. Er war verwirrt. Das Nest, das er sich auf der Erde gebaut hatte, war plötzlich zerstört worden, und der unglückliche Mann hatte nicht Glauben genug, um sich in die Arme Gottes zu flüchten. Er hatte keine Gemeinschaft mit der unsichtbaren Welt gepflegt, und jetzt wurde die sichtbare Welt plötzlich unter seinen Füßen weggezogen. „Feuer und Schwefel" sollten vom Himmel fallen auf all die Dinge, die er liebte, und auf die er seine Hoffnung gesetzt hatte. Der Dieb hatte ihn überrascht, und Lot scheint seine geistliche Kraft und Selbstbeherrschung völlig verloren zu haben. Er ist am Ende seiner Weisheit. Aber die Weltlichkeit, die sein Herz beherrscht, besiegt ihn, und er nimmt Zuflucht in einer "kleinen Stadt". Aber auch dort fühlt er sich noch nicht sicher. Er verläßt die Stadt und steigt in das Gebirge und tut nun aus Furcht das, was er auf den Befehl des Ge­sandten Gottes nicht hatte tun wollen.

 

Und was ist Lots Ende? Seine eigenen Kinder machen ihn betrunken, und in diesem traurigen Zustand wird er das Werkzeug, durch das die Moabiter und Ammoniter, diese erklärten Feinde des Volkes Gottes, ins Dasein gerufen werden. Welche Vielzahl ernster Unterweisungen liegt in der Geschichte Lots! Möchten wir doch hieran erkennen, was die Welt ist, und wie verhängnisvoll es ist, wenn man dem Herzen erlaubt, ihr nachzugehen! Welch eine Erklärung ist die Geschichte Lots für die kurze, aber inhaltsschwere Warnung: "Liebet nicht die Welt, noch was in der Welt ist!" (i. Joh. 2, 15). Die Sodoms und Zoars dieser Welt sind sich alle gleich. Das Herz findet in ihnen weder Sicherheit noch Frieden noch eine wirkliche Befriedigung. Das Gericht Gottes hängt drohend über der ganzen Szene, und Gott hält nur noch in Seiner Langmut und Barmherzigkeit das Schwert des Gerichts zurück, "da er nicht will, daß irgendwelche verloren gehen, sondern daß alle zur Buße kommen" (2. Petr. 3, 9).

 

Laßt uns daher bemüht sein, den Weg heiliger Absonderung von der Welt zu gehen! Möchten die wasserreichen Ebenen der Welt keinen Reiz für unsere Herzen haben! Möchten wir ihre Ehre und ihren Reichtum stets im Licht der zukünftigen Herrlichkeit Christi sehen. Möchten wir wie Abraham fähig sein, uns bis in die Gegenwart des Herrn zu erheben um von diesem erhabenen Standpunkt aus den ganzen Verfall und das Verderben auf der Erde zu überschauen! Der Glaube sieht in der Welt nur einen Trümmerhaufen. Sie wird dies ein­mal in Wirklichkeit sein, denn "die Erde und die Werke auf ihr werden verbrannt werden" (2. Petr. 3, 10). Alle Dinge, denen die Kinder dieser Welt nachjagen, um die sie sich so ängstlich sorgen, und um die sie oft verbittert streiten, alle diese Dinge werden verbrennen. Und wer kann sagen wie bald? Wo ist Sodom? Wo ist Gomorra? Wo sind die Städte der Ebene, diese Städte voll Leben und Geschäftigkeit? Sie sind ver­schwunden, hinweggefegt durch das Gericht Gottes, verzehrt von Feuer und Schwefel. jetzt hängen die Gerichte Gottes drohend über dieser schuldigen Welt. Der Tag ist nahe, aber noch dringt die frohe Botschaft der Gnade in viele Herzen. Glückselig sind sie, die diese Botschaft hören und glauben! Glückselig sind alle, die sich retten auf den unerschütter­lichen Fels des Heils Gottes, die ihre Zuflucht finden unter dem Kreuz des Sohnes Gottes und dort Vergebung und Frieden empfangen!

 

Kapitel 20

 

ABRAHAM UND ABIMELECH

 

Dieses Kapitel stellt uns zwei bedeutsame Tatsachen vor Augen: Erstens die moralische Selbsterniedrigung, der sich das Kind Gottes zu­weilen vor der Welt schuldig macht, und zweitens die moralische Würde, mit der es allezeit vor Gott bekleidet ist. Abraham befällt wie­der die Furcht vor den Umständen, was wir so gut verstehen können. Er hält sich in Gerar auf und fürchtet die Männer dieses Ortes. Wäh­rend er meint, daß Gott nicht in ihrer Mitte ist, vergißt er, daß Gott immer bei ihm war. Er scheint mehr mit den Männern von Gerar be­schäftigt zu sein, als mit Ihm, der stärker war als sie alle, und da er Gott nicht die Macht zutraut, Sara beschützen zu können, greift er wieder zu derselben List, wie mehrere Jahre früher in Ägypten. Eine ernste Warnung! Der Vater der Gläubigen läßt sich zu verkehrtem Tun fortreißen, weil er sein Auge von Gott abgewandt hat. Er sieht für eine Zeitlang nicht seinen Mittelpunkt in Gott und gibt der Versuchung nach. Wie wahr ist es, daß wir nur dann stark sind, wenn wir uns in dem Gefühl unserer Schwachheit an Gott klammern! Nichts kann uns schaden, solange wir den Weg gehen, den Er für uns bestimmt hat. Wenn Abraham sich einfach auf Gott gestützt hätte, so hätten sich die Leute von Gerar nicht um ihn gekümmert. Er hätte das Vorrecht gehabt, mitten in schwierigen Umständen die Treue Gottes zu bekun­den, und er hätte zugleich seine eigene Würde als Gläubiger auf­rechterhalten.

 

Es tut weh, wenn man sieht, wie die Kinder Gottes ihren Vater verun­ehren und dadurch sich selbst vor der Welt erniedrigen, indem sie das Bewußtsein, daß Gott in allen Umständen genügt, verlieren. So lange wir auf unserem Weg verwirklichen, daß "alle unsere Quellen" in Gott sind, werden wir über den Dingen dieser Welt stehen. Nichts erhebt so sehr das ganze moralische Sein eines Menschen wie der Glaube. Er trägt uns weit über den Bereich der Gedanken dieser Welt hinaus. Denn wie könnte der Weltmensch oder auch der weltlich gesinnte Christ das Leben des Glaubens begreifen? Die Quelle, aus der der Glaube schöpft, ist für ihr Verständnis unerreichbar. Sie leben an der Oberfläche der zeitlichen Dinge, sie haben Vertrauen und Hoffnung, solange sie etwas sehen können, was nach ihrer Meinung einen ver­nünftigen Grund für Hoffnung und Vertrauen bietet, aber der Ge­danke, sich ausschließlich auf die Verheißungen eines unsichtbaren Gottes zu stützen, liegt ihnen völlig fern. Der Mann des Glaubens jedoch bleibt auch in solchen Umständen und Ereignissen ruhig, in denen die Natur keinen Ausweg mehr sieht. Der Natur erscheint daher der Glaube stets sorglos, leichtsinnig und unwirklich. Nur diejenigen, die Gott kennen, können die Handlungen des Glaubens billigen, weil nur sie fähig sind, die Beweggründe dieses Handelns zu begreifen.

 

In unserem Kapitel setzt sich der Mann Gottes durch seine Taten des Unglaubens sogar dem Tadel und den Vorwürfen der Weltmenschen aus. Es kann nicht anders sein, denn wie bereits bemerkt, kann nur der Glaube dem Charakter und Betragen eines Menschen wirkliche Er­habenheit verleihen. Nun begegnet man oft Leuten mit einem von Natur aufrichtigen, ehrenwerten Charakter, aber man kann der Auf­richtigkeit und Ehrenhaftigkeit der Natur kein volles Vertrauen schen­ken: sie befinden sich auf einer schlechten Grundlage und geben leicht unter dem Druck der Umstände nach. Der Glaube allein verbindet die Seele in lebendiger Kraft mit Gott, der einzigen Quelle wahrer Moral. Ferner ist bemerkenswert, daß diejenigen, die Gott in Gnaden aufge­nommen hat, oft noch tiefer als andere Menschen fallen, wenn sie den Weg des Glaubens verlassen, und diese Tatsache erklärt das Verhalten Abrahams in diesem Teil seiner Geschichte.

 

Wir machen hier noch eine andere Entdeckung. Wir finden, daß Abraham seit Jahren etwas Schlechtes in seinem Herzen genährt hatte. Er scheint seinen Weg mit gewissen Vorbehalten begonnen zu haben, die aus dem Mangel an bedingungslosem Vertrauen auf Gott hervorgingen. Wäre Abraham fähig gewesen, bezüglich Sara Gott völlig zu vertrauen, so hätte er keine Selbsthilfe nötig gehabt. Gott hätte Sara beschützt. Und wer könnte denen schaden, die sich unter Seiner Obhut befinden? Jedoch wird Abraham durch die Gnade dahin geleitet, die Wurzel der ganzen Sache zu entdecken. Er bekennt und verurteilt das Böse und wird so davon befreit, denn es kann weder Segen noch Kraft vorhan­den sein, solange nicht jeder Rest von Sauerteig ans Licht gebracht und beseitigt ist. Die Geduld Gottes ist unerschöpflich. Er kann warten und uns langmütig tragen, aber nie kann Er eine Seele auf die Höhe der Segnung und der Kraft erheben, solange noch ein Rest Sauerteig erkannt, aber nicht gerichtet ist. Soviel über Abimelech und Abraham. Betrachten wir jetzt die moralische Würde des letzteren in den Augen Gottes.

 

In der Geschichte des Gottesvolkes, ob man nun die Gesamtheit oder einzelne Personen betrachtet, wird man nicht selten überrascht von dem erstaunlichen Unterschied zwischen dem, was sie in den Augen Gottes, und was sie nach dem Urteil der Welt sind. Gott sieht die Seinen in Christus. Er betrachtet sie in Ihm und sieht deshalb an ihnen "nicht Flecken oder Runzel oder etwas dergleichen". Sie sind vor Gott wie Christus selbst. Was ihre Stellung in Christus betrifft, sind sie für immer vollkommen gemacht. Sie sind "nicht im Fleische, sondern im Geiste" (Eph. 5, 27; 1,4 bis 6; 1. Joh. 4, 17; Röm. 8, 9).

 

In sich selbst aber sind sie schwache, unvollkommene und oft fallende Geschöpfe, und weil die Welt nur auf das blickt, was sie in sich selbst sind, ist es begreiflich, daß der Unterschied zwischen der göttlichen und der menschlichen Beurteilung so groß ist. Aber es ist das Vorrecht Gottes, die Schönheit und Vollkommenheit Seines Volkes zu offenbaren, ja, es ist Sein ausschließliches Vorrecht, weil Er selbst den Seinen diese Dinge geschenkt hat. Sie sind nur schön, weil Er sie schön gemacht hat, und deshalb steht es Ihm zu, diese Schönheit bekanntzu­machen, und Er tut es auf eine Weise, die Seiner würdig und niemals 'herrlicher ist, als wenn der Feind naht, um sie zu schmähen, zu verklagen oder zu verfluchen. So sagt der HERR, wenn Balak kommt, um den Samen Abrahams zu verfluchen: "Ich erblicke keine Ungerechtig­keit in Jakob und sehe kein Unrecht in Israel". ‑ "Wie schön sind ,deine Zelte, Jakob, deine Wohnungen, Israel!" (4. Mose 23, 21; 24, 5). Und wenn Satan zur Rechten des Hohenpriesters Josua steht, um ihm zu widerstehen, so heißt es: "Der HERR schelte dich, Satan! ... Ist dieser nicht ein Brandscheit, das aus dein Feuer gerettet ist?" (Sach. 3, 1. 2).

 

So stellt sich der Herr stets zwischen die Seinen und jeden, der sie an­klagen will. Er beantwortet die Anklage nicht dadurch, daß Er darauf hinweist, was sie in sich selbst oder was sie in den Augen der Menschen dieser Welt sind, sondern daß Er erklärt, was Er aus ihnen gemacht, und in welche Stellung Er sie versetzt hat. So mochte sich Abraham in den Augen Abimelechs, des Königs von Gerar, erniedrigen, und dieser ihn deswegen tadeln, aber sobald Gott die Sache in Seine Hand nimmt, sagt Er zu Abimelech: "Wisse, daß du gewißlich sterben wirst!" und von Abraham sagt Er: "Er ist ein Prophet und wird für dich bitten" (V. 3‑7). ja, trotz "der Lauterkeit seines Herzens und der Unschuld seiner Hände" ist der König von Gerar nur ein "Mann des Todes", der zudem noch die Genesung seines Hauses der Fürbitte des abgeirrten Fremdlings verdankt. Das ist die Handlungsweise Gottes. Er mag in der Stille ernste Worte mit Seinem Kind über dessen Wege zu reden haben, aber wenn ein Feind Anklage erhebt, verteidigt Er die Sache Seines Dieners. "Tastet meine Gesalbten nicht an, und meinen Prophe­ten tut nichts 10bIes". ‑ "Wer euch antastet, tastet seinen Augapfel an". ‑ "Gott ist es, welcher rechtfertigt; wer ist, der verdamme?" (l. Chron. 16, 22; Sach. 2, s; Röm. 8, 33. 34). Kein Pfeil des Feindes kann den Schild durchdringen, hinter dem der Herr auch die schwächsten Schafe Seiner Herde verbirgt, die Er sich mit dem kostbaren Blute Christi erworben hat. Er birgt Sein Volk in Seiner Hütte. Er setzt ihre Füße auf den Fels der Ewigkeit. Er erhebt ihr Haupt über alle Feinde ringsum sie her und erfüllt ihr Herz mit der bleibenden Freude Seines Heils (Ps. 27, 5. 6).

 

Kapitel 21

 

ISAAKS GEBURT. DIE VERTREIBUNG HAGARS UND ISMAELS

 

"Und der HERR suchte Sara heim, wie Er gesagt hatte, und der HERR tat der Sara, wie er geredet hatte" (V. 1). Hier finden wir die Er­füllung der Verheißung, die Frucht eines geduldigen Wartens auf Gott. Noch nie hat jemand vergeblich auf Gott gewartet. Die Seele, die sich durch den Glauben die Verheißung Gottes zu eigen macht, besitzt eine Wirklichkeit, die sie nie täuschen wird. So war es bei Abraham und bei den Gläubigen aller Jahrhunderte, und so wird es bei allen sein, die ihr Vertrauen auf den lebendigen Gott setzen. Was für eine Beruhigung ist es für unsere Seelen, daß wir in dieser trügerischen Welt Gott selbst zu unserem Teil und Ruhort haben, und daß wir uns auf zwei unver­änderliche Dinge stützen dürfen: das Wort und den Eidschwur Gottes!

 

Als Abraham die Verheißung Gottes als vollendete Tatsache sah, mußte er wohl die Torheit seiner eigenen Anstrengungen erkennen, durch die er die Erfüllung der Verheißung hatte herbeiführen wollen. Ismael war, was diese Verheißung betraf, durchaus nutzlos. Er war sicher ein Gegenstand der natürlichen Liebe Abrahams, so daß die Auf­gabe Abrahams dadurch später um so schwieriger wurde, aber er diente in keiner Weise der Durchführung des Vorsatzes Gottes oder der Befestigung des Glaubens Abrahams. Die Natur kann nie etwas für Gott tun. Gott muß "heimsuchen", und Gott muß "tun". Der Glaube muß warten und die Natur muß ruhig sein, ja, sie muß, als eine tote und wertlose Sache, ganz beiseite gesetzt werden. Nur dann kann die Herr­lichkeit Gottes ausstrahlen und der Glaube seine reiche Belohnung fin­den. "Und Sara wurde schwanger und gebar dem Abraham einen Sohn in seinem Alter, zu der bestimmten Zeit, von welcher Gott ihm gesagt hatte" (V. 2). Es gibt eine von Gott .bestimmte Zeit", und auf diese muß der Glaube geduldig warten können. Die Zeit mag sich scheinbar in die Länge ziehen, und die Hinhaltung der Hoffnung mag das Herz krank machen, aber das geistliche Gemüt wird stets Erleichterung in der Gewißheit finden, daß schließlich alles zur Offenbarung der Herr­lichkeit Gottes dienen muß. "Denn das Gesicht geht noch auf die be­stimmte Zeit, und es strebt nach dem Ende hin und lügt nicht. Wenn es verzieht, so harre sein; denn kommen wird es, es wird nicht aus­bleiben ... Der Gerechte aber wird durch seinen Glauben leben" (Hab. 2, 3. 4). Was für eine wunderbare Sache ist der Glaube! Er macht die Verheißung Gottes zu gegenwärtiger Wirklichkeit. Durch seine Macht bleibt die Seele im Warten auf Gott bewahrt, wenn auch alles Äußere dagegen zu sein scheint, und "zur bestimmten Zeit" wird Gott den Mund mit Lachen füllen. "Und Abraham war hundert Jahre alt, als ihm sein Sohn Isaak geboren wurde" (V. 5). Für die Natur gab es also nichts zu rühmen. Die Hilflosigkeit des Menschen gab Gott Ge­legenheit, sich zu offenbaren, und Sara sagte: "Gott hat mir ein Lachen bereitet" (V. 6). Alles ist triumphierende Freude, wenn man Gott er­laubt, sich zu zeigen.

 

Aber die Geburt Isaaks führte auch ein ganz neues Element in das Haus Abrahams ein. Der Sohn der Freien brachte den wahren Charak­ter des Sohnes der Magd bald ans Licht. Isaak war für das Haus Abra­hams grundsätzlich das, was die Einpflanzung der neuen Natur in die Seele eines Sünders bedeutet. Ismael wurde nicht verändert, sondern Isaak wurde geboren. Der Sohn der Magd konnte nie etwas anderes werden als das, was er war. Er mochte zu einem großen Volk werden, mochte in der Wüste wohnen, ein guter Bogenschütze sein und sogar der Vater von zwölf Fürsten werden, aber er blieb immer der Sohn der Magd. Andererseits mochte Isaak noch so schwach und verachtet sein, er war dennoch der Sohn der Freien. Seine Stellung und sein Charakter, seine Vorrechte und seine Hoffnungen, alles hatte er von dem Herrn empfangen. "Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch, und was aus dein Geiste geboren ist, ist Geist" (Joh. 3).

 

Die Wiedergeburt ist nicht eine Veränderung der alten Natur, sondern die Einführung einer neuen. Es ist die Einpflanzung der Natur oder des Lebens des zweiten Adam, durch die Wirksamkeit des Heiligen Geistes, ist gegründet auf das vollbrachte Erlösungswerk Christi, und ist in vollkommener Übereinstimmung mit dem unumschränkten Willen und Ratschluß Gottes. In dem Augenblick, da ein Sünder von Herzen an den Herrn Jesus glaubt und Ihn mit dem Munde bekennt, empfängt er den Besitz eines neuen Lebens, und dieses Leben ist Christus. Er ist aus Gott geboren, er ist ein Kind Gottes, ein Sohn der Freien (Siehe Röm. 10, 9; Kol. 3, 4; 1. Joh. 3, 1. 2; Gal. 3, 26; 4, 31).

 

Die Einführung dieser neuen Natur verändert jedoch nicht den Charak­ter der alten. Diese bleibt, was sie war; sie wird in keiner Weise ver­bessert. Ihr schlechter Charakter steht vielmehr in totalem Gegensatz zu dem neuen Element. "Das Fleisch gelüstet wider den Geist, der Geist aber wider das Fleisch; diese aber sind einander entgegenge­setzt" (Gal. 5, 17). Hier sehen wir die beiden Elemente in ihrer ganzen Verschiedenheit. Das eine dient nur dazu, das andere schärfer her­vortreten zu lassen.

 

Diese Lehre von der Existenz zweier Naturen in dem Gläubigen wird im allgemeinen wenig verstanden, und doch kann die Seele, solange sie dies nicht versteht, bezüglich der wahren Stellung und der Vorrechte des Gotteskindes nur im dunkeln tappen. Manche meinen, daß die Wiedergeburt eine stufenweise in der alten Natur vorgehende Ver­änderung ist, die sich so lange fortsetzt, bis der ganze Mensch vollständig umgestaltet ist. Es ist aus verschiedenen Stellen des Neuen Testaments leicht zu beweisen, daß diese Meinung falsch ist. So lesen wir z. B.: "Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott" (Röm. 8, 7). Wie könnte das, was als "Feindschaft gegen Gott" be­zeichnet wird, irgendeiner Verbesserung fähig sein? Der Apostel fährt deshalb fort: "Sie ist dem Gesetz Gottes nicht untertan, denn sie ver­mag es auch nicht". Wenn sie aber dem Gesetz Gottes nicht unterworfen sein kann, wie könnte sie dann verbessert oder verändert werden? Weiter lesen wir: "Was aus dem Fleische geboren ist, ist Fleisch" (Joh. 3, 6). Mache mit dem Fleisch, was du willst, es bleibt stets Fleisch. "Wenn du den Narren mit der Keule im Mörser zerstießest, mitten unter der Grütze, so würde seine Narrheit doch nicht von ihm weichen" (Spr. 27, 22). Jeder Versuch, die Torheit weise zu machen, ist nutzlos. Deshalb muß himmlische Weisheit in das Herz einziehen, das bis dahin nur durch Torheit beherrscht worden ist. Weiterhin lesen wir: "Ihr habt den alten Menschen ausgezogen" (Kol. 3, 9). Der Apostel sagt nicht: "Ihr habt den alten Menschen vervollkommnet", oder "Ihr bemüht euch, ihn zu vervollkommnen", sondern: "Ihr habt ihn ausge­zogen". Es ist ein großer Unterschied, ob jemand ein altes Kleid ausbessert, oder ob er es wegwirft und ein neues anzieht, und in der ange­führten Stelle handelt es sich tatsächlich um das Ausziehen eines alten und um das Anziehen eines neuen Kleides. Die Lehre von einer stufen­weisen Vervollkommnung der alten Natur ist falsch und irrig. Die alte Natur ist völlig unverbesserlich, und es bleibt für uns nichts anderes zu tun übrig, als sie im Tod zu halten, und das in der Macht des neuen Lebens, das wir besitzen durch die Vereinigung mit unserem auferstandenen Haupt in den Himmeln.

 

Die Geburt Isaaks diente nicht der Verbesserung Ismaels, sondern ließ nur den Gegensatz zwischen ihm und dem Sohn der Verheißung her­vortreten. Er mochte bis zur Erscheinung Isaaks sehr friedlich und ordentlich gewesen sein, dann aber zeigte er, was er war, indem er das Kind der Auferstehung verfolgte und verspottete. Wie konnte man diesem Übel abhelfen? Durch die Verbesserung Ismaels? Nein, das einzige Heilmittel war: "Treibe diese Magd und ihren Sohn hinaus; denn der Sohn dieser Magd soll nicht erben mit meinem Sohne, mit Isaak!" (V. 10). "Das Krumme kann nicht gerade werden" (Pred. 1, 15). Folglich muß man sich von dem, was krumm ist, losmachen und sich mit dem beschäftigen, was nach Gottes Gedanken gerade ist. Es ist verlorene Mühe, etwas Krummes gerade machen zu wollen. Alle An­strengungen, die Natur zu vervollkommnen, sind daher vor Gott wir­kungslos. Es mag für die Menschen vorteilhaft sein, die Dinge, die sie gebrauchen, zu veredeln und zu verbessern, doch Gott hat Seinen Kindern etwas Besseres zu tun gegeben, nämlich das zu pflegen, was Seine eigene Schöpfung ist, deren Früchte nie die Natur erheben, aber zur Verherrlichung Gottes dienen.

 

Der Irrtum der Versammlungen in Galatien bestand in der Einführung von Forderungen an die Natur, Die Seligkeit wurde von etwas abhängig gemacht, was der Mensch sein, tun oder halten konnte. "Wenn ihr nicht beschnitten worden seid nach der Weise Moses, so könnt ihr nicht er­rettet werden" (Apg. 15, 1). Das hieß das ganze herrliche Gebäude der Erlösung umstürzen, das, wie der Gläubige weiß, ausschließlich auf dem ruht, was Christus ist und getan hat. Die Seligkeit von etwas ab­hängig machen, was in dem Menschen ist oder was er getan hat, heißt, das Ziel verfehlen. Mit anderen Worten: Ismael mußte ausgestoßen werden, und alle Hoffnungen Abrahams mußten auf dem ruhen, was Gott in der Person Isaaks getan und gegeben hatte. Wir brauchen wohl kaum zu sagen, daß dies dem Menschen zu seiner eigenen Verherrlichung keinen Raum läßt. Wenn meine gegenwärtige oder zukünftige Segnung abhinge von einer selbst göttlichen Veränderung, die in der Natur bewirkt würde, so könnte das Fleisch, das ich, sich rühmen, und Gott würde nicht allen Ruhm haben. Obwohl meine Natur verbessert würde, wäre es doch etwas von mir. Aber wenn ich in eine neue Schöpfung eingeführt werde, sehe ich, daß alles von Gott ist, von Ihm geplant, vorbereitet und ausgeführt. Gott ist der Handelnde, und ich bete an. Er ist der Segnende, und ich werde gesegnet. Er ist "der Bessere", und ich bin "der Geringere" (Hebr. 7, 7). Er ist der Geber, und ich bin der Empfänger. Das verleiht dem Christentum seinen be­sonderen Charakter und unterscheidet es von jedem menschlichen Religionssystem. Jede menschliche Religion räumt mehr oder weniger dem Geschöpf einen Platz ein, sie behält die Magd und ihren Sohn im Haus und bietet dem Menschen etwas, womit er sich rühmen kann. Das Christentum dagegen schließt das Geschöpf von jeder Mitwirkung an dem Werk der Erlösung aus und gibt alle Ehre Ihm, dem sie allein gebührt.

 

Betrachten wir jetzt, was die Magd und ihr Sohn in Wirklichkeit sind und was sie darstellen. Das 4. Kapitel des Galaterbriefes gibt uns Auf­schluß über diese beiden Punkte. Die Magd stellt den Bund des Ge­setzes dar und ihr Sohn alle diejenigen, die "aus Gesetzeswerken sind" oder auf diesem Boden stehen. Die Magd gebiert nur zur Knechtschaft und kann keinen freien Menschen hervorbringen. Wie wäre es auch möglich? Das Gesetz hat nie die Freiheit geben können, denn es herrschte über den Menschen, solange er lebte (Röm. 7, 1). Solange ich mich aber unter der Herrschaft eines anderen befinde, bin ich nicht frei, und da das Gesetz, solange ich lebe, seine Herrschaft über mich ausübt, kann nur der Tod mich dieser Herrschaft entziehen. Das ist die Lehre des 7. Kapitels des Römerbriefes. "Also seid auch ihr, meine Brüder, dem Gesetz getötet worden durch den Leib des Christus, um eines anderen zu werden, des aus den Toten Auferweckten, auf daß wir Gott Frucht brächten". Das ist Freiheit, denn "wenn der Sohn euch frei machen wird, so werdet ihr wirklich frei sein" (Joh. 8, 36). "Also, Brü­der, sind wir nicht Kinder der Magd, sondern der Freien" (Gal. 4, 31).

 

In der Kraft dieser Freiheit nun sind wir fähig, dem Gebot zu ge­horchen: "Treibe die Magd und ihren Sohn hinaus!" Wenn ich nicht weiß, daß ich frei bin, werde ich versuchen, durch das Behalten der Magd im Haus die Freiheit zu erreichen. Mit anderen Worten: ich werde mich anstrengen, das Leben durch Beachtung des Gesetzes zu erlangen; ich werde versuchen, meine eigene Gerechtigkeit aufzurichten. Freilich wird es stets Kampf kosten, dieses Element der Knechtschaft auszumerzen, denn Gesetzlichkeit ist für unsere Herzen so natürlich. "Die Sache war sehr übel in den Augen Abrahams um seines Sohnes willen" (V. 11). So schmerzlich dies auch sein mag, es ist dennoch der Wille Gottes, daß wir feststehen sollen in der Freiheit, für die Christus uns freigemacht hat, und daß wir uns nicht wiederum unter einem Joch der Knechtschaft halten lassen (Gal. 5, 1).

 

Möchten wir so vollständig in den Besitz der Segnungen eintreten, die Gott für uns in Christus vorgesehen hat, daß wir mit dem Fleisch und allem, was es sein, tun oder hervorbringen kann, abgeschlossen haben. In Christus gibt es eine Fülle, die jede Rückkehr zur Natur überflüssig ‑und vergeblich macht.

 

Kapitel 22

 

DIE OPFERUNG ISAAKS

 

Abraham ist jetzt in dem Zustand, daß sein Herz der schwersten Probe. ausgesetzt werden kann. Nachdem in Kap. 20 der ängstlich und lange gehegte Vorbehalt aus seinem Herzen entfernt worden ist und er in Kap. 21 die Magd und ihren Sohn aus dem Haus getrieben hat, zeigt er sich jetzt in der ehrenvollsten Stellung, in die je eine Seele versetzt werden kann, in der Stellung der Prüfung durch die Hand Gottes. Es gibt verschiedene Arten von Prüfungen, Prüfungen von der Hand Satans und Prüfungen durch äußere Umstände, aber den erhabensten Charakter trägt die Prüfung, die unmittelbar von Gott kommt, wenn Er Sein geliebtes Kind in den Schmelzofen bringt, um die Echtheit seines Glaubens zu prüfen. Gott will Wirklichkeit. Es genügt nicht, zu sagen: "Herr, Herr!" oder "Ich gehe, Herr!" Das Herz muß bis auf' den Grund erprobt werden, damit sich kein Rest von Heuchelei oder falschem Bekenntnis darin verbirgt. Gott sagt: "Gib mir, mein Sohn, dein Herz" (Spr. 23, 26). Er sagt nicht: "Gib mir deinen Kopf, deinen Verstand, deine Talente, deine Zunge, dein Geld", sondern "dein Herz", und um die Aufrichtigkeit unserer Antwort auf dieses gnädige Gebot ­zu prüfen, legt Er Seine Hand auf etwas, was unserem Herzen am nächsten liegt. Er sagt zu Abraham: "Nimm deinen Sohn, deinen einzi­gen, den du lieb hast den Isaak, und ziehe hin in das Land Morija, und opfere ihn daselbst als Brandopfer auf einem der Berge, den ich dir sagen werde" (V. 2). Das hieß wirklich dem Herzen Abrahams sehr ­nahe kommen und ihn in einen feurigen Schmelztiegel bringen. Gott hat "Lust an der Wahrheit im Innern" (Ps. 51, 6). Man kann viel Wahrheit im Mund haben und reiche Erkenntnis besitzen, aber Gott sucht nach der Wahrheit im Herzen. Gewöhnliche Beweise der Liebe unserer Herzen befriedigen Ihn nicht. Er selbst hat sich nicht damit ­begnügt, nur einen gewöhnlichen Beweis Seiner Liebe zu geben. Er gab Seinen eingeborenen Sohn! Und wir? Sollten wir uns nicht bemühen, hervorragende Beweise unserer Liebe zu Ihm zu geben, da Er uns so geliebt hat, als wir noch tot waren in Vergehungen und Sünden?

 

Vergessen wir jedoch nicht, daß Gott uns eine hohe Ehre erweist wenn Er uns so auf die Probe stellt. Wir lesen nicht, daß Lot "von Gott ver­sucht wurde". Aber Lot wurde durch Sodom versucht. Er erreichte nie eine genügende Höhe, um von der Hand des HERRN erprobt zu werden. Sodom stellte für Abraham nicht die geringste Versuchung dar. Seine Unterredung mit dem König von Sodom in Kapitel 14 liefert den klaren Beweis davon. Gott wußte wohl, daß Abraham Ihn weit mehr liebte als Sodom und seine Schätze, aber Er wollte es auch offenbar machen, indem Er Seine Hand auf den Gegenstand legte, der dem Herzen Abrahams am teuersten war. "Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du lieb hast, den Isaak". Der Sohn der Verheißung, der Gegenstand der so lange hingehaltenen Hoffnung, der Gegenstand der Liebe des Vaters, und derjenige, in dem alle Geschlechter der Erde ge­segnet werden sollten, dieser sollte als Brandopfer geopfert werden. Das bedeutete wirklich den Glauben auf die Probe stellen, damit er ‑ kost­barer als Gold, das vergeht ‑ durch Feuer erprobt, erfunden werde zu Lob und Ehre und Herrlichkeit (l. Petr. 1, 7). Hätte Abraham sich nicht einfältig und mit ganzer Seele auf den Herrn gestützt, so hätte er einem Befehl, der ihn so gründlich auf die Probe stellte, nicht so be­dingungslos gehorchen können. Aber Gott selbst war die lebendige und bleibende Stütze seines Herzens, und deshalb war er bereit, alles für Ihn aufzugeben.

 

Die Seele, die "alle ihre Quellen" (Ps. 87, 7) in Gott gefunden hat, kann ohne Zögern alle menschlichen Brunnen verlassen. Wir können dem Geschöpf nur insoweit entsagen, wie wir durch Erfahrung mit dem Schöpfer bekannt geworden sind und nicht mehr. Die sichtbaren Dinge auf einem anderen Weg aufgeben zu wollen, als durch die Kraft des Glaubens, der die unsichtbaren Dinge ergreift, ist die fruchtloseste Arbeit, die man sich vorstellen kann. Es ist einfach unmöglich. Die Seele wird ihren Isaak solange festhalten, bis sie alles in Gott gefunden hat. Aber wenn wir durch Glauben sagen können: "Gott ist uns Zuflucht und Stärke, eine Hilfe, reichlich gefunden in Drangsalen", so können wir auch hinzufügen: "Darum werden wir uns nicht fürchten, wenn­gleich gewandelt würde die Erde, und wenn die Berge wankten im Herzen des Meeres" (Ps. 46, 2).

 

"Und Abraham stand des Morgens früh auf" (V. 3). Er zögerte nicht; er gehorchte pünktlich. "Ich habe geeilt und nicht gesäumt, deine Ge­bote zu halten" (Ps. '119, 60). Der Glaube bleibt nie stehen, um auf die Umstände zu sehen oder die Folgen zu berechnen. Er schaut nur auf Gott und sagt, wie einst der Apostel: "Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leibe an abgesondert und durch eine Gnade berufen hat, wohlgefiel, Seinen Sohn in mir zu offenbaren, auf daß ich Ihn unter den Nationen verkündigte, ging ich alsbald nicht mit Fleisch und Blut zu Rate" (Gal. 1, 15. 16). Wenn wir uns mit Fleisch und Blut beraten, sind unser Zeugnis und unser Dienst ge­schwächt, denn Fleisch und Blut können nicht gehorchen. Wollen wir glücklich sein und Gott verherrlichen, so müssen wir früh aufstehen und durch die Gnade den Befehl Gottes ausführen, und wenn das Wort Gottes die Ursache unserer Tätigkeit ist, wird es unserem Handeln Kraft und Ausdauer verleihen. Handeln wir aber nur auf einen äußeren Antrieb hin, wird unsere Tätigkeit aufhören, sobald dieser Antrieb nachläßt.

 

Zwei Dinge sind zu einem Leben standhafter Tätigkeit erforderlich, nämlich: der Heilige Geist als Kraft, und das Wort Gottes als Führer. Beides besaß Abraham. Er hatte von Gott die Kraft empfangen zu handeln und auch das Gebot. Sein Gehorsam und seine Ergebenheit in den Willen Gottes hatten einen ganz entschiedenen Charakter, und das ist sehr wichtig. Man begegnet vielem, was wie Ergebenheit aus­sieht, aber in Wirklichkeit nichts anderes ist als die unbeständige Tätig­keit eines Willens, der nicht der mächtigen Wirkung des Wortes Gottes unterworfen ist. Scheinbare Ergebenheit ist wertlos, und der Geist aus dem sie hervorgeht, verfliegt sehr bald. Wir können wohl folgendes als Grundsatz feststellen: jede Ergebenheit, die die von Gott bezeichneten Grenzen Überschreitet, ist verdächtig. Erreicht sie diese Grenzen nicht, ist sie mangelhaft. Zeigt sie sich außerhalb derselben, geht sie Irrwege.

Es mag außergewöhnliche Wirkungen und Wege des Geistes Gottes geben, in denen Er sich über die gewöhnlichen Grenzen erhebt aber in einem solchen Fall wird das Zeugnis, daß es eine göttliche Tätigkeit ist, kräftig genug sein, um jedes geistliche Gemüt zu überzeugen. Solche Ausnahmefälle widersprechen auch in keiner Weise der Wahrheit, daß wahre Ergebenheit stets auf einem göttlichen Grundsatz ruht und durch einen göttlichen Grundsatz geleitet wird. Zweifellos war das Opfern eines Sohnes eine Handlung von außergewöhnlicher Ergebenheit, aber wir müssen uns daran erinnern, daß das, was dieser Handlung in den Augen Gottes ihren wahren Wert verlieh, in der Tatsache bestand, daß diese Handlung sich auf den Befehl Gottes gründete.

 

Dann gibt es noch eine andere Sache, die mit wahrer Ergebenheit in Verbindung steht, und das ist ein Geist der Anbetung. "Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen und anbeten" (V. 5). Der wirklich ergebene Diener sieht nicht auf den Dienst, wie wichtig er auch sein mag, sondern er sieht auf den Herrn, und das bewirkt mit Sicherheit einen Geist der Anbetung. Wenn ich meinen irdischen Vorgesetzten liebe, so wird's mich wenig kümmern, ob ich seine Schuhe putze oder seinen Wagen fahre. Aber wenn ich mehr an mich als an ihn denke, so werde ich lieber Fahrer als Schuhputzer sein. Genauso ist es in dem Dienst des himmlischen Herrn. Wenn ich nur an Ihn denke, wird es mir gleich sein, ob ich Gemeinden gründe oder Zelte mache. Wir können dasselbe im Dienst der Engel bemerken. Es ist dem Engel gleich, ob er ausgesandt wird, ein Heer zu vernichten, oder irgendeinen Erben des Heils zu beschützen. Nur der Herr beschäftigt seine Gedanken. Wenn zwei Engel vom Himmel gesandt würden, der eine, um ein Reich zu regieren, und der andere, um die Straßen zu kehren, würden sie sich sicher nicht über die Arbeitsteilung streiten. Und wenn das von den Engeln gesagt werden kann, wieviel mehr sollte es auf uns zutreffen! Der Diener sollte auf jeden Fall gleichzeitig auch Anbeter sein, und das Werk unserer Hände sollte unter Gebet getan werden. Wir sollten, mit anderen Worten, stets an unser Werk gehen in dem Geist der Worte: "Ich und der Knabe wollen bis dorthin gehen und anbeten". Auf diese Weise würden wir vor einem bloß mechanischen Dienst bewahrt bleiben, in den wir so leicht verfallen, wenn wir nur der Arbeit wegen arbeiten und mehr mit unserem Werk beschäftigt sind, als mit dem Herrn. Alles muß dem einfachen Glauben an Gott und dem Gehorsam gegen Sein Wort entspringen.

 

"Durch Glauben hat Abraham, als er versucht wurde, den Isaak ge­opfert, und der, welcher die Verheißungen empfangen hatte, brachte den Eingeborenen dar" (Hebr. 11, 17). Nur wenn wir im Glauben leben, können wir unser Werk gottgemäß beginnen, fortsetzen und vollenden. Abraham begann nicht nur, den Weg zu gehen, um seinen Sohn zu opfern, sondern er setzte ihn auch fort, bis er den Ort erreichte, den Gott ihm genannt hatte. "und Abraham nahm das Holz des Brandopfers und legte es auf Isaak, seinen Sohn; und in seine Hand nahm er das Feuer und das Messer; und sie gingen beide miteinander ... Und Abraham baute daselbst den Altar und schichtete das Holz; und er band seinen Sohn Isaak und legte ihn auf den Altar oben auf das Holz. Und Abraham streckte seine Hand aus und nahm das Messer, um seinen Sohn zu schlachten" (V. 6‑10). Das war ein "Werk des Glaubens" im tiefsten Sinn des Wortes. Da war kein falscher Schein, keine Heuchelei, kein Plappern der Lippen, während das Herz fern von Gott blieb. Abraham sagte nicht: "Ich gehe, Herr!" und ging dann doch nicht. Es war alles Wirklichkeit. Es ist leicht, mit Er­gebenheit eine Schau zu machen, wenn kein Anspruch auf sie erhoben wird. Es ist leicht zu sagen: "Wenn sich alle an dir ärgern werden, ich werde mich niemals ärgern. . . Selbst wenn ich mit dir sterben müßte, werde ich dich nicht verleugnen" (Matth. 26, 33. 35), aber es handelt sich darum, in der Versuchung standzuhalten. Als Petrus auf die Probe gestellt wurde, brach er zusammen. Der Glaube redet nie davon, was er tun will, sondern er tut, was er kann in der Kraft des Herrn. Nichts ist erbärmlicher als Hochmut und Anmaßung. Aber der Glaube handelt, wenn er auf die Probe gestellt wird, und bis dahin ist er damit zufrieden, still und verborgen zu sein.

 

Daß Gott durch eine solche Tat des Glaubens verherrlicht wird, braucht kaum erwähnt zu werden. Er ist Ursache und Kraft der Tat. Es gibt in der ganzen Geschichte Abrahams kein Ereignis, durch das Gott mehr verherrlicht worden wäre, als durch die Tat auf dem Berg Morija. Dort wurde Abraham befähigt, von der Tatsache Zeugnis abzulegen, daß "alle seine Quellen" in Gott waren, und zwar nicht nur vor, sondern auch nach der Geburt Isaaks. In den Segnungen Gottes zu ruhen ist etwas anderes, als in Gott selbst zu ruhen. Auf Gott zu vertrauen, wenn der Segenskanal weit geöffnet ist, ist etwas ganz anderes als auf Ihn zu vertrauen, wenn dieser Kanal verstopft ist. Die Vortrefflichkeit des Glaubens Abrahams erwies sich darin, daß er bezüglich einer un­zähligen Nachkommenschaft nicht nur dann auf Gott vertrauen konnte, als Isaak in Gesundheit und Kraft vor ihm stand, sondern auch ebenso fest dann, wenn er den Knaben als ein rauchendes Opfer auf dem Altar sehen würde. Das war in der Tat ein herrliches Vertrauen, ein Vertrauen ohne jede Beimischung. Es stützte sich nicht zum Teil auf den Schöpfer und zum Teil auf das Geschöpf, sondern war auf eine feste Grundlage gegründet, auf Gott selbst. "Er urteilte, daß Gott ... vermöge", rechnete aber niemals auf das, was Isaak vermochte. Isaak ohne Gott war nichts. Gott ohne Isaak war alles. Das ist ein wichtiger Grundsatz und ein Prüfstein für das Herz, um es bis auf den Grund zu erproben. Macht es mir nichts aus, wenn der Kanal all meiner Seg­nungen auszutrocknen beginnt? Bleibe ich der Hauptquelle nahe genug, um fähig zu sein, mit Anbetung zu sehen, wie alle menschlichen Bäche sich erschöpfen? Besitze ich ein so unerschütterliches Vertrauen auf die Allmacht Gottes, daß ich imstande bin, gleichsam auch "meine Hand auszustrecken, das Messer zu nehmen, um meinen Sohn zu schlachten?". Abraham war dazu befähigt, weil sein Auge auf den Gott der Aufer­stehung blickte, "weil er urteilte, daß Gott auch aus den Toten zu er­wecken vermöge" (Hebr. 11, 17. 19). Er hatte es mit Gott zu tun, und das war ihm genug. Gott erlaubte nicht, daß er den Todesstoß aus­führte. Er war bis an die äußerste Grenze gegangen. Der Gott der Gnade konnte ihn nicht darüber hinausgehen lassen. Gott ersparte dem Herzen des Vaters den Schmerz, den Er sich selbst nicht erspart hat, indem Er den eigenen Sohn in den Tod gab. Er ging über diese Grenze hinaus. Gepriesen sei Sein Name! "Er hat seines eigenen Sohnes nicht geschont, sondern ihn für uns alle hingegeben" (Röm. 8, 32). Keine Stimme kam vom Himmel, als der Vater Seinen einge­borenen Sohn auf Golgatha opferte. Nein, das Opfer wurde vollbracht, und in seiner Vollendung ist unser ewiger Friede besiegelt worden.

 

Dennoch wurde die Ergebenheit Abrahams völlig erwiesen und ange­nommen. "Nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vorenthalten hast" (V. 12). Beachten wir, daß Gott sagt: "Nun weiß ich". Bis dahin war der Beweis nicht geliefert wor­den. Der Glaube war da, und Gott wußte es, aber der wichtige Punkt ist hier, daß Gott Sein Erkennen dieses Glaubens auf den Beweis gründet, den Abraham auf dem Berg Morija erbracht hatte. Der Glaube zeigt sich stets durch Tätigkeit, und die Furcht Gottes durch die Früchte, die sie hervorbringt. "Ist nicht Abraham, unser Vater, aus Werken gerechtfertigt worden, da er Isaak, seinen Sohn, auf dem Altar opferte?" (Jak. 2, 21). Wer würde es wagen, seinen Glauben anzuzweifeln? Wenn man den Glauben wegnimmt, erscheint Abraham auf dem Berg Morija als ein Mörder und ein Unsinniger. Sieht man aber auf den Glauben, dann steht er vor unserer Seele als ein treuer, demütiger Anbeter, als ein gottesfürchtiger und gerechtfertigter Mensch. Aber der Glaube muß erwiesen sein. "Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber nicht Werke?" (Jak. 2, 14). Ein Bekenntnis ohne Kraft und Früchte genügt weder Gott noch Menschen. Gott sucht Wirk­lichkeit, und Er ehrt sie, wo Er sie findet, und was den Menschen be­trifft, kann er nur die lebendige Äußerung eines Glaubens verstehen, der sich durch Werke kundgibt. Wir leben in einer Zeit der Religions­bekenntnisse. Die Sprache des Glaubens ist auf aller Lippen. Aber der Glaube selbst, der einen Menschen fähig macht, von dem Ufer der gegenwärtigen Umstände abzustoßen, und Wind und Wellen selbst dann zu trotzen, wenn der Herr eingeschlafen zu sein scheint, dieser Glaube ist eine seltene Perle.

 

Es mag gut sein, an dieser Stelle die wunderbare Übereinstimmung zu erwähnen, die bezüglich der Rechtfertigungslehre zwischen Jakobus und Paulus besteht. Der Leser, der sich vor der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift beugt weiß sehr wohl, daß wir es in dieser wichtigen Frage nicht mit Paulus und Jakobus, sondern mit dem Heiligen Geist zu tun haben, der diese beiden Männer gebraucht hat, um Seine Gedanken niederzuschreiben, ebenso wie ich mich zum Niederschreiben meiner Gedanken eines Kugelschreibers bedienen könnte. Daß zwei göttlich inspirierte Schreiber einander widersprechen, ist unmöglich.

 

Es besteht, wie es nicht anders erwartet werden kann, vollkommene Übereinstimmung zwischen diesen beiden Aposteln. Bezüglich der Recht­fertigungslehre ist der eine der Ausleger des anderen. Paulus gibt uns den inneren Grundsatz, Jakobus die äußere Darstellung des Grund­satzes. Paulus stellt uns das verborgene, Jakobus das offenbare Leben vor. Paulus betrachtet den Menschen in Beziehung zu Gott, Jakobus betrachtet ihn in seinen Beziehungen zu den Menschen. Wir brauchen das eine wie das andere, denn der innere Grundsatz genügt nicht ohne das äußere Leben, so wie dieses ohne den inneren Grundsatz weder Wert noch Kraft hat. Abraham wurde gerechtfertigt, als er Gott glaubte, und Abraham wurde gerechtfertigt, als er seinen Sohn Isaak opferte. Im ersten Fall sehen wir seine verborgene Stellung, der zweite zeigt uns seine öffentliche Anerkennung durch Himmel und Erde. Es ist gut, diesen Unterschied zu verstehen. Es kam keine Stimme vom Himmel, als Abraham Gott glaubte, obwohl Gott diesen Glauben sah und ihm diesen zur Gerechtigkeit rechnete, aber als er auf dem Altar seinen Sohn Isaak opferte, konnte Gott sagen: "Nun weiß ich", und die ganze Welt hatte einen unwiderlegbaren Beweis von der Tatsache, daß Abra­ham ein gerechtfertigter Mann war. Wo der innere Grundsatz besteht, wird auch die äußere Tätigkeit nicht fehlen. Man trenne für einen Augenblick die Werke Abrahams, wie Jakobus sie uns darstellt von dem Glauben Abrahams, wie Paulus ihn erklärt und man frage sich, welche rechtfertigende Kraft die Werke dann besitzen würden. über­haupt keine. Ihr ganzer Wert, ihre ganze Wirksamkeit beruht auf der Tatsache, daß sie die äußere Offenbarung des Glaubens waren, auf­grund dessen Abraham bereits für gerecht erklärt worden war. Es be­steht daher völlige Übereinstimmung zwischen Paulus und Jakobus. Die Stimme des Heiligen Geistes ist völlig gleichlautend, ob sie nun durch Paulus oder durch Jakobus vernommen wird.

 

Kehren wir jetzt zu unserem Kapitel zurück. Es ist sehr interessant zu bemerken, wie Abraham durch die Prüfung seines Glaubens zu einer neuen Erkenntnis des Charakters Gottes geführt wird. Wenn wir fähig sind, die uns von Gott auferlegten Prüfungen zu bestehen, wer­den wir zweifellos neue Erfahrungen hinsichtlich Seines Charakters machen und dadurch den Wert der Prüfung schätzen lernen. Hätte Abraham nicht seine Hand ausgestreckt, um seinen Sohn zu schlachten, so hätte er nie die kostbaren Reichtümer jenes Namens kennenge­lernt, mit dem er hier Gott nennt: "jahvejireh", d. i. "Der HERR wird ersehen" (V. 14). Nur wenn wir wirklich auf die Probe gestellt werden, entdecken wir, was Gott ist. Ohne Prüfungen werden wir nur Theoreti­ker bleiben. Aber Gott will das nicht. Er will, daß wir eindringen in die lebendigen Tiefen, die in Ihm sind, in die göttlichen Wirklichkeiten einer persönlichen Gemeinschaft mit Ihm. Mit welch anderen Gefühlen und Überzeugungen muß Abraham von Morija nach Beerseba gegangen sein! Wie anders müssen seine Gedanken gewesen sein über Gott, Isaak und alle Dinge! Wir können sagen: "Glückselig der Mann, der die Ver­suchung erduldet!" (Jak. 1, 12). Die Prüfung ist eine vom Herrn selbst verliehene Ehre, und der Segen der darin gesammelten Erfahrungen kann nicht hoch genug geschätzt werden. Wenn der Mensch dahin gebracht ist, daß "zunichte wird alle seine Weisheit", (Ps. 107), ent­deckt er, was Gott ist. Möge Gott uns Gnade geben, die Versuchung zu erdulden, damit Sein Name in uns verherrlicht werde!

 

Bevor wir die Betrachtung dieses Kapitels schließen, möchte ich noch darauf aufmerksam machen, in welch gnädiger Weise Gott das Werk Abrahams würdigt. "Ich schwöre bei mir selbst, spricht der HERR, daß, weil du dieses getan und deinen Sohn, deinen einzigen, mir nicht vor­enthalten hast, ich dich reichlich segnen und deinen Samen sehr meh­ren werde, wie die Sterne des Himmels und wie der Sand, der am Ufer des Meeres ist; und dein Same wird besitzen das Tor seiner Feinde; und in deinem Samen werden sich segnen alle Nationen der Erde: darum daß du meiner Stimme gehorcht hast" (V. 16‑18). Diese Worte stehen in schönem Einklang mit den Bemerkungen des Heiligen Geistes über das Werk Abrahams in Hebr. 11 und in Jak. 2. In beiden Schriftab­schnitten wird Abraham so betrachtet, als habe er Isaak, seinen Sohn, wirklich auf dem Altar geopfert. Der Grundsatz der ganzen Sache ist dieser: Abraham zeigte sich bereit, alles außer Gott aufzugeben, und derselbe Grundsatz war es auch, der ihn zu einem gerechten Mann machte und ihn als solchen erwies. Der Glaube kann außer Gott alles entbehren. Er hat das tiefe Bewußtsein, daß Gott für alles genügt. Des­halb konnte Abraham auch die Worte: "Ich schwöre bei mir" in ihrem ganzen Wert würdigen. Dieses wunderbare Wort "bei mir selbst" be­deutete für den Mann des Glaubens alles. "Denn als Gott dem Abra­ham Verheißung gab, schwur er, weil er bei keinem Größeren zu schwören hatte, bei sich selbst ... Denn Menschen schwören wohl bei einem Größeren, und der Eid ist ihnen ein Ende alles Widerspruchs zur Bestätigung; worin Gott, da er den Erben der Verheißung die Un­wandelbarkeit seines Ratschlusses überschwenglicher beweisen wollte, mit einem Eid ins Mittel getreten ist" (Hebr. 6, 13. 16. 17). Das Wort und der Eidschwur des lebendigen Gottes sollten all den Regungen und Streitereien des menschlichen Willens ein Ende setzen und mitten im Treiben dieser stürmischen Welt den sicheren Anker der Seele bilden.

 

Wir haben uns immer wieder zu verurteilen wegen der geringen Kraft, die die Verheißung Gottes für unsere Herzen hat. Die Verheißung ist da, und wir bekennen, daß wir an sie glauben. Aber sie ist für uns nicht die bleibende unerschütterliche Wirklichkeit, die sie stets sein sollte, und wir ziehen nicht das Maß an Trost aus ihr, das sie eigentlich geben will. Wie wenig sind wir bereit, in der Kraft des Glaubens unse­ren Isaak zu opfern! Bitten wir den Herrn, daß Er uns in Seiner Güte eine tiefere Einsicht in die gesegnete Wirklichkeit eines Glaubenslebens in Ihm schenken möge, damit wir besser die Tragweite des Wortes ver­stehen können: "Dies ist der Sieg, der die Welt überwunden hat: unser Glaube" (i. Joh. 5, 4). Nur durch den Glauben können wir die Welt überwinden. Der Unglaube stellt uns unter die Macht der zeitlichen Dinge. Er gibt der Welt den Sieg über uns, während die Seele, die durch die Unterweisung des Heiligen Geistes den Reichtum Gottes kennen­gelernt hat, von den Dingen auf der Erde völlig unabhängig ist.

 

Kapitel 23

 

SARAS TOD UND BEGRÄBNIS

 

Dieser kurze Abschnitt kann der Seele manche nützliche Lehre geben. Der Heilige Geist zeichnet uns hier ein schönes Bild von der Art und Weise, wie der Gläubige sich gegen diejenigen, die draußen sind, be­nehmen sollte. Zwar macht der Glaube uns von den Menschen dieser Welt unabhängig, aber er belehrt uns auch stets, ihnen gegenüber ehrenhaft zu sein. Wir werden ermahnt, ehrbarlich zu wandeln gegen die, welche draußen sind (l. Thess. 4, 12), "vorsorglich (zu sein) für das, was ehrbar ist, nicht allein vor dem Herrn, sondern auch vor den Menschen" (2. Kor. 8, 21), und niemand irgend etwas schuldig zu sein" (Röm. 13, 8). Das sind wichtige Vorschriften, die, auch ehe sie in so deutlicher Form niedergeschrieben waren, zu allen Zeiten von den treuen Dienern Christi beobachtet wurden. Leider schenkt man ihnen jedoch in der heutigen Zeit oft wenig Aufmerksamkeit.

 

Durch den Kauf der Höhle von Machpela als Grabstätte gab Abraham, wie mir scheint, seinem Glauben an die Auferstehung Ausdruck. "Und Abraham erhob sich weg von seiner Toten" (V. 3). Der Glaube kann nicht lange den Tod vor Augen behalten, er besitzt durch Gottes Gabe einen besseren Gegenstand. Der Glaube sieht stets auf die Aufer­stehung, und in der Kraft dieser Tatsache kann er sich von einer Leiche weg erheben. Die Handlungsweise Abrahams ist bemerkenswert, weil wir uns so leicht mit dem Tod und seinen Folgen beschäftigen. Der Tod ist die Grenze der Macht Satans, aber da, wo Satan endet, fängt Gott an. Abraham verstand dies, als er aufstand und die Höhle von Machpela als Ruhestätte für Sara kaufte. Abraham wußte, daß in den kommenden Zeitaltern die Verheißung Gottes bezüglich des Landes Kanaan sich erfüllen würde, und konnte daher in der sicheren Erwartung einer herrlichen Auferstehung den Leib Saras ins Grab legen.

 

Dieses Kapitel verdient daher unsere besondere Beachtung. Es beginnt mit dem Tod Saras und zeigt uns Abraham in einem neuen Charakter, nämlich in dem eines Leidtragenden. "Und Abraham kam, um über Sara zu klagen und sie zu beweinen" (V. 2). Das Kind Gottes wird sol­chen Dingen begegnen, jedoch nicht wie die übrigen, "die keine Hoff­nung haben" (i. Thess. 4, 13. 14). Die große Tatsache der Auferstehung schenkt ihm Erleichterung und verleiht seiner Trauer einen ganz be­sonderen Charakter. Der Gläubige kann am Grab eines Bruders oder einer Schwester im Herrn mit dem glücklichen Bewußtsein stehen, daß dieses Grab seinen Gefangenen nicht lange behalten wird, "denn wenn wir glauben, daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird auch Gott die durch Jesum Entschlafenen mit ihm bringen". Die Erlösung der Seele sichert die Erlösung des Leibes. Wir besitzen die eine und warten auf die andere (Röm. 8, 23).

 

Die unbeschnittenen Kinder Heth verstanden davon nichts. Die Ge­danken, die die Seele des Patriarchen erfüllten, waren ihnen fremd. Ihnen erschien es bedeutungslos, wo Abraham seine Tote begrub, aber ihm nicht. "Ich bin ein Fremdling und Beisasse bei euch; gebet mir ein Erb­begräbnis bei euch, daß ich meine Tote begrabe vor meinem Angesicht hinweg" (V. 4). Die Hethiter mochten es seltsam finden, daß Abraham wegen eines Grabes so viele Umstände machte, aber "deswegen er­kennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat". Die schön­sten Züge des Glaubens sind die, die der natürliche Mensch am un­begreiflichsten findet. Die Kanaaniter hatten keine Ahnung von den Erwartungen, die die Handlungsweise Abrahams rechtfertigten. Sie wußten nicht, daß Abraham auf den zukünftigen Besitz des Landes schaute, als er eine Höhle suchte, in der er, wenn er wie Sara gestor­ben wäre, die von Gott bestimmte Zeit den Morgen der Auferstehung, erwarten konnte. Er fühlte, daß er mit den Kindern Heth nichts zu schaffen hatte, und wäre daher bereit gewesen, auch sein Leben zu lassen und es Gott anheimzustellen, für ihn und mit ihm zu handeln.

 

"Diese alle sind im Glauben gestorben und haben die Verheißungen nicht empfangen, sondern sahen sie von ferne und begrüßten sie und bekannten, daß sie Fremdlinge und ohne Bürgerschaft auf der Erde seien` (Hebr. 11, 13). Das ist ein schöner Zug im göttlichen Leben. Diese "Zeugen", von denen in Hebr. 11 die Rede ist, lebten nicht nur durch Glauben, sondern bewiesen auch, wenn sie am Ende ihres Weges an­langten, daß die Verheißungen Gottes ebenso real und überzeugend für ihre Seele waren wie im Anfang, als sie ihren Weg begannen. Dieser Kauf einer Grabstätte in dem Land der Verheißung war daher, wie mir scheint, eine Offenbarung der Macht des Glaubens, nicht nur im Blick auf das Leben, sondern auch auf den Tod. Warum nahm Abraham es so genau beim Kauf eines Begräbnisplatzes? Warum wollte er unbedingt seine Ansprüche an den Acker und der Höhle Ephrons auf Rechtmäßigkeit gründen? Warum war er so entschlossen, den vollen Preis zu zahlen, wie er "gangbar war beim Kaufmann"? (V. 16). Der Glaube ließ ihn so handeln. Abraham tat alles durch Glauben. Er wußte, daß das Land für die Zukunft ihm gehörte, und daß in der Aufer­stehungs‑Herrlichkeit sein Same es auch besitzen würde, und bis dahin wollte er nicht ein Schuldner derer sein, die noch aus dem Besitz des Landes vertrieben werden mußten.

 

Dieses Kapitel kann also von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Zunächst stellt es uns einen einfachen praktischen Grundsatz für unser Verhalten gegenüber der Welt vor Augen, und dann hebt es die herrliche Hoffnung hervor, die den Gläubigen stets beleben sollte. Die uns im Evangelium vorgestellte Hoffnung ist die Unsterblichkeit, und während diese das Herz über jeden Einfluß der Natur und der Welt erhebt, zeigt sie uns einen Grundsatz für unseren Umgang mit denen, die draußen sind. "Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes, und es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden, ­ wir wissen, daß, wenn es offenbar werden wird, wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist". Das ist unsere Hoffnung. Und wie wirkt sie sich aus? "Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, gleichwie er rein ist" (i. Joh. 3, 2. 3). Wenn ich Christus einmal gleich sein soll, werde ich mich bemühen, Ihm schon jetzt so ähnlich wie möglich zu sein. Der Christ sollte daher stets be­strebt sein, vor denen, die ihn umgeben, in Aufrichtigkeit und Gnade seinen Weg zu gehen.

 

Abraham ist für uns in seinem Verhalten gegenüber den Kindern Heth ein schönes Vorbild. Er zeigt in seinem Tun Würde und Uneigennützig­keit. Er war "ein Fürst Gottes" unter ihnen, und sie hätten sich gefreut, ihm einen Gefallen tun zu können, aber Abraham hatte gelernt, nur von dem Gott der Auferstehung Beweise der Zuneigung anzunehmen, und während er den Hethitern die Höhle von Machpela bezahlte, wartete er auf Gott hinsichtlich des Landes Kanaan. Die Kinder Heth kannten sehr gut den Wert des Silbers, wie es "beim Kaufmann gangbar" war, und Abraham kannte den Wert der Höhle von Machpela. Sie hatte für ihn einen weit höheren Wert als für jene. War ihnen das Feld "vierhundert Sekel Silber" wert, so war es für ihn geradezu un­bezahlbar, denn es war das Unterpfand eines ewigen Erbes, das, eben weil es ewig war, nur in der Macht der Auferstehung besessen werden konnte. Der Glaube führt die Seele in die Zukunft. Er sieht die Dinge, wie Gott sie sieht, und bewertet sie nach dem Urteil des Heiligtums. In der Einsicht des Glaubens erhob sich Abraham daher, "von seiner Toten weg" und kaufte eine Grabstätte, wodurch er seiner Hoffnung auf die Auferstehung und das darauf gegründete Erbteil deutlich Aus­druck gab.

 

Kapitel 24

 

REBEKKA

 

Interessant ist die Verbindung dieses Kapitels mit den beiden vorher­gehenden. In Kap. 22 wird der Sohn auf dem Altar geopfert, in Kap. 23 wird Sara beigesetzt, und in Kap. 24 wird der Knecht ausgesandt, um ein Weib für den zu suchen, den Abraham "im Gleichnis" aus den Toten wiederempfangen hatte (Vergl. Hebr. 11, 19). Diese Reihenfolge stimmt auffallend mit der Ordnung der Ereignisse überein, die mit der Berufung der Kirche verbunden sind.

 

Die großen Tatsachen, denen wir im Neuen Testament begegnen, sind 1. die Verwerfung und der Tod Christi, 2. die Beiseitesetzung Israels, und 3. die Berufung der Versammlung in die herrliche Stellung als Braut des Lammes. Dies entspricht genau dem Inhalt der drei genannten Kapitel. Der Tod Christi mußte eine vollendete Tatsache sein, bevor die Kirche berufen werden konnte. Ebenso mußte die "Zwi­schenwand der Umzäunung" abgebrochen sein, bevor der "eine neue Mensch" gebildet werden konnte. Es ist wichtig, das zu verstehen, damit wir den Platz kennen, den die Versammlung in den Wegen Gottes einnimmt. So lange die jüdische Haushaltung bestand, hatte Gott strikte Trennung zwischen Juden und Heiden angeordnet, und deshalb lag der Gedanke einer Vereinigung beider in einem neuen Menschen dem Geist eines Juden ganz und gar fern. Der Jude war viel­mehr zu der Ansicht erzogen worden, daß seine Stellung die des Heiden in jeder Beziehung überragte, und diesen als einen unreinen Menschen zu betrachten, mit dem jede Verbindung untersagt war (Vgl. Apg. 10,28).

 

Hätte Israel mit Gott gelebt gemäß den wahren Beziehungen, in der Er das Volk in Seiner Gnade gebracht hatte, wäre es in dieser Stellung der Absonderung und der Vorrechte geblieben. Aber Israel folgte einem anderen Weg, und als es durch die Kreuzigung des Herrn der Herrlichkeit und durch die Verwerfung des Zeugnisses des Heiligen Geistes das Maß der Ungerechtigkeit voll gemacht hatte, wurde Paulus erweckt, um der Verwalter einer neuen Sache zu sein, die in den Rat­schlüssen Gottes verborgen gewesen war, während sich das Zeugnis an Israel richtete. "Dieserhalb ich, Paulus, der Gefangene Christi Jesu für euch, die Nationen, ‑ wenn ihr anders gehört habt von der Verwaltung der Gnade Gottes, die mir in Bezug auf euch gegeben ist, daß mir durch Offenbarung das Geheimnis kundgetan worden . . . , welches in anderen Geschlechtern den Söhnen der Menschen nicht kundgetan worden, wie es jetzt geoffenbart worden ist seinen heiligen Aposteln und Propheten (d. h. den Propheten des Neuen Testaments) im Geiste: daß die aus den Nationen Miterben seien und Miteinverleibte und Mitteilhaber seiner Verheißung in Christo Jesu durch das Evangelium" (Eph. 3, 1‑‑6). Das ist eine deutliche Sprache. Das Geheimnis der Versammlung, die aus Juden und Heiden zusammengesetzt, durch einen Geist zu einem Leib getauft, mit dem herrlichen Haupt im Himmel vereinigt ist, war bis zu den Tagen des Paulus nie geoffenbart worden. Im Blick auf dieses Geheimnis fährt der Apostel fort: "Dessen Diener ich geworden bin nach der Gabe der Gnade Gottes, die mir gegeben ist nach der Wirk­samkeit seiner Kraft" (Eph. 3, 7). Die Apostel und Propheten des Neuen Testaments bilden sozusagen die erste Lage dieses herrlichen Gebäudes (siehe Eph. 2, 20). Hieraus ergibt sich auch, daß der Bau unmöglich früher (vor der Zeit der Apostel) seinen Anfang genommen haben kann. Wäre der Bau schon in den Tagen Abels begonnen worden, hätte der Apostel gesagt: "Aufgebaut auf die Grundlage der Heiligen des Alten Te­staments". Aber da er anders geredet hat, müssen wir unbedingt daraus schließen, daß die Heiligen des Alten Testaments, welche Stellung ihnen auch angewiesen sein mag, unmöglich einem Leib angehören können, der bis zum Tod und zur Auferstehung Christi, sowie bis zu der daraus folgenden Sendung des Heiligen Geistes, nur im Ratschluß Gottes bestand. Jene Heiligen waren errettet, errettet durch das Blut Christi, und bestimmt, mit der Versammlung die himmlische Herrlichkeit zu genießen, aber sie konnten nicht einem Leib angehören, der erst Hun­derte von Jahren nach ihrer Zeit ins Dasein gerufen wurde.

 

Um ein klares Verständnis über den Inhalt dieses Kapitels zu bekom­men, muß man folgende Punkte beachten: 1. den Schwur, 2. das Zeug­nis und 3. den Erfolg der Sendung Eliesers. Es ist schön zu sehen, daß Berufung und Erhöhung Rebekkas sich auf den Schwur gründeten, der zwischen Abraham und seinem Knecht bestand. Sie wußte nichts davon, obwohl sie nach dem Vorsatz Gottes der Mittelpunkt der Handlung war. Genauso verhält es sich mit der Versammlung Gottes, ob man sie nun im ganzen oder in einem ihrer Teile betrachtet. "In dein Buch waren sie alle eingeschrieben; während vieler Tage wurden sie gebildet, als nicht eines von ihnen war" (Ps. 139, 16). "Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns gesegnet hat mit jeder geistlichen Segnung in den himmlischen Örtern in Christo, wie er uns auserwählt hat in ihm vor Grundlegung der Welt, daß wir heilig und tadellos seien vor ihm in Liebe" (Eph. 1, 3. 4). "Denn welche er zuvorerkannt hat, die hat er auch zuvorbestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleich­förmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern. Welche er aber zuvorbestimmt hat, diese hat er auch berufen; und welche er berufen hat, diese hat er auch gerechtfertigt; welche er aber gerechtfertigt hat, diese hat er auch verherrlicht" (Röm. 8, 29. 30). Es besteht eine wunderbare Übereinstimmung zwischen diesen Schriftstel­len und dem Thema, das uns beschäftigt. Die Berufung, die Rechtfer­tigung und die Herrlichkeit der Versammlung gründen sich auf den ewigen Vorsatz Gottes, auf Sein Wort, das durch den Eid besiegelt und durch den Tod, die Auferstehung und die Erhöhung des Sohnes bestätigt worden ist. Weit vor dem Beginn der Zeit bestand der wunderbare Vorsatz bezüglich der Versammlung, der untrennbar mit den Gedanken Gottes über die Verherrlichung des Sohnes verbunden ist, in den Tiefen der ewigen Ratschlüsse Gottes. Der Abraham von seinem Diener geleistete Eid hatte die Erwerbung einer Gefährtin für den Sohn zum Zweck. Die Wünsche des Vaters für seinen Sohn führten zu all der Würde, die Rebekka später besaß. Welche Freude gibt das Bewußtsein, daß die Sicherheit und das Glück der Versammlung untrennbar mit Christus und Seiner Herrlichkeit verbunden sind! "Denn der Mann ist nicht vom Weibe, sondern das Weib vom Manne; denn der Mann wurde auch nicht um des Weibes willen geschaffen, sondern das Weib um des Mannes willen" (l. Kor. 11, 8. 9). So lesen wir auch in dem schönen Gleichnis vom Hochzeitsmahl: "Das Reich der Himmel ist einem Könige gleich geworden, der seinem Sohne Hochzeit machte" (Matth. 22, 2). Der Sohn ist der Mittelpunkt aller Gedanken und Rat­schlüsse Gottes, und wenn jemand zur Herrlichkeit geführt wird, So kann es nur in Verbindung mit dem Sohn sein. Durch die Sünde hat der Mensch jedes Anrecht auf diese Dinge, ja, auf das Leben selbst, ver­wirkt, aber Christus nahm die ganze Strafe für die Sünde auf sich. Er machte sich für Seine Versammlung für alles verantwortlich. Als ihr Stellvertreter wurde Er ans Kreuz genagelt. Er trug ihre Sünden an Seinem eigenen Leib auf das Holz und stieg, nachdem Er das volle Gewicht der Sünde getragen hatte, hinab ins Grab. Nichts kann daher vollständiger sein als die Befreiung der Versammlung von allem, was gegen sie war. Sie ist lebendig gemacht aus dem Grab Christi hervorge­gangen, wo alle Sünden ihrer Glieder zurückgeblieben sind. Das Leben, das sie besitzt, wurde auf der anderen Seite des Todes erworben, nach­dem alle Forderungen Gottes befriedigt waren. Dieses Leben ist daher auf die Gerechtigkeit Gottes gegründet, ebenso wie sich das Anrecht Christi auf das Leben auf Seine Vernichtung der Macht des Todes gründet, und Er ist das Leben der Versammlung. In dieser Weise hat sie göttliches Leben, sie ist bekleidet mit göttlicher Gerechtigkeit, und die Hoffnung, die sie belebt, ist die Hoffnung der Gerechtigkeit (Ver­gleiche unter vielen anderen folgende Schriftstellen: Joh. 3, ‑16. 36; 5, 39. 40; 6, 27. 40. 47. 68; 11, 25; 17, 2; Röm. 5, 21; 6, 23; 1. Tim. 1, 16; 1. Joh. 2, 25; 5, 20; Jud. 21; Eph. 2, 1‑6. 14. 15; Kol. 1, 12‑22; 2, 10‑15; Röm. 1, 17; 3, 21‑26; 4, 5. 23‑25; 2. Kor. 5, 21; Gal. 5, 5).

 

In diesen Schriftstellen werden drei Punkte hervorgehoben: das Leben, die Gerechtigkeit und die Hoffnung der Versammlung. Alle drei ent­springen der Tatsache des Einsseins der Versammlung mit dem, der aus den Toten auferweckt worden ist. Nichts kann das Herz so befesti­gen, wie die Überzeugung, daß die Existenz der Versammlung unbe­dingt zur Herrlichkeit Christi gehört. "Das Weib ist des Mannes Herr­lichkeit" (l. Kor. 11, 7). Die Versammlung wird genannt: Die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt" (Eph. 1, 23). Dieser Ausdruck ist beachtenswert. Das durch "Fülle" übersetzte Wort bezeichnet die Ergän­zung einer Sache, oder das, was diese Sache zu einem Ganzen macht. In dieser Weise machen Christus als das Haupt und die Kirche als der Leib den einen "neuen Menschen" aus (Eph. 2, 15). Wenn wir die Sache von diesem Gesichtspunkt aus betrachten, werden wir uns nicht mehr darüber wundern, daß die Versammlung der Gegenstand der ewigen Ratschlüsse Gottes gewesen ist, sondern werden vielmehr fühlen, daß durch die Gnade ein Grund vorhanden war, daß die Braut Seines eingeborenen Sohnes die Gedanken Gottes vor Grundle­gung der Welt beschäftigte. Rebekka war für Isaak notwendig, und darum war sie Gegenstand eines geheimen Ratschlusses, während sie selbst über ihre Zukunft und ihre hohe Bestimmung noch ganz unwis­send war. Alle Gedanken Abrahams bezogen sich auf Isaak. "Ich werde dich schwören lassen bei dem HERRN, dem Gott des Himmels und dem Gott der Erde, daß du meinem Sohne nicht ein Weib nehmen wirst von den Töchtern der Kanaaniter, in deren Mitte ich wohne" (V. 3). "Ein Weib für meinen Sohn", das ist hier der wichtige Punkt. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei." Dies läßt uns einen tiefen Blick tun in das, was die Versammlung ist. Sie ist in den Ratschlüssen Gottes für Christus nötig, und in dem vollbrachten Werk Christi schuf Gott die Voraussetzung, um sie ins Dasein rufen zu können.

 

Wenn man die Sache von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, handelt es sich nicht mehr um die Frage, ob Gott Sünder retten kann. Nein, Er wünscht tatsächlich, "seinem Sohne Hochzeit zu machen", und die Ver­sammlung ist die auserwählte Braut, der Gegenstand des Vorsatzes des Vaters, der Liebe des Sohnes und des Zeugnisses des Heiligen Geistes. Sie ist bestimmt, die Genossin der Würde und der ganzen Herrlichkeit des Sohnes zu sein, so wie sie teilhat an all der Liebe, deren ewiger Gegenstand Er gewesen ist. Hören wir die Worte des Sohnes: "Und die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, auf daß sie eins seien, gleichwie wir eins sind; ich in ihnen und du in mir, auf daß sie in eins vollendet seien, und auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt und sie geliebt hast, gleichwie du mich geliebt hast" (Joh. 17, 22. 23). Diese Worte offenbaren uns die Gedanken Christi über die Kirche. Sie ist nicht nur bestimmt, so zu werden, wie Er ist, sondern sie ist dies schon jetzt, denn wir lesen: "Hierin ist die Liebe mit uns vollendet worden, auf daß wir Freimütigkeit haben an dem Tage des Gerichts, daß, gleichwie er ist, auch wir sind in dieser Welt" (l. Joh. 4, 17). Diese Tatsache gibt der Seele völliges Vertrauen. "Wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohne Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben" (i. Joh. 5, 20). Alle Un­gewißheit ist verschwunden, denn alles ist der Braut in ihrem Bräutigam zugesichert. Alles was Isaak gehörte, wurde das Eigentum Rebekkas, und ebenso ist alles, was Christus gehört, das Teil der Versammlung. "Alles ist euer. Es sei Paulus oder Apollos oder Kephas, es sei Welt oder Leben oder Tod, es sei Gegenwärtiges oder Zukünftiges: alles ist euer, ihr aber seid Christi, Christus aber ist Gottes" (l. Kor. 3,21‑23). Christus ist "als Haupt über alles der Versammlung gegeben" (Eph. 1, 22). In Ewigkeit wird es Seine Freude sein, die Versammlung in der Herrlichkeit und Schönheit darzustellen, die Er ihr bereitet hat, denn ihre Herrlichkeit und Schönheit wird nur der Abglanz Seiner eigenen Herrlichkeit sein. Engel und Fürstentümer sollen in der Versammlung die wunderbare Entfaltung der Weisheit, Macht und Gnade Gottes in Christus schauen.

 

Untersuchen wir jetzt den zweiten Punkt, den wir oben erwähnten: das Zeugnis. Der Diener Abrahams mußte ein klares und bestimmtes Zeugnis ablegen. "l)a sprach er: Ich bin Abrahams Knecht; und der HERR hat meinen Herrn sehr gesegnet, so daß er groß geworden ist; und er hat ihm Kleinvieh gegeben und Rinder, und Silber und Gold, und Knechte und Mägde, und Kamele und Esel. Und Sara, das Weib meines Herrn, hat meinem Herrn einen Sohn geboren, nachdem sie alt geworden war; und er hat ihm alles gegeben, was er hat"( V. 34‑36). Er offenbart den Vater und den Sohn, das war sein Zeugnis. Er redet von dem großen Reichtum des Vaters und erzählt, daß er alle seine Habe dem Sohn gegeben hat, weil dieser der "eingeborene Sohn" und der Gegenstand der Liebe des Vaters ist. Durch dieses Zeugnis sucht er eine Braut für den Sohn zu werben.

 

Ich brauche kaum zu sagen, daß die Schrift uns hier in bildlicher, aber sehr treffender Weise das Zeugnis des am Pfingsttage vom Himmel gesandten Heiligen Geistes vor Augen stellt. "Wenn aber der Sach­walter gekommen ist, den ich euch von dem Vater senden werde, der Geist der Wahrheit, der von dem Vater ausgeht, so wird er von mir zeugen" (Joh. 15, 2). "Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, ge­kommen ist, wird er euch in die ganze Wahrheit leiten; denn er wird nicht aus sich selbst reden, sondern was irgend er hören wird, wird er reden, und das Kommende wird er euch verkündigen. Er wird mich verherrlichen, denn von dem meinen wird er empfangen und euch verkündigen. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum sage ich, daß er von dem meinen empfängt und euch verkündigen wird" (Joh. 16, 13‑15). Die Übereinstimmung zwischen diesen Worten und dem Zeug­nis des Knechtes Abrahams ist lehrreich und interessant. Indem er von Isaak redete, suchte er das Herz der Rebekka zu gewinnen. Ebenso macht es der Heilige Geist. Indem Er von Jesus redet, sucht Er Sünder aus einer Welt der Sünde und der Torheit in die gesegnete und heilige Einheit des Leibes Christi zu ziehen. Von dem meinen wird er emp­fangen und euch verkündigen". Der Geist Gottes will niemals die Auf­merksamkeit der Seele auf sich selbst oder Sein Werk lenken, sondern allein auf Christus. Je tiefer eine Seele im Geist lebt, um so mehr wird sie mit Christus beschäftigt sein.

 

Es gibt manche, die das ständige In‑sich‑schauen und das Stehenbleiben bei dem, was sie in ihrem Herzen sehen (wenn es auch durch den Hei­ligen Geist gewirkt sein kann), als ein Kennzeichen großer Geistlichkeit betrachten. Doch das ist ein Irrtum. Statt ein Beweis von Geistlichkeit zu sein, beweist diese Selbstbetrachtung vielmehr gerade das Gegenteil. Jesus hat im Blick auf den Heiligen Geist ausdrücklich erklärt: "Er wird nicht aus sich selbst reden", sondern: "Er wird von dem meinen empfangen und euch verkündigen". Wenn daher jemand fortwährend in sich blickt, so kann er sicher sein, daß er in dieser Beziehung nicht durch den Geist Gottes geleitet wird. Der Heilige Geist zieht die Seelen zu Gott hin, indem Er ihnen Christus vorstellt. Die Erkenntnis Christi ist das ewige Leben, und die durch den Heiligen Geist bewirkte Offen­barung des Vaters durch den Sohn bildet die Grundlage der Versamm­lung. Als Petrus bekannte, daß Christus der Sohn des lebendigen Gottes ist, antwortete Christus: "Glückselig bist du, Simon, Bar Jona; denn Fleisch und Blut haben es dir nicht geoffenbart, sondern mein Vater, der in den Himmeln ist. Aber auch ich sage dir, daß du bist Petrus; auf diesen Felsen will ich meine Versammlung bauen, und des Hades Pforten werden sie nicht überwältigen" (Matth. 16, 17. 18). Auf welchen Felsen? Petrus? Ganz bestimmt nicht! Der "Felsen" ist die Offenbarung des Vaters durch Christus, den Sohn des lebendigen Gottes. Diese Offenbarung ist das einzige Mittel, durch das eine Seele in die Versammlung Christi gebracht werden kann. Hier lernen wir den wahren Charakter des Evangeliums kennen. Das Evangelium ist vor allen Dingen und ausdrücklich eine Offenbarung, und zwar nicht nur die Offenbarung einer Lehre, sondern einer Person, der Person des Sohnes Gottes, und diese durch Glauben angenommene Offen­barung zieht das Herz zu Christus und wird die Quelle des Lebens und der Kraft, die Grundlage der Vereinigung mit Christus als Glied Seines Leibes, sowie die Kraft der Gemeinschaft. Der Apostel sagt: Als es aber Gott wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren usw." Hier haben wir den Grundsatz des "Felsen": Gott offenbart Seinen Sohn, In dieser Weise wird der Bau errichtet, und er steht nach dem ewigen Vorsatz Gottes auf diesem unerschütterlichen Fundament.

 

Es ist daher beeindruckend, wenn man dies Kapitel als ein Bild von der Sendung und dem Zeugnis des Heiligen Geistes betrachtet. Der Knecht Abrahams gab Einblick in Hoheit und Reichtum, die der Vater dem Sohn gegeben hatte, sowie die Vaterliebe, die ihn erfreute, also alles, was das Herz Rebekkas ansprechen und von den Dingen abziehen konnte, worin sie sich befand. Er zeigte ihr einen fernen Bräutigam und stellte ihr vor Augen, daß sie mit ihm einsgemacht werden würde. Alles was Isaak gehörte, sollte Rebekkas Teil sein. Das war der Inhalt der Botschaft. Denselben Charakter trägt das Zeugnis des Heiligen Geistes. Er redet von Christus, von der Herrlichkeit Christi, von der Schönheit, Fülle und Gnade Christi, von Seinen "unausforschlichen Reichtümern", von der Majestät Seiner Person und der Herrlichkeit Seines Werkes. Zugleich stellt Er das Glück heraus, eins zu sein mit einem solchen Christus als Glied Seines Leibes.

 

Das ist zu allen Zeiten das Zeugnis des Heiligen Geistes und daran kann jede Belehrung und Predigt gemessen werden. Eine geistliche Belehrung wird immer durch eine Darstellung Christi gekennzeichnet sein. Er wird ihren Inhalt ausmachen. Der Geist kann sich nur mit Christus beschäf­tigen. Von Ihm zu reden ist Seine Wonne. Seine Vollkommenheit, Seine Tugend und Seine Schönheit kundzumachen ist Seine Freude. Wenn daher jemand durch die Kraft des Geistes Gottes im Werk des Herrn arbeitet, so wird sich stets mehr als alles andere Christus in seinem Dienst zeigen. Menschliche Vernunftschlüsse werden in diesem Dienst wenig Raum finden.

 

Schließlich müssen wir uns noch mit dem Erfolg der Sendung beschäf­tigen. Die Wahrheit und die praktische Anwendung der Wahrheit sind zwei sehr verschiedene Dinge. Es ist eine Sache, von der Herrlichkeit der Versammlung zu reden, und eine andere Sache, von dieser Herrlichkeit praktisch beeinflußt zu werden. Bei Rebekka war die Wirkung des Zeugnisses Eliesers ganz entscheidend. Es drang in ihr Herz, und so wurde sie von allem gelöst, was sie umgab. Sie war bereit, alles zu verlassen und dem Ziel, das sie vor Augen hatte, nachzujagen, um das zu ergreifen, wozu sie ergriffen worden war (Vgl. Phil. 3, 12. 13). Es war ihr unmöglich, sich als Gegenstand einer so hohen Bestimmung zu erkennen und trotzdem in den Umständen zu bleiben, in denen sie von Natur aus war. Wenn das Zeugnis der Wahrheit entsprach, wäre es Tor­heit gewesen, an den gegenwärtigen Dingen festzuhalten. Wenn die Hoffnung, die Braut Isaaks und die Miterbin seiner Herrlichkeit zu werden, Wirklichkeit für Rebekka war, dann hätte sie durch weiteres Hüten der Schafe Labans nur ihrer Geringschätzung der Dinge Ausdruck gegeben, die Gott ihr in Seiner Gnade vorgestellt hatte.

 

Aber die Aussicht war zu herrlich, um leichtfertig aufgegeben zu wer­den. Zwar hatte sie weder Isaak noch das Erbteil gesehen, aber sie hatte dem Bericht des Boten geglaubt und gewissermaßen schon das Unterpfand des Erbes empfangen, und das genügte ihr. Daher erhob sie sich ohne Zögern und erklärte: "Ich will gehen" (V. 58). Sie war bereit, einen ihr unbekannten Weg zu betreten, und zwar mit dem, der ihr einen fernen Gegenstand und eine damit verbundene Herrlichkeit ge­offenbart hatte, eine Herrlichkeit, zu der sie nun bald erhoben werden sollte. "Ich will gehen", sagte sie, und vergessend, was hinter ihr lag, und sich ausstreckend, nach dem, was vor ihr lag, folgte sie unverzüglich ihrer hohen Berufung (siehe Phil. 3, 14). Welch ein schönes Bild von der Versammlung, die unter der Führung des Heiligen Geistes ihrem himmlischen Bräutigam entgegengeht! jedenfalls sollte so der Zustand der Versammlung sein. Leider sieht es mit der Verwirklichung traurig aus. Man sieht wenig von der heiligen Freude, die jedes Hindernis in der Kraft der Gemeinschaft mit dem heiligen Führer ablegt, dessen Dienst und Freude es ist, von den Dingen Jesu zu nehmen und uns zu verkündigen, so wie der Knecht Abrahams von den Dingen Isaaks nahm und sie der Rebekka zeigte, und zweifellos fand er, je mehr sie sich dem Ziel näherten, seine Freude daran, ihr immer neue Dinge über den Sohn zu berichten. So ist es wenigstens mit unserem himmli­schen Führer und Begleiter. Seine Freude ist es, von Jesus zu reden. "Er wird von dem meinen empfangen und euch verkündigen", und: "Das Kommende wird er euch verkündigen". Wir brauchen diesen Dienst des Geistes Gottes, der unseren Seelen Christus offenbart, indem Er das Verlangen in uns weckt, Ihn zu sehen, wie Er ist, und Ihm für immer gleich zu sein, denn nur das kann unsere Herzen von der Erde lösen und von allem, was der Natur angehört. Was sonst als die Hoffnung, mit Isaak vereinigt zu werden, hätte Rebekka veranlassen können, zu sagen: "Ich will gehen", als ihr Bruder und ihre Mutter baten: "Laß das Mädchen einige Tage oder zehn bei uns bleiben"? (V. 55). Und so ist es mit uns. Nur die Hoffnung, Jesus zu sehen, wie Er ist, und I m gleich zu sein, kann uns fähig machen, uns selbst zu reinigen, gleichwie Er rein ist (l. Joh. 3, 3).

 

Kapitel 25

 

ABRAHAMS ZWEITE HEIRAT UND SEIN TOD. JAKOB UND ESAU

 

Der Anfang dieses Kapitels stellt uns mit der zweiten Heirat Abrahams ein Ereignis vor Augen, das wegen seiner Verbindung mit dem Inhalt des vorigen Kapitels unsere Beachtung verdient. Durch die propheti­schen Schriften des Neuen Testaments wissen wir, daß der Same Abrahams nach der Aufnahme der Braut Christi wieder eine wichtige Rolle spielen wird. So nimmt der Heilige Geist nach der Heirat Isaaks die Geschichte des Samens Abrahams in dem Bild einer neuen Heirat wieder auf und beschäftigt uns mit einzelnen Nebenumständen aus der Geschichte dieses Patriarchen und seiner Nachkommen.

 

Wie wir bereits bemerkt haben, veranschaulicht das 1. Buch Mose ge­wissermaßen die großen Grundsätze der Beziehungen Gottes zum Men­schen. Im ersten Buch Mose werden diese Grundsätze bildlich darge­stellt, während sie im Neuen Testament als Lehre entwickelt werden, aber besonders die Bildersprache redet mächtig zu unseren Herzen.

 

Das Ende unseres Kapitels stellt uns einige ernste praktische Grundsätze vor. Jakobs Charakter und Leben werden wir noch beleuchten, aber vorher möchte ich gern auf das Verhalten Esaus eingehen. Das natürliche Herz legt keinen Wert auf die Dinge Gottes. Da es Gott nicht kennt, sind die Verheißungen Gottes für das natürliche Herz wert ‑ und kraft­los. Das ist auch der Grund, weshalb die zeitlichen Dinge dem Men­schen so viel bedeuten und einen so großen Einfluß auf ihn ausüben. Der Mensch schätzt nur das, was er sieht, weil er durch Schauen und nicht durch Glauben geleitet wird. Für ihn ist die Gegenwart alles, die Zukunft aber ungewiß und unbedeutend. "Siehe", sagte Esau, "ich gehe hin zu sterben, und wozu mir da das Erstgeburtsrecht?" (V. 32). Ein seltsamer Vernunftschluß! Die Gegenwart läuft mir davon, und darum verachte ich die Zukunft und verzichte auf sie, darum habe ich kein Interesse an der Ewigkeit. "So verachtete Esau das Erstge­burtsrecht" (V. 34). So verachtete Israel "das köstliche Land" (Ps. 106, 24). So verachtete es den Messias (Sach. '11, 12), und so verachten die zur Hochzeit Geladenen die Einladung (Matth. 22, 5). Der Mensch hat kein Herz für die Dinge Gottes. Ein "Gericht Linsen" gilt ihm mehr als das Anrecht auf Kanaan. Gerade der Grund, weshalb Esau seine Erstgeburt geringschätzte, hätte ihn veranlassen sollen, einen hohen Wert in ihr zu sehen. Je mehr ich die Vergänglichkeit und Nichtigkeit der Gegenwart des Menschen feststelle, um so fester klammere ich mich an die Zukunft Gottes. "Da nun dies alles aufgelöst wird, welche solltet ihr dann sein in heiligem Wandel und Gottseligkeit! indem ihr erwartet und beschleuniget die Ankunft des Tages Gottes, dessentwegen die Himmel, in Feuer geraten, werden aufgelöst und die Elemente im Brande zerschmelzen werden. Wir erwarten aber, nach seiner Ver­heißung, neue Himmel und eine neue Erde, in welchen Gerechtigkeit wohnt" (2. Petr. 3, 11‑13). Das sind die Gedanken Gottes und deshalb auch die Gedanken des Glaubens. Die sichtbaren Dinge werden verge­hen. Sollten wir deshalb die unsichtbaren verachten? Nein! Die Gegen­wart verschwindet wie ein Schatten. Was ist unsere Zuflucht? Die An­kunft des Tages Gottes zu erwarten und zu beschleunigen. Das ist die Einstellung des erneuerten Herzens. Jede andere Einstellung ist die eines Ungöttlichen wie Esau, "der für eine Speise sein Erstgeburtsrecht ver­kaufte" (Hebr. 12, 16).

 

Kapitel 26

 

ISAAK IN GERAR

 

Der erste Vers dieses Kapitels stellt eine Beziehung zu Kap. 12 her. "Und es entstand eine Hungersnot im Lande, außer der vorigen Hun­gersnot, die in den Tagen Abrahams gewesen war" (V. 1). Die Prü­fungen, denen die Kinder Gottes ausgesetzt sind, tragen fast alle denselben Charakter und bezwecken, offenbar zu machen, inwieweit das Herz alles in Gott gefunden hat. Es ist eine schwierige Sache, zu der man sich selten emporschwingt, in so vertrauter Gemeinschaft mit Gott zu leben, daß die Seele ganz unabhängig wird von Menschen und Dingen. Die "Ägypten" und "Gerar" zu unserer Rechten und Linken sind mächtige Versuchungen, die uns entweder von dem geraden Weg ablenken, oder uns davon abhalten wollen, unsere Stellung als Diener des lebendigen Gottes wirklich einzunehmen.

 

"Und Isaak zog zu Abimelech, dem Könige der Philister nach Gerar" (V. 1). Zwischen Ägypten und Gerar besteht ein deutlicher Unterschied. Ägypten ist ein Bild von der Welt mit ihren natürlichen Hilfsmitteln und ihrer Unabhängigkeit von Gott. "Mein Fluß gehört mir", sprach der Ägypter, der nichts von dem HERRN wußte und nicht von Ihm Hilfe und Segen erwartete. Ägypten lag weiter von Kanaan entfernt als Gerar, und auch in übertragenem Sinn schildert es einen Zustand der Seele, der weiter von Gott entfernt ist. Von Gerar wird uns in Kapitel 10 gesagt: "Und das Gebiet der Kanaaniter erstreckte sich von Zidon nach Gerar hin, bis Gasa; nach Sodom und Gomorra und Adama und Ze­boim hin, bis Lescha". Auch erfahren wir, daß zwischen Gerar und Jerusalem drei Tagereisen lagen. Gerar nahm also gegenüber Ägypten eine höhere Stellung ein, aber dennoch lag es im Bereich sehr gefähr­licher Einflüsse. Abraham bekam Schwierigkeiten und Isaak ebenfalls. Abraham verleugnete seine Frau, und Isaak tat dasselbe. Es ist ernst, Vater und Sohn am selben Ort in dieselbe Sünde fallen zu sehen. Es beweist, daß der Einfluß des Ortes nicht gut war. Wäre Isaak nicht zu Abimelech, dem König von Gerar, gegangen, so wäre er nicht in diese Situation geraten. Aber die geringste Abweichung von dem geraden Weg ist von geistlicher Schwachheit begleitet. Als Petrus sich im Palast des Hohenpriesters am Feuer wärmte, verleugnete er seinen Herrn. Isaak fühlte sich in Gerar augenscheinlich nicht wirklich glücklich. Wohl sagte ihm der Herr. "Halte dich auf in diesem Lande" (V. 3), aber wie oft gibt der Herr den Seinen Anordnungen, die dem Zustand angepaßt sind, in dem Er sie findet, und die dazu dienen sollen, sie zu einem tiefen Bewußtsein von diesem Zustand zu führen. Gott befahl Mose (4. Mose 13), Männer auszusenden, um das Land Kanaan auszukund­schaften, aber wenn der moralische Zustand des Volkes nicht so traurig gewesen wäre, wäre ein solcher Schritt nicht nötig gewesen. Wir wissen, daß der Glaube nicht auszukundschaften" braucht, wenn die Verheißung Gottes offen vor ihm liegt. Ebenso erhält Mose den Befehl (4. Mose 11, 16), siebzig Männer von den Ältesten Israels aus­zuwählen, um mit ihm die Last des Volkes zu tragen. Aber wenn Mose die Hoheit und Segnung seiner Stellung völlig verstanden hätte, dann wäre dieser Befehl nicht nötig gewesen. Dasselbe gilt von dem an Samuel gerichteten Befehl des Herrn, dem Volk einen König zu geben. Das Volk hätte lieber keinen König verlangen sollen. Wenn wir daher die Anweisungen des Herrn richtig beurteilen wollen, müssen wir immer den Zustand des Empfängers einer Anordnung in Betracht ziehen.

 

Aber, wird man vielleicht einwenden, wenn Isaak sich in Gerar in einer falschen Stellung befand, warum lesen wir dann: "Und Isaak säte in selbigem Lande und gewann in selbigem Jahre das Hundertfältige; und der HERR segnete ihn"? (V. 12). Äußerer Wohlstand ist niemals ein Beweis von der Richtigkeit der Stellung eines Menschen. Wir haben bereits an einer anderen Stelle bemerkt, daß zwischen dem Segen des Herrn und Seiner Gegenwart ein großer Unterschied besteht. Man­cher wird gesegnet, ohne in der Gegenwart des Herrn zu leben. Auch ist das Herz geneigt, die Segnung mit der Gegenwart Gottes zu ver­wechseln, oder doch wenigstens sich einzureden, daß das eine not­wendigerweise von dem anderen begleitet sein müsse. Das ist ein großer Irrtum. Wie oft sehen wir Personen, die von Gottes Segnungen über­schüttet sind, aber Seine Gegenwart weder haben noch wollen. Es ist wichtig, das zu verstehen. Es kann jemand groß werden wie Isaak (V. 13‑15), und dennoch nicht völlig in der Gegenwart Gottes leben.

 

Kleinvieh und Rinder sind nicht der Herr. Diese Dinge erregten den Neid der Philister, was die Gegenwart des Herrn nie getan hätte. Isaak hätte enge Gemeinschaft mit Gott haben können, ohne daß die Philister darauf geachtet hätten, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie nichts davon verstanden und ihren Wert nicht zu würdigen vermochten. Herden von Klein‑ und Rindvieh, Knechte, Mägde und Brunnen konn­ten sie beurteilen, nicht aber die Gegenwart Gottes.

 

Endlich jedoch trennte sich Isaak von den Philistern und zog hinauf nach Beerseba. "Und der Herr erschien ihm in selbiger Nacht und sprach: Ich bin der Gott Abrahams, deines Vaters; fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir, und ich werde dich segnen" (V. 24). Beachten wir, daß hier nicht nur die Segnung des Herrn, sondern der Herr selbst mit ihm ist. Und warum? Weil Isaak die Philister mit all ihrem Neid, ihrem Gezänk und ihren Streitigkeiten hinter sich gelassen hatte und nach Beerseba hinaufgezogen war. Hier konnte der Herr sich Seinem Diener zeigen, während Er ihn in Gerar, obwohl Er ihn reich segnete, nicht durch Seine Gegenwart erfreuen konnte. Um Gottes Gegenwart erleben zu können, müssen wir da sein, wo Er ist, und gewiß finden wir Ihn nicht mitten im Streit und Gezänk einer gottlosen Welt. Je eher ein Kind Gottes diese Dinge aufgibt, um so besser. Diese Erfahrungen machte Isaak. So lange er sich bei den Philistern aufhielt, hatte er weder Ruhe in seinem Geist, noch übte er einen heilsamen Einfluß auf sie aus. Manche meinen, den Menschen dieser Welt dadurch helfen zu können, daß sie Verbindung mit ihnen suchen'. Doch wirklich nütz­lich kann man ihnen nur sein, wenn man in der Kraft der Gemeinschaft mit Gott von ihnen getrennt lebt und ihnen so das Beispiel eines besseren Weges gibt.

 

Beachten wir die geistlichen Fortschritte in der Seele Isaaks und die moralischen Folgen seines Weges: "Er zog von dannen hinauf nach Beerseba", "der HERR erschien ihm", "er baute einen Altar", "er rief den Namen des HERRN an", "er schlug daselbst sein Zelt auf“, und "seine Knechte gruben einen Brunnen". Das waren herrliche Fort­schritte. Von dem Augenblick an, als Isaak den ersten Schritt auf dem richtigen Weg tat, ging er von Kraft zu Kraft. Er trat in die Freude der Gegenwart Gottes ein und genoß wahre Anbetung. Er offenbarte den Charakter eines Fremdlings und Pilgers. Er fand Erfrischung und Ruhe und einen Brunnen, der ihm nicht streitig gemacht wurde und den die Philister nicht verstopfen konnten, weil sie nicht da waren.

 

Diese für Isaak so gesegneten Ergebnisse hatten gleichzeitig eine deut­liche Wirkung auf andere. Wir lesen: "Und Abimelech zog zu ihm von Gerar, mit Achusat, seinem Freunde' und Pikol, seinem Heerobersten. Und Isaak sprach zu ihnen: Warum kommet ihr zu mir, da ihr mich doch hasset und mich von euch weggetrieben habt? Und sie sprachen: Wir haben deutlich gesehen, daß der HERR mit dir ist; und wir haben uns gesagt: Möge doch ein Eid sein zwischen uns und dir", usw. (V. 26‑28). Um auf Herz und Gewissen der Menschen dieser Welt wir­ken zu können, muß man ganz bewußt von ihnen getrennt sein, obwohl man zugleich in vollkommener Gnade mit ihnen verkehrt. Solange Isaak in Gerar blieb, gab es nichts als Zank und Streit. Er erntete für sich nur Kummer und konnte seine Umgebung nicht zum Guten beeinflussen. Kaum aber hatte er diesen Ort verlassen, so suchten die Philister ihn auf und wünschten einen Bund mit ihm zu schließen.

 

Die Geschichte der Kinder Gottes hat viele ähnliche Beispiele. Vor allem sollten wir wissen, daß unsere Stellung zu Gott geordnet ist, ja, nicht nur unsere Stellung, sondern auch der Zustand unserer Seele. Wenn Gott gegenüber alles in Ordnung ist, können wir auch anderen helfen. Sobald Isaak nach Beerseba ging und seinen Platz als Anbeter einnahm, wurde seine Seele gestärkt, und Gott benutzte ihn, um auf seine Um­gebung einzuwirken. In einer niedrigen Stellung bleiben raubt uns viele Segnungen und macht uns zu unserem Zeugnis und Dienst völlig untüchtig. Auch sollten wir nie, wie es oft geschieht, in einer falschen Stellung bleiben und fragen: "Wo kann ich etwas Besseres finden?" Gottes Gebot lautet: "Lasset ab vom Übeltun!" (Jes. 1, 16.1 und wenn wir diesem heiligen Befehl gehorcht haben, sagt Er: "Lernet Gutes tun" (Jes. 1, 17). Wenn wir meinen, wir könnten lernen, Gutes zu tun, bevor wir das Übeltun gelassen haben, so täuschen wir uns. "Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und ‑ der Christus wird dir leuchten!" (Eph. 5, 14).

 

Wenn du etwas tust, wovon du weißt, daß es böse ist, oder wenn du irgendwie teil hast an einer Sache, die du als schriftwidrig erkennst, so beachte des Herrn Wort: "Lasset ab vom Übeltun!" und du kannst sicher sein, daß du nicht lange in Ungewißheit über deinen Weg bleiben wirst, wenn du diesem Wort gehorchst. Nur der Unglaube verleitet uns zu sagen: "Ich kann das 'Übeltun nicht lassen, bis ich etwas Besseres gefunden habe".

 

Kapitel 27

 

JAKOB ERSCHLEICHT DEN SEGEN

 

Die Kapitel 27‑35 teilen uns die Geschichte Jakobs mit, jedenfalls die besonderen Begebenheiten aus seinem Leben. Der Geist Gottes gibt uns darin eine gründliche Lektion über die Ratschlüsse der unend­lichen Gnade Gottes und die Unfähigkeit und Verdorbenheit der menschlichen Natur.

 

In Kapitel 25 habe ich absichtlich eine Stelle überschlagen, um hier darauf zurückzukommen, damit wir die Mitteilungen Gottes über Jakob vollständig und im Zusammenhang vor uns haben. Wir lesen dort in den Versen 21‑23: "Und Isaak bat den HERRN für sein Weib, denn sie war unfruchtbar; und der HERR ließ sich von ihm erbitten, und Rebekka, sein Weib, wurde schwanger. Und die Kinder stießen sich in ihr; und sie sprach: Wenn es so steht, warum bin ich dies? Und sie ging hin, den HERRN zu befragen. Und der HERR sprach zu ihr: Zwei Nationen sind in deinem Leibe, und zwei Völkerschaften werden sich scheiden aus deinem Innern; und eine Völkerschaft wird stärker sein als die andere, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen". Im Propheten Maleachi wird auf diese Stelle Bezug genommen mit den Worten: "Ich habe euch geliebt, spricht der HERR; aber ihr sprechet: Worin hast du uns geliebt?' War nicht Esau der Bruder Jakobs? spricht der HERR, und ich habe Jakob geliebt; Esau aber habe ich gehaßt" (Mal. 1, 2. 3). Eine zweite Anspielung darauf finden wir in Röm. 9, 11‑13, wo wir lesen: "Selbst als die Kinder noch nicht geboren waren und weder Gutes noch Böses getan hatten, (auf daß der Vorsatz Gottes nach Auswahl bestän­de, nicht aus Werken, sondern aus dem Berufenden), wurde zu ihr gesagt: Der Größere wird dem Kleineren dienen; wie geschrieben steht: Den Jakob habe ich geliebt, aber den Esau habe ich gehaßt".

 

Wir sehen hier deutlich den ewigen Ratschluß Gottes bezüglich der Gnadenwahl. Der Ausdruck "Gnadenwahl" ist von großer Tragweite. Er weist jede menschliche Anmaßung zurück und unterstreicht das Recht Gottes, zu handeln, wie Er will. Das ist äußerst wichtig. Das Ge­schöpf kann nicht wirklich glücklich sein, solange es nicht sein Haupt vor unumschränkter Gnade beugt. Das geziemt dem Menschen, weil er ein Sünder ist und somit kein Recht hat, zu handeln oder Gott etwas vorzuschreiben. Sich auf diesem Boden zu befinden ist deshalb von so großem Wert, weil es sich dann nicht mehr um die Frage handelt, was wir verdienen, sondern darum, was Gott gefällt, uns zu geben. Der verlorene Sohn konnte wünschen, ein Tagelöhner zu werden, aber wenn es sich um Verdienst handelt, war er nicht einmal würdig, den Platz eines Tagelöhners einzunehmen. Daher blieb ihm nichts anders übrig, als das anzunehmen, was der Vater ihm zu geben für gut fand, und der Vater gab ihm den hohen Platz der Gemeinschaft mit sich selbst. So muß es stets sein. Die Gnade wird das ganze Werk Gottes krönen bis in alle Ewigkeit. Welch ein Glück für uns! Indem wir vorangehen und von Tag zu Tag mehr entdecken, was wir sind, haben wir die uner­schütterliche Grundlage der Gnade nötig. Der Ruin des Menschen ist hoffnungslos, und daher muß die Gnade unendlich sein, und unendlich ist sie, indem Gott selbst ihre Quelle, Christus ihr Kanal und der Heilige Geist die Kraft ihrer Anwendung ist. Die Dreieinheit hat sich geoffen­bart in Verbindung mit der Gnade, die einen armen Sünder rettet. "Die Gnade herrscht durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben durch Jesum Christum unseren Herrn" (Röm. 5, 21). Nur in der Erlösung konnte diese Herrschaft der Gnade gesehen werden. In der Schöpfung können wir die Herrschaft der Macht und Weisheit, in der Vorsehung die der Güte und Langmut sehen, aber nur in der Erlösung sehen wir die Gnade herrschen, und zwar auf dem Grundsatz der Gerechtigkeit.

 

In der Person Jakobs begegnen wir einer treffenden Darstellung der Macht dieser Gnade Gottes, und zwar deshalb, weil er uns ein Beispiel der Macht der menschlichen Natur vor Augen stellt. In ihm sehen wir die Natur in ihrer ganzen Schlechtigkeit, und deshalb zeigt sich die Gnade in ihrer ganzen Schönheit und Kraft. Bereits vor und bei seiner Geburt und während seines ganzen Lebens zeigte sich eine außerge­wöhnliche Energie der Natur. Wir lesen: "Die Kinder stießen sich in ihr", und: "seine Hand hielt die Ferse Esaus", und nach seiner Geburt sehen wir auf seinem ganzen Weg bis zum Wendepunkt seiner Ge­schichte in Kapitel 32 ohne eine Ausnahme die Offenbarung einer alles andere als liebenswürdigen Natur. Alles dient, wie ein dunkler Hinter­grund, nur dazu, die Gnade dessen hervorstrahlen zu lassen, der sich herabließ, den Namen "des Gott Jakobs“ anzunehmen, einen Namen, der der rührende Ausdruck einer freien, bedingungslosen Gnade ist.

 

Wenn wir jetzt auf die Einzelheiten der Geschichte Jakobs näher ein­gehen, finden wir zunächst ein sehr demütigendes Bild von Sinnlichkeit, Betrug und List, und diese Dinge erscheinen um so trauriger und schrecklicher, wenn man sie, wie hier, mit Gottes Volk in Verbindung findet. Dennoch, wie treu und wahr ist der Heilige Geist! Er muß alles aufdecken. Wenn Er die Geschichte eines Menschen erzählt, so kann Er nicht ein unvollkommenes Bild entwerfen. Er zeichnet ihn, wie er ist. So ist es aber auch, wenn Er uns den Charakter und die Wege Gottes offenbart: Er zeigt uns Gott, wie Er ist, und das ist es, was wir brauchen. Wir brauchen die Offenbarung eines vollkommen heiligen, zu gleicher Zeit aber auch eines vollkommen gnädigen und barm­herzigen Gottes, der sich in die Tiefe des Elends und der Erniedrigung des Menschen herabließ und dort sich mit ihm beschäftigte, um ihn aus diesem Zustand zu befreien und ihn zu einer ungehinderten Ge­meinschaft mit sich selbst zu erheben, und zwar in der ganzen Wirk­lichkeit dessen, was Er ist. Gott kannte unsere Bedürfnisse, und Er hat sie befriedigt.

 

Erinnern wir uns auch, daß der Heilige Geist, indem Er uns in Seiner Liebe alle Züge des menschlichen Charakters beschreibt, nur das eine Ziel im Auge hat, die Reichtümer der Gnade Gottes zu offenbaren und unsere Seelen zu warnen. Sein Zweck ist nicht, das Gedächtnis an bestimmte Sünden aufrechtzuerhalten, da sie ja für immer vor den Augen Gottes entfernt sind. Die Flecken und Verirrungen Abrahams, Isaaks oder Jakobs sind völlig abgewaschen und weggetan, und diese Männer haben ihren Platz eingenommen inmitten der "Geister der vollendeten Ge­rechten" (Hebr. 12, 23), aber ihre Geschichte steht auf den Blättern der Heiligen Schrift, um die Gnade Gottes zu offenbaren, dem Volk Gottes züi allen Zeiten als Warnung zu dienen, und uns deutlich sehen zu lassen, daß Gott in früheren Zeiten nicht mit vollkommenen Menschen, sondern mit solchen "von gleichen Gemütsbewegungen wie wir" zu tun gehabt hat bei denen Er dieselben Schwachheiten und Fehler zu er­tragen hatte, die uns täglich zu schaffen machen. Das alles ist trostreich für das Herz und steht im Gegensatz zu der Art, in der die meisten menschlichen Lebensbeschreibungen verfaßt sind, in denen nicht die Geschichte von Menschen, wie wir sind, erzählt wird, sondern die Ge­schichte von Wesen, die frei von Irrtümern und Schwächen waren. Solche Lebensbeschreibungen schaden mehr als sie nützen. Sie dienen dem Leser mehr zur Entmutigung als zur Stärkung, denn sie teilen eher das mit, was der Mensch sein sollte, als das was in Wirklichkeit ist. Nichts kann mehr Kraft schenken, als die Darstellung der Wege Gottes mit dem Menschen, wie er wirklich ist, und gerade das reicht Gottes Wort uns dar.

 

Das vorliegende Kapitel ist ein treffender Beweis dafür. Wir finden hier den betagten Patriarchen Isaak sozusagen auf der Schwelle zur Ewigkeit. Die Erde mit allem, was der Natur angehört, entschwindet seinen Blicken, aber dennoch beschäftigt er sich mit einem "schmackhaf­ten Gericht" und steht im Begriff, indem er den Erstgeborenen statt den jüngeren segnen will, unmittelbar gegen den Ratschluß Gottes zu handeln. Das ist die Natur, und zwar die Natur mit ihren "schwach ge­wordenen Augen". Während Esau sein Erstgeburtsrecht für ein Lin­sengericht verkaufte, ist Isaak jetzt nahe daran, ihm für ein Stück Wild­bret den Segen zu geben.

 

Aber der Vorsatz Gottes muß bestehen bleiben, und Gott wird alles nach Seinem Wohlgefallen ausführen. Der Glaube weiß das, und in der Kraft dieser Erkenntnis kann er die von Gott bestimmte Zeit abwarten. Die Natur kann nicht warten und möchte ihre Ziele durch eigene Erfindungen erreichen. Das sind die beiden Hauptpunkte, die an der Geschichte Jakobs klar werden: Einerseits der Vorsatz Gottes in Gnade, andererseits die Natur, die durch Pläne das herbeiführen will, was ohne sie der Ratschluß Gottes auch zustande gebracht hätte. Dies vereinfacht ,die Geschichte Jakobs sehr und macht sie zugleich interessanter. Keine Gnade mangelt uns vielleicht so sehr, wie Geduld und völlige Abhängig­keit von Gott. Die Natur will stets selber handeln und hemmt dadurch das Wirken der Gnade und Macht Gottes. Gott brauchte zur Ausführung Seines Vorsatzes weder die List Rebekkas, noch den Betrug Jakobs. Er hatte gesagt: "Der Ältere wird dem jüngeren dienen". Das war genug für den Glauben, aber nicht genug für die Natur, die stets zu eigenen Mitteln greifen möchte, weil sie die Abhängigkeit von Gott nicht kennt. Wie gesegnet ist die Seele, die mit der Einfalt eines Kin­des in Abhängigkeit von Gott lebt und vollkommen zufrieden ist, Seine Zeit abzuwarten. Allerdings bringt eine solche Stellung Prüfungen mit sich, aber die erneuerte Seele lernt die besten Lektionen, während sie so auf den Herrn vertraut, und macht wunderbare Erfahrungen, und je mächtiger die Versuchung ist, sich den Händen Gottes zu entziehen, um so reicher wird der Segen sein, wenn wir in dieser Stellung der Abhängigkeit bleiben. Es ist wohltuend, sich von jemand abhängig zu fühlen, dessen Freude es ist, zu segnen. Nur die, die einigermaßen die Wirklichkeit dieser wunderbaren Stellung kennengelernt haben, wissen sie zu schätzen. Der Herr Jesus war der Einzige, der sie vollkommen und ohne Unterbrechung eingenommen hat. Er lebte immer in Ab­hängigkeit von Gott und widersprach entschieden jedem Vorschlag des Feindes, diese Stellung der Abhängigkeit zu verlassen. Seine Sprache war: "Bewahre mich, Gott, denn ich traue auf dich"; "auf dich bin ich geworfen von Mutterschoße an" (Ps. 16, 1; 22, 10). Als daher der Teufel Ihn verleiten wollte, durch ein Machtwort Seinen Hunger zu Stillen, erwiderte Er: "Es steht geschrieben: Nicht von Brot allein soll der Mensch leben, sondern von jedem Worte, das durch den Mund Gottes ausgeht". Als Satan Ihn versuchte, sich von der Zinne des Tempels herabzustürzen, antwortete Er: "Es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen". Und als er Ihn schließ­lich versuchte, die Reiche der Welt aus der Hand eines anderen als Gott zu nehmen, indem Er einem anderen als Gott huldigte, entgegnete Er: "Es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen". Nichts konnte Ihn veranlassen, den Platz der un­bedingten Abhängigkeit von Gott zu verlassen. Es war zweifellos Gottes Wille, Seinen Sohn zu ernähren und zu erhalten, Ihn unerwartet in Seinen Tempel einzuführen und Ihm die Reiche der Welt zu geben, aber das war gerade die Ursache, weshalb der Herr Jesus konsequent auf Gott wartete, auf die Erfüllung Seiner Ratschlüsse zu Seiner Zeit und auf Seine Weise. Er suchte nicht Seinen eigenen Willen zu tun und Seine eigenen Ziele zu erreichen. Er überließ sich völlig Gott. Er wollte nur essen, wenn Gott Ihm Brot darreichte. Er wollte nur in den Tempel eintreten, wenn Gott Ihn dorthin sandte, und Er wird den Thron besteigen zu der von Gott bestimmten Zeit. "Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege zum Schemel deiner Füße­(PS. 110, 1).

 

Diese völlige Unterwerfung des Sohnes unter den Vater verdient unsere Bewunderung. Obwohl Er Gott vollkommen gleich war, nahm Er als Mensch den Platz der Abhängigkeit ein, indem Er stets Seine Freude an dem Willen des Vaters fand, stets danksagte, wenn auch alles gegen Ihn zu sein schien, stets tat, was den Vater erfreute, und immer die Verherrlichung des Vaters als Sein Ziel betrachtete. Und als end­lich alles erfüllt war, als Er das Werk vollbracht hatte, das Ihm der Vater anvertraut hatte, übergab Er Seinen Geist in die Hände Seines Vaters, und Sein Leib ruhte in der Hoffnung der verheißenen Herrlich­keit. Daher ruft der Apostel uns zu: "Denn diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christo Jesu war, welcher, da er in Gestalt Gottes war, es nicht für einen Raub achtete, Gott gleich zu sein, sondern sich selbst zu nichts machte und Knechtsgestalt annahm, indem er in Gleich­heit der Menschen geworden ist, und, in seiner Gestalt wie ein Mensch erfunden, sich selbst erniedrigte, indem er gehorsam ward bis zum Tode, ja, zum Tode am Kreuze. Darum hat Gott ihn auch hoch erhoben und ihm einen Namen gegeben, der über jeden Namen ist, auf daß in dem Namen Jesu jedes Knie sich beuge, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne, daß Jesus Christus Herr ist, zur Verherrlichung Gottes, des Vaters" (Phil. 2, 5‑11).

 

Wie wenig verstand Jakob zunächst von dieser Gesinnung! Wie wenig war er bereit, auf Gottes Zeit zu warten und Gottes Führung zuzusehen! Er wollte den Segen und die Erbschaft lieber durch List und Betrug erreichen als durch Abhängigkeit von dem Gott, dessen aus­erwählende Gnade ihn zum Erben der Verheißungen gemacht hatte, und dessen Weisheit und Allmacht alle Verheißungen ganz sicher erfüllt hätte. Wir wissen gut, wie sehr sich das menschliche Herz dieser Abhängigkeit und dieser Unterwürfigkeit widersetzt. Es heißt, die Natur zur Verzweiflung treiben, wenn man ihr alle Hilfsquellen nimmt. Diese Tatsache genügt, um uns den wahren Charakter der menschlichen Natur zu zeigen. Um diese Natur kennenzulernen, ist es nicht nötig, die Stätten des Lasters und Verbrechens aufzusuchen. Nein, man braucht sie nur für einen Augenblick auf den Platz der Abhängig­keit zu stellen und zu sehen, wie sie sich dort benimmt. Sie kennt Gott überhaupt nicht, und deshalb kann sie Ihm auch nicht vertrauen. Hierin liegt das Geheimnis ihres Elends und ihrer sittlichen Versunkenheit. Die Erkenntnis Gottes ist die Quelle des Lebens, ja, das Leben selbst. Und was ist der Mensch, oder was kann er sein, ehe er Leben hat?

 

Wir sehen, wie Rebekka und Jakob aus der Natur Isaaks und Esaus Vorteil zogen. Das Verhalten Rebekkas und Jakobs bewies deutlich, daß bei ihnen weder Abhängigkeit von Gott noch Vertrauen auf Gott vorhanden war. Isaaks Augen waren schwach geworden. Ihn zu täuschen, war eine leichte Sache. Und zu dieser Tat verbanden sich Mutter und Sohn, anstatt auf Gott zu schauen, der die Absicht Isaaks, den zu segnen, den Gott nicht segnen wollte, ganz sicher vereitelt hätte, eine Absicht, die ihren Grund in der Natur hatte. Denn "Isaak hatte Esau lieb", nicht etwa weil er der Erstgeborene war, sondern: "denn Wildbret war nach seinem Munde" (Kap. 25, 28). Wie demüti­gend ist das alles!

 

Aber wenn wir uns den Händen Gottes entziehen wollen, werden wir nur Leid über uns bringen. So war es mit Jakob, wie wir sehen werden. Wenn wir uns in einer Prüfung befinden, sollten wir uns stets daran erinnern, daß wir nicht eine Änderung der Umstände, sondern den Sieg über uns selbst benötigen. Es hat jemand die Bemerkung gemacht: "Wenn man das Leben Jakobs nach seiner Erschleichung des Segens betrachtet, findet man, daß er nur sehr wenig Glück in dieser Welt ge­habt hat. Sein Bruder faßte den Plan, ihn zu töten und zwang ihn zur Flucht aus dem Hause seines Vaters. Sein Onkel Laban betrog ihn wie er selbst seinen Vater betrogen hatte, und behandelte ihn mit großer Härte. Nach einundzwanzigjähriger Knechtschaft mußte er ihn heimlich verlassen, und zwar nicht ohne die Gefahr, eingeholt und zurückge­bracht zu werden oder seinem erzürnten Bruder in die Hände zu fallen. Kaum war er von dieser Furcht frei, machte ihm das schamlose Betragen seines Sohnes Ruben Kummer und Herzeleid. Dann mußte er die Treulosigkeit und Grausamkeit seiner Söhne Simeon und Levi gegen die Bewohner von Sichem beklagen und zugleich den Verlust seiner gelieb­ten Rahel beweinen. Weiter sehen wir, wie er von seinen Söhnen hinter­gangen und über den vermeintlichen Tod Josephs in tiefe Trauer ver­setzt wird. Und endlich, um das Maß des Elends voll zu machen, zwang ihn der Hunger, nach Ägypten hinabzuziehen, und dort, in fremdem Land, fand er den Tod. Das sind die gerechten, lehrreichen und doch wunderbaren Wege Gottes".

 

Diese Beschreibung ist wahr, aber sie stellt uns nur die dunkle Seite seines Lebens vor. Gott sei Dank! Es gibt noch eine andere Seite, denn Gott stand in Verbindung mit Jakob, und in allen Ereignissen seines Lebens, in denen er die Früchte seiner krummen Wege zu ernten hatte, brachte der Gott Jakobs Gutes aus dem Bösen hervor und ließ Seine Gnade die Sünde und Torheit Seines schwachen Dieners überströmen.

 

Es ist sehr interessant, daß Isaak trotz der außerordentlichen Schwach­heit seines Fleisches durch Glauben die Würde aufrechthält, die Gott ihm verliehen hatte. Er spricht von dem Segen in dem vollen Bewußtsein, daß ihm die Macht zum Segnen gegeben ist. Er sagt: "Idi habe ihn gesegnet; er wird auch gesegnet sein ... Siehe, ich habe ihn zum Herrn über dich gesetzt und alle seine Brüder ihm zu Knechten gegeben, und mit Korn und Most habe ich ihn versehen, und nun, was könnte ich für dich tun, mein Sohn?" (V. 33. u. 37). Er spricht wie jemand, dem durch den Glauben alle Schätze der Erde zur Verfügung stehen. Es zeigt sich bei ihm keine falsche Demut. Er nimmt durch den Fehler seiner Natur nicht einen niedrigeren Platz ein. Allerdings stand er kurz davor, unmittelbar gegen den Ratschluß Gottes zu handeln. Dennoch kennt er Gott und nimmt somit den ihm gebührenden Platz ein, indem er in der ganzen Würde und Energie des Glaubens Segnungen austeilt. "Ich habe ihn gesegnet; er wird auch gesegnet sein." "Mit Korn und Most habe ich ihn versehen". Es ist das Besondere des Glaubens, daß er sich über alle unsere Fehler und deren Folgen erhebt und den Platz einnimmt, den die Gnade Gottes uns bereitet hat.

 

Auch Rebekka mußte alle traurigen Folgen ihrer Ränke fühlen. Sie bildete sich zweifellos ein, alles sehr geschickt zu regeln, aber ach! Sie sah Jakob nie wieder. Wie anders wäre das Ergebnis gewesen, wenn sie alles den Händen Gottes überlassen hätte! So handelt der Glaube, und er bleibt deshalb stets Überwinder. "Wer aber unter euch vermag mit Sorgen seiner Größe eine Elle zuzusetzen?" (Luk. 12, 25). Wir gewinnen nichts durch unsere Sorgen und Pläne. Wir schließen nur Gott dadurch aus, und das ist ganz sicher kein Gewinn. Es ist das gerechte Gericht Gottes, wenn wir die Früchte unserer eigenen Überlegungen ernten. Unsagbar traurig ist es, wenn ein Kind Gottes seine Stellung und seine Vorrechte vergißt und selbst seine Angelegenheiten in die Hand nimmt. "Die Vögel des Himmels und die Lilien des Feldes" können uns be­lehren, wenn wir unsere Stellung völliger Abhängigkeit von Gott ver­gessen.

 

Was schließlich Esau betrifft, so nennt der Apostel ihn einen "Ungött­lichen, der für eine Speise sein Erstgeburtsrecht verkaufte", und der "nachher, als er den Segen ererben wollte, verworfen wurde, (denn er fand keinen Raum für die Buße), obgleich er ihn sehr mit Tränen suchte". Wir lernen hieraus, daß ein Ungöttlicher ein Mensch ist, der den Himmel und die Erde zugleich besitzen möchte. Er will die Gegen­wart genießen, ohne sein Anrecht auf die Zukunft zu verlieren. Das ist kein ungewöhnlicher Fall. Wir sehen darin den weltlichen Bekenner, dessen Gewissen die Wirkung der göttlichen Wahrheit nicht verspürt hat, und dessen Herz den Einfluß der Gnade nicht kennt.

 

Kapitel 28

 

JAKOBS FLUCHT NACH HARAN. BETHEL

 

Wir kommen jetzt zu der Reise Jakobs, wie er fern vom elterlichen Hause einsam und heimatlos auf der Erde umherwandert. Hier beginnen die besonderen Wege Gottes mit ihm. Während einerseits Jakob an­fängt, die bitteren Früchte seines Verhaltens gegenüber Esau zu ernten, sehen wir andererseits, wie Gott sich über alle Schwachheit und Torheit Seines Dieners erhebt und in Seinen Handlungen mit ihm Seine un­umschränkte Gnade und Seine unendliche Weisheit entfaltet. Gott wird immer Seine Vorsätze ausführen, wenn auch durch unterschiedliche Mittel. Wenn aber ein Kind Gottes in Ungeduld und Unglauben sich der Regierung Gottes entziehen will, kann es sich darauf gefaßt machen, durch traurige Erfahrungen und eine schmerzende Zucht hindurchgehen zu müssen. So war es bei Jakob. Er hätte nicht nach Haran zu fliehen brauchen, wenn er es Gott überlassen hätte, für ihn zu handeln. Gott hätte sich sicher mit Esau beschäftigt und ihn das Teil finden lassen, das für ihn bestimmt war, und Jakob hätte den Frieden verspüren können, den eine völlige Unterwerfung unter die Hand Gottes schenkt.

 

Aber gerade hier offenbart sich immer wieder die außerordentliche Schwachheit unserer Herzen. Wir wollen etwas tun, anstatt der Hand Gottes stillzuhalten, und durch unser Handeln hindern wir Gott, Seine Gnade und Seine Macht für uns verwenden zu können. "Lasset ab und erkennet, daß ich Gott bin!" (Ps. 46, 10) ist ein Befehl, dem wir nur gehorchen können, wenn die Macht der Gnade in uns tätig ist. "Laßt eure Gelindigkeit kundwerden allen Menschen; der Herr ist nahe. Seid um nichts besorgt, sondern in allem lasset durch Gebet und Flehen mit Danksagung eure Anliegen vor Gott kundwerden". Und was wird das Ergebnis sein? "Der Friede Gottes, der allen Verstand übersteigt, wird eure Herzen und euren Sinn bewahren in Christo Jesu" (Phil. 4, 5‑7).

 

Während wir die Früchte unserer Wege, unserer Ungeduld und un­seres Unglaubens ernten müssen, benutzt Gott in Seiner Gnade unsere Schwachheit und Torheit, um uns Seine zärtliche Gnade und Seine voll­kommene Weisheit gründlicher verstehen zu lassen. Ohne irgendwie Ungeduld und Unglauben zu rechtfertigen, stellt dies in wunderbarer Weise die Güte unseres Gottes heraus und dient unserem Herzen selbst dann zum Trost, wenn wir vielleicht wegen unserer Verirrungen durch schwierige Umstände gehen müssen. Gott steht über allem, und über­dies ist es Sein besonderes Vorrecht, aus dem Bösen Gutes, "aus dem Fresser Fraß, und aus dem Starken Süßigkeit" (Richt. 14, 14) hervor­kommen zu lassen. Wie wahr es daher auch sein mag, daß Jakob wegen seiner Ungeduld und seines Betruges gezwungen war, in der Verbannung zu leben, so ist es andererseits doch ebenso wahr, daß er niemals die Bedeutung von "Bethel“ kennengelernt hätte, wenn er unter dem väterlichen Dach geblieben wäre. In jedem Abschnitt der Ge­schichte Jakobs finden sich diese beiden Seiten. Hatte seine Torheit ihn aus dem Hause seines Vaters getrieben, so brachte sie ihn anderer­seits dahin, in einem gewissen Maß die Glückseligkeit und Feierlichkeit des "Hauses Gottes" zu schmecken.

 

"Und Jakob zog aus von Beerseba und ging nach Haran. Und er gelangte an einen Ort und übernachtete daselbst; denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen von den Steinen des Ortes und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich nieder an selbigem Orte" (V. 10. 11). Hier befindet sich Jakob, der heimatlose Flüchtling, genau in der Stellung, in der Gott ihm begegnen und Seine Ratschlüsse der Gnade und Herrlichkeit ihm zeigen konnte. Nichts könnte klarer die Nichtigkeit und Ohnmacht des Menschen ausdrücken, als die Lage, in der wir Jakob hier sehen. Er liegt unter freiem Himmel in der Hilflosig­keit des Schlafes und hat nur einen Stein als Kopfkissen. "Und er träumte: und siehe, eine Leiter war auf die Erde gestellt, und ihre Spitze rührte an den Himmel; und siehe, Engel Gottes stiegen auf und nieder an ihr. Und siehe, der HERR stand über ihr und sprach: Ich bin der HERR, der Gott Abrahams, deines Vaters, und der Gott Isaaks; das Land, auf welchem du liegst, dir will ich es geben und deinem Samen. Und dein Same soll werden wie der Staub der Erde, und du wirst dich ausbreiten nach Westen und nach Osten und nach Norden und nach Süden hin; und in dir und in deinem Samen sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde. Und siehe, ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wohin du gehst, und dich zurückbringen in dieses Land; denn ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan was ich zu dir geredet habe" (V. 12‑15). Hier haben wir in der Tat "Gnade und Herrlichkeit". Die "auf die Erde gestellte Leiter" leitet natur­gemäß das Herz zu Gedanken über die Offenbarung der Gnade Gottes in der Person und dem Werk des Sohnes. Auf der Erde wurde das wunderbare Werk erfüllt, das die feste, ewige Grundlage aller Ratschlüsse bezüglich Israel, der Kirche und der Welt bildet. Auf der Erde war es, wo Jesus lebte, wirkte und starb, damit Er durch Seinen Tod alles wegräumte, was der Erfüllung der Ratschlüsse Gottes be­züglich der Segnung des Menschen im Weg stand.

 

Aber "die Spitze der Leiter rührte an den Himmel". Sie bildete das Bindeglied zwischen Himmel und Erde, und die Worte "die Engel Gottes stiegen auf und nieder an ihr“ geben uns ein schönes und treffendes Bild von Ihm, durch den Gott herabstieg in die Tiefe des menschlichen Elends, und durch den Er auch den Menschen für immer in Seine Gegenwart versetzt hat. Gott hat für die Erfüllung Seiner Pläne jede nötige Maßnahme getroffen.

 

Der Prophet Hosea berichtet uns von der Zeit, in der die durch die Leiter Jakobs angedeuteten Dinge ihre volle Erfüllung finden werden. "Und ich werde an jenem Tage einen Bund für sie schließen mit den Tieren des Feldes und mit den Vögeln des Himmels und mit den kriechenden Tieren der Erde; und ich werde Bogen und Schwert und den Krieg aus dem Lande zerbrechen, und werde sie in Sicherheit wohnen lassen. Und ich will dich mir verloben in Ewigkeit und ich will dich mir verloben in Gerechtigkeit und in Gericht, und in Güte und in Barmherzigkeit, und ich will dich mir verloben in Treue; und du wirst den HERRN erkennen. Und es wird geschehen an jenem Tag, da werde ich erhören, spricht der HERR: ich werde den Himmel erhören, und dieser wird die Erde erhören; und die Erde wird erhören das Korn und den Most und das Öl; und sie, sie werden Jisreel erhören. Und ich will sie mir säen in dem Lande und will mich der Lo‑Ruchama erbarmen. Und ich will zu Lo‑Ammi sagen: Du bist mein Volk; und es wird sagen: Mein Gott" (Hos. 2, 18‑23). Auch die Worte des Herrn in Joh. 1, 51: "Wahrlich, Wahrlich, ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Himmel geöffnet sehen und die Engel Gottes auf ‑ und nieder­steigen auf den Sohn des Menschen", enthalten eine Anspielung auf das Traumgesicht Jakobs.

 

Dieser Traum ist eine wunderbare Offenbarung der Gnade Gottes im Blick auf Israel. Wir haben etwas von dem wahren Charakter Jakobs kennengelernt und das zeigt uns, daß er nur auf dem Weg der Gnade gesegnet werden konnte. Weder seine Geburt noch sein Charakter verliehen ihm irgendwelche Ansprüche. Wenn man die Souveränität Gottes außer acht läßt, hätte Esau auf Geburt und Charakter An­sprüche stützen können, aber Jakob besaß nichts dergleichen. Wenn daher Esau seine Rechte nur auf Kosten der Souveränität Gottes be­haupten konnte, konnte Jakob nur aufgrund dieser Souveränität Rechte besitzen. Er konnte so wenig irgendeinen Anspruch stellen, daß er sich auf nichts anderes stützen konnte als auf die freie und unum­schränkte Gnade Gottes. Die Offenbarung, die der Herr hier Seinem Knecht gibt, spricht deshalb einfach davon, was Er, der HERR, noch tun würde. Wir lesen: "Ich bin der HERR ‑ ich will geben ‑ ich will behüten ‑ ich will zurückbringen ‑ ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan was ich zu dir geredet habe" (V. 13‑15). Alles ist von Gott Selbst, und zwar ohne irgendeine Bedingung, denn wo die Gnade handelt, gibt es kein "Wenn" und kein "Aber". Wo es noch ein "Wenn" gibt, herrscht nicht die Gnade. Wohl kann Gott den Menschen in eine verantwortliche Stellung setzen, in der Er sich notwendigerweise mit einem "Wenn" an ihn richten muß. Aber der auf einem steinernen Kopfkissen eingeschlafene Jakob befand sich nicht in einer Stellung der Verantwortlichkeit, sondern in tiefer Hilflosigkeit und Schwach­heit, deshalb war er in der Lage, eine Offenbarung der reichen und bedingungslosen Gnade zu empfangen.

 

Wir können es nur als großen Segen betrachten, daß wir uns in einer Stellung befinden, wo wir keine andere Stütze haben als Gott selbst, und daß ferner jede wahre Segnung und jede wirkliche Freude, die wir empfangen, den Charakter und die unumschränkten Rechte Gottes als Ursprung haben. Nach diesem Grundsatz wäre es ein unersetzlicher Verlust für uns, auf einem von uns selbst gewählten Boden zu stehen, denn dann müßte Gott sich auf dem Boden der Verantwortlichkeit an uns wenden, und alles wäre für uns verloren. Jakob war in einem so traurigen Zustand, daß nur Gott für ihn handeln konnte. Und beachten wir, daß er sich aus Mangel an Erkenntnis dieser Wahrheit immer wieder in Trübsale und Schwierigkeiten brachte.

 

Gottes Offenbarung Seiner selbst und unser Ruhen in dieser Offen­barung sind zwei verschiedene Dinge. Gott offenbarte sich Jakob in unendlicher Gnade, aber kaum war dieser aus seinem Schlaf erwacht, als er seinen wahren Charakter zeigte und bewies, wie wenig er in Wirklichkeit den kannte, der sich ihm soeben in wunderbarer Weise geoffenbart hatte. "Und er fürchtete sich und sprach: Wie furchtbar ist dieser Ort! dies ist nichts anderes als Gottes Haus, und dies ist die Pforte des Himmels" (V. 17). Er fühlte sich nicht zu Hause in der Gegenwart Gottes, und so ist es immer, wenn das Herz nicht ganz zer­brochen ist und der Mensch sich selbst nicht aufgegeben hat. Gott ist gern bei einem zerbrochenen Herzen, und ein zerbrochenes Herz ist glücklich in der Nähe Gottes. Aber das Herz Jakobs war noch nicht so weit. Auch hatte er noch nicht gelernt, wie ein kleines Kind in der vollkommenen Liebe dessen zu ruhen, der sagen konnte: "Jakob habe ich geliebt" (Siehe Mal. 1, 2; Röm. 9, 13). "Die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus." Wo diese Liebe nicht erkannt und verwirklicht wird, zeigt sich stets Unbehagen und Angst. Das Haus und die Gegen­wart Gottes sind nicht furchterregend für eine Seele, die die Liebe Gottes kennt, wie sie sich in dem vollkommenen Opfer Christi gezeigt hat. Diese Seele sagt: "HERR, ich habe geliebt die Wohnung deines Hauses und den Wohnort deiner Herrlichkeit" (Ps. 26, 8). Und: "Eines habe ich von dem HERRN erbeten, nach diesem will ich trachten: zu wohnen im Hause des HERRN alle Tage meines Lebens, um anzu­schauen die Lieblichkeit des HERRN und nach ihm zu forschen in seinem Tempel" (Ps. 27, 4). Und weiter: "Wie lieblich sind deine Wohnungen, HERR der Heerscharen! Es sehnt sich, ja, es schmachtet meine Seele nach den Vorhöfen des HERRN" (Ps. 84, 1. 2). Wenn das Herz in der Erkenntnis Gottes gegründet ist, wird es auch das Haus Gottes lieben, welchen Charakter es auch tragen mag, sei es Bethel oder der Tempel zu Jerusalem, oder die Versammlung Gottes, die aus allen wahren Gläubigen, "aufgebaut zu einer Behausung Gottes im Geiste", besteht. Jakobs Erkenntnis von Gott und Seinem Haus war zu dieser Zeit noch sehr gering, und der Bund, den er in den letzten Versen unseres Kapitels mit Gott schließen will, ist typisch und zeigt uns, wie wenig er den Charakter Gottes kannte.

 

"Und Jakob tat ein Gelübde und sprach: Wenn Gott mit mir ist und mich behütet auf diesem Wege, den ich gehe, und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen, und ich in Frieden zurückkehre zum Hause meines Vaters, so soll der HERR mein Gott sein. Und dieser Stein, den ich als Denkmal aufgestellt habe, soll ein Haus Gottes sein; und von allem, was du mir geben wirst, werde ich dir gewißlich den Zehnten geben" (V. 20‑22). Beachten wir die Worte Jakobs. Er sagt: "Wenn Gott mit mir ist". Und doch hatte Gott gerade mit Nachdruck versichert: "Ich bin mit dir, und ich will dich behüten überall, wo du hingehst, und dich zurückbringen in dieses Land usw." Trotz dieser Zusicherung ist Jakob unfähig, sich über ein "Wenn" zu erheben, oder im Blick auf die Güte Gottes höhere Gedanken zu fassen als solche, die sich auf Brot und Kleider" beziehen. Das waren die Gedanken eines Mannes, der eben erst das herrliche Bild von der Himmelsleiter geschaut hatte, über der der Herr stand und ihm einen unzählbaren Samen und ein ewiges Besitztum verhieß. Jakob war unfähig, die Wirk­lichkeit und Fülle der Gedanken Gottes zu begreifen. Er maß Gott an sich selbst und täuschte sich daher. Jakob war noch nicht mit seiner eigenen Kraft am Ende und hatte folglich noch nicht mit Gott ange­fangen.

 

Kapitel 29‑31

 

JAKOB IN HARAN

 

"Und Jakob erhob seine Füße und ging nach dem Lande der Kinder des Ostens" (Kap. 29, 1). Wie wir in Kapitel 28 gesehen haben, kann Jakob den wahren Charakter Gottes nicht verstehen und begegnet der Fülle der Gnade von Bethel mit einem "Wenn" und mit einem Vertrag über Brot und Kleider, und jetzt folgen wir ihm auf eine Szene, die mit lauter solchen Verträgen angefüllt ist. "Was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (Gal. 6, 7). Es ist unmöglich, den Folgen unserer Untreue zu entrinnen. Jakob hatte seinen wahren Platz vor Gott noch nicht gefunden, und daher benutzt Gott die Umstände, um ihn zu züchtigen und zu demütigen.

 

Das ist das wahre Geheimnis vieler Trübsale und Prüfungen in der Welt, die uns begegnen. Wir sind vor Gott nicht wirklich zusammen­gebrochen, wir haben uns nicht völlig verurteilt und uns selbst nicht aufgegeben, und daher kommt es, daß wir immer wieder unsere Probleme selbst meistern wollen und so mit dem Kopf gegen die Wand rennen. Niemand kann sich wirklich an Gott erfreuen, bevor er mit seinem Ich zu Ende gekommen ist, und zwar einfach deshalb, weil Gott erst da beginnt sich zu offenbaren, wo das Fleisch gestorben ist. Ich muß auf die eine oder andere Weise lernen, was die Natur wert ist, und um mich zu dieser Erkenntnis zu führen, wendet Gott verschiedene Mittel an. Wie oft geschieht es (wie in dem Fall Jakobs), daß der Herr sich uns nähert und zu uns redet, ohne daß wir Seine Stimme verstehen oder unseren wahren Platz vor Ihm einnehmen. "Fürwahr, der HERR ist an diesem Orte, und ich wußte es nicht ... Wie furchtbar ist dieser Ort!" Jakob lernte hierdurch nichts, so daß er durch die Zucht einer einund­zwanzigjährigen ernsten Schule gehen mußte, und selbst diese ge­nügte noch nicht, um ihn völlig in sich zusammenbrechen zu lassen.

 

Es ist interessant zu sehen, wie er in eine Umgebung kommt, die so ganz seinem inneren Zustand entspricht. Jakob mit seiner Neigung zum Feilschen trifft mit Laban zusammen, der denselben Hang hat, und beide spannen sozusagen jeden Nerv an, um einander zu überlisten. Bei Laban darf uns dies nicht wundern, denn er war nie in Bethel gewesen. Er hatte weder den geöffneten Himmel noch die von dort bis auf die Erde reichende Leiter gesehen. Er hatte nie herrliche Verheißungen aus dem Mund des HERRN erhalten, die ihm den Besitz des Landes Kanaan und einen unzähligen Samen zusicherten. Kein Wunder, daß er eine habsüchtige Gesinnung zeigte. Er besaß keine andere Hilfsquelle. Es ist nutzlos, von einem Weltmenschen etwas anderes als weltliche Gesin­nung, Grundsätze und Wege zu erwarten. Er hat nichts anderes. Wie könnte man von einem Unreinen Reines erwarten? Aber wie traurig ist es, Jakob nach allem, was er in Bethel gesehen und gehört hatte, sich anstrengen zu sehen, im Kampf mit einem Weltmenschen Güter aufzuhäufen!

 

Und doch ist es leider keine ungewöhnliche Sache, daß Kinder Gottes ihre hohe Bestimmung und ihr himmlisches Erbteil aus dem Auge ver­lieren und mit den Kindern dieser Welt um Reichtum und Ehre einer mit dem Fluch der Sünde beladenen Erde streiten. Das trifft in vielen Fällen sogar in einem solchen Umfang zu, daß es schwerfällt, noch irgendwelche Spuren des Grundsatzes zu entdecken, der, wie der Apostel Johannes sagt, die "Welt überwindet" (i. Joh. 5, 5). Wenn man Laban und Jakob nur nach natürlichen Grundsätzen beurteilen wollte, wäre es schwierig, einen Unterschied zwischen ihnen zu ent­decken. Man muß hinter die Kulissen schauen und die Gedanken Gottes über die beiden kennen, um zu sehen, wie weit die beiden Männer sich voneinander unterscheiden. Aber Gott hatte diesen Unterschied hervor­gerufen, nicht Jakob. So ist es auch jetzt. Wie schwer es auch manchmal sein mag, diesen Unterschied zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Finsternis zu entdecken, so besteht er dennoch, ‑ ein Un­terschied, der auf die ernste Tatsache gegründet ist, daß die einen "die Gefäße der Begnadigung sind, die Gott zur Herrlichkeit zuvor­bereitet hat", und die anderen "die Gefäße des Zornes, zubereitet zum Verderben" (nicht durch Gott, sondern durch die Sünde) (Röm. 9, 22. 23). (Das geistlich gesinnte Herz wird mit Interesse bemerken, mit welcher Sorgfalt der Geist Gottes in Römer 9 und an anderen Stellen der Heiligen Schrift sich gegen jene schreckliche Schlußfolgerung ver­wahrt, die der menschliche Verstand nur zu oft aus der Lehre von der Auswahl Gottes gezogen hat. Wenn Er von den "Gefäßen des Zornes" redet, so sagt Er einfach: "zubereitet zum Verderben". Er sagt nicht, daß Gott sie dazu "zubereitet" hat. Wenn Er dagegen von den "Gefäßen der Begnadigung" spricht, so sagt Er: "die Gott zur Herr­lichkeit zuvorbereitet hat". Dieser Unterschied ist sehr beachtenswert.)

 

Die "Jakobs" und die "Labans" unterscheiden sich grundsätzlich und werden stets verschieden sein, obwohl die ersteren leicht vernachlässigen, ihren wahren Charakter und ihre hohe Stellung in die Tat umzusetzen.

 

Was Jakob betrifft, so ist alles, sowohl seine Arbeit und Mühe, als auch sein Bund im vorgehenden Kapitel, nur die Folge seiner Unwissen­heit über die göttliche Gnade und seiner Unfähigkeit, den Verheißun­gen Gottes bedingungslos zu vertrauen. Wer nach Empfang der voraus­setzungslosen Verheißung Gottes, ihm das Land Kanaan zu geben, sagen kann: "Wenn Gott mit mir ist ... und mir Brot zu essen gibt und Kleider anzuziehen", der hat wirklich nur eine sehr schwache Vorstel­lung von Gott und von dem, was Seine Verheißung ist. Deshalb sehen wir auch, wie Jakob sich anstrengt, selbst seine Angelegenheit mög­lichst intensiv zu fördern, und so wird es immer sein, wenn die Gnade nicht verstanden wird. Ein Bekenntnis der Grundsätze der Gnade mag vorhanden sein, aber das sagt nichts aus über das wirkliche Maß unserer Erfahrung von der Macht der Gnade. Man sollte meinen, das Gesicht, das Jakob in Bethel schaute, hätte laut von Gnade zu ihm geredet. Aber das Verhalten Jakobs in Haran zeigt uns, inwieweit er die Gnade ver­standen hatte. Das Verhalten eines Menschen zeigt stets das wirkliche Maß der Erfahrung und der Überzeugung seiner Seele, wie schön auch sein Bekenntnis sein mag. Jakob war noch nicht dahin gebracht worden, sich in der Gegenwart Gottes zu prüfen, und deshalb war er unwissend hinsichtlich der Gnade und bewies seine Unwissenheit dadurch, daß er sich mit Laban anlegte und dessen Grundsätze annahm.

 

Man ist einigermaßen überrascht, daß Jakob, der nicht gelernt hatte, vor Gott seinen natürlichen Charakter zu erkennen und zu verurteilen, durch Gottes Vorsehung gerade in einen Kreis geführt wurde, in dem dieser Charakter deutlich hervortrat. Er wurde nach Haran geführt, in das Heimatland Labans und Rebekkas, in die Schule, aus der die von ihm so geschickt ausgeübten Grundsätze stammten, und wo sie gelehrt und angewendet wurden. Um Gott zu erkennen, muß man nach Bethel gehen, um den Menschen zu erkennen, nach Haran. Da Jakob die Offenbarung nicht erfaßt hatte, die Gott von sich selbst in Bethel gab, wanderte er nach Haran, und dort wurde deutlich, was er war. Welche Anstrengungen machte er hier, um seine Ziele zu erreichen! Was für Winkelzüge und Kunstgriffe! Es zeigt sich nichts von Vertrauen auf Gott, nichts von der Einfalt und Geduld des Glaubens. Zwar war Gott mit Jakob, denn nichts kann das Wirken der Gnade verhindern. Auch erkannte Jakob in gewissem Maß die Gegenwart und die Treue Gottes an, aber dennoch meinte er, daß ohne einen Plan von ihm nichts ge­schehen könne. Er war nicht imstande, Gott die Regelung der Frage seiner Weiber und seines Lohns zu überlassen. Er suchte alles durch seine Listen zu ordnen. Er war von Anfang bis Ende der "Überlister" (Kap. 27, 36). Wo wäre z. B. ein vollkommeneres Meisterstück mensch­licher Raffinesse zu finden als in Kap. 30, 37‑42? Anstatt Gott die Sorge zu überlassen, das "gesprenkelte und gefleckte und dunkel­farbige Vieh" zu vermehren, was Gott, wenn Jakob Ihm vertraut hätte, gewiß getan hätte, greift Jakob zur Erreichung seines Ziels zu einem Mittel, das er nur selber aussinnen konnte. In ähnlicher Weise handelt er während seines ganzen zwanzigjährigen Aufenthalts bei Laban, und schließlich "flieht" er, indem er so in allem sich selbst treu bleibt.

 

Wenn man die Charakterzüge Jakobs durch die verschiedenen Stadien seiner (einzigartigen) Geschichte verfolgt, bekommt man einen Ein­blick in die Wunder der Gnade Gottes. Niemand außer Gott hätte einen Mann wie Jakob ertragen, sowie auch niemand außer Gott sich für so einen Mann interessiert hätte. Die Gnade beginnt sozusagen am tiefsten Punkt. Sie nimmt sich des Menschen an wie sie ihn findet und handelt mit ihm in voller Kenntnis seiner Natur. Es ist sehr wichtig, von Anfang an diesen Charakterzug der Gnade zu verstehen, um später die Entdeckung unserer eigenen Schlechtigkeit ertragen zu kön­nen, die so oft unser Vertrauen erschüttert und unseren Frieden stört.

 

Viele Seelen erkennen nicht gleich zu Anfang ihres Glaubenslebens die völlige Verdorbenheit ihrer Natur, wie sie im Licht der Gegenwart Gottes erscheint, obwohl ihre Herzen durch die Gnade wirklich berührt und ihre Gewissen durch die Inanspruchnahme des Werkes Christi beruhigt worden sind. Durch die niederschmetternde Entdeckung des in ihnen wohnenden Bösen beginnen sie an ihrer Kindschaft zu zweifeln, da sie nur eine mangelhafte Vorstellung von der Gnade Gottes und dem Wert des Blutes Christi besitzen. So werden sie von Christus ge­trennt und auf sich selbst geworfen und flüchten dann entweder in eine Religion von Satzungen, um wenigstens die Sprache der Frömmigkeit beizubehalten, oder sie fallen in den Zustand völliger Weltlichkeit zurück. Das sind traurige Folgen, und sie ergeben sich, wenn das Herz nicht "durch Gnade befestigt ist" (Hebr. 13, 9).

 

Das macht die Geschichte Jakobs so interessant und nützlich für uns. Niemand kann die vorliegenden drei Kapitel lesen, ohne von der wunderbaren Gnade beeindruckt zu werden, die sich mit einem Men­schen wie Jakob beschäftigen konnte und nachdem sie alles, was in ihm war, geoffenbart hatte, sagen konnte: "Ich erblicke keine Ungerechtig­keit in Jakob und sehe kein Unrecht in Israel" (Vgl. 4. Mose 23, 21). Gott sagt nicht, daß nichts Böses in Jakob und kein Unrecht in Israel vorhanden gewesen ist. Das würde dem Herzen niemals die Sicherheit geben, die Gott ihm so gern vor allem anderen schenken möchte. Einem Sünder zu sagen, daß keine Sünde in ihm ist, wird seinem Herzen keine Ruhe geben, denn er weiß nur zu gut, daß Sünde in ihm ist. Aber wenn Gott ihm sagt, daß Er aufgrund des vollkommenen Opfers Christi keine Sünde mehr in ihm sieht, so wird ganz sicher ein wunderbarer Friede in sein Herz einkehren. Wenn Gott Esau erwählt hätte, dann würden wir wohl nicht eine so herrliche Entfaltung der Gnade sehen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Esau uns nicht in einem so ungünstigen Licht erscheint wie Jakob. Je tiefer der Mensch sinkt, um so höher steigt die Gnade Gottes. Je nachdem meine Schuld nach meiner Schätzung von fünfzig auf fünfhundert Denare anwächst, wird auch mein Gefühl von der Gnade sich steigern und meine Erfahrung von der Liebe, die, "da wir nicht zu bezahlen hatten", uns die ganze Schuld erließ (Luk. 7, 42). Wohl deshalb sagte der Apostel: "Es ist gut, daß das Herz durch Gnade befestigt werde, nicht durch Speisen, von welchen keinen Nutzen hatten, die darin wandelten" (Hebr. 13, 9).

 

Kapitel 32

 

JAKOBS MASSNAHMEN ZUR VERSÖHNUNG ESAUS. PNIEL

 

"Und Jakob zog seines Weges, und es begegneten ihm Engel Gottes" (V. 1). Trotz allem ist die Gnade Gottes mit ihm. Gott liebt mit einer unwandelbaren Liebe. Wen Er liebt, den liebt Er bis ans Ende. Seine Liebe entspricht Seinem Wesen, sie ist "gestern und heute und in Ewigkeit" dieselbe (Hebr. 13, 8). Aber wie klein war die Wirkung, die das "Heerlager Gottes" auf Jakob ausübte! "Und Jakob sandte Boten vor sich her zu seinem Bruder Esau, in das Land Seir, das Gefilde Edom" (V. 3). Er fühlte sich offensichtlich unbehaglich bei dem Ge­danken an ein Zusammentreffen mit seinem Bruder, und das nicht ohne Grund. Er hatte sehr böse mit seinem Bruder gehandelt, und sein Ge­wissen war unruhig. Aber anstatt sich rückhaltlos in die Arme Gottes zu werfen, greift er von neuem zu seinen gewöhnlichen Mitteln, um den Zorn Esaus abzuwenden: Er macht Pläne. Er versucht Esau zu be­schwichtigen, anstatt sich auf Gott zu stützen und Seinen Beistand zu erbitten.

 

„Und er gebot ihnen und sprach: So sollt ihr zu meinem Herrn, zu Esau, sprechen: So spricht dein Knecht Jakob: Bei Laban habe ich mich aufgehalten und bin geblieben bis jetzt" (V. 4). Diese Worte offen­baren eine Seele, die weit davon entfernt ist, Gott als ihren Mittelpunkt zu haben. "Mein Herr" und "dein Knecht", das sind nicht die Worte eines Bruders zu seinem Bruder, noch die Worte eines Mannes, der die Würde besitzt, die die Gegenwart Gottes verleiht. Es ist die Sprache Jakobs, der von seinem Gewissen gequält wird.

 

"Und die Boten kehrten zu Jakob zurück und sprachen: Wir sind zu deinem Bruder, zu Esau, gekommen, und er zieht dir auch entgegen und vierhundert Mann mit ihm. Da fürchtete sich Jakob sehr, und ihm ward angst" (V. 6. 7). Was wird er jetzt tun? Wird er sich in die Arme Gottes werfen? Nein, er beginnt Maßnahmen zu treffen. "Und er teilte das Volk, das bei ihm war, und das Kleinvieh und die Rinder und die Ka­mele in zwei Züge. Und er sprach: Wenn Esau wider den einen Zug kommt und ihn schlägt, so wird der übriggebliebene Zug entrinnen können" (V. 7. a). Der erste Gedanke Jakobs war immer ein Plan, und darin finden wir ein genaues Bild von dem Herzen des Menschen. Zwar wendet er sich an den Herrn, nachdem er seinen Plan gemacht hat, und fleht zu Ihm, daß Er ihn von der Hand Esaus retten möge; doch kaum ist sein Gebet beendet, kehrt er auch schon wieder zu seinen Anord­nungen zurück. Man kann nicht beten und gleichzeitig Pläne machen. Wenn ich einen Plan mache, so stütze ich mich mehr oder weniger darauf. Wenn ich aber bete, so sollte ich mich ausschließlich auf Gott stützen. Diese beiden Dinge sind daher völlig unvereinbar. Wenn ich auf meine eigene Tätigkeit blicke, bin ich nicht darauf vorbereitet, Gott für mich handeln zu sehen, und dann ist das Gebet nicht die Äußerung meines Anliegens, sondern nur eine Verrichtung, die ich tun zu müssen glaube, oder aber ich richte an Gott die Bitte, meine selbst­gemachten Pläne zu billigen. Aber Gott will nicht, daß ich Ihn bitte, meine Pläne und meine Mittel gutzuheißen und zu segnen, sondern Er will, daß ich mich Seinen Händen ganz anvertraue, damit Er für mich alles tut. Wenn der Glaube Gott handeln läßt, wird Gott ohne Zweifel Seine eigenen Mittel anwenden, aber das ist etwas ganz anderes als Sein Anerkennen und Segnen der Pläne und Anordnungen des Un­glaubens und der Ungeduld.

 

Obwohl Jakob zu Gott gebetet hatte, daß Er ihn von der Hand seines Bruders befreien möge, konnte ihn das doch offenbar nicht beruhigen, denn er versuchte, Esau durch "ein Geschenk zu versöhnen". Er setzte sein Vertrauen auf das "Geschenk" und nicht auf Gott allein. "Arglistig ist das Herz, mehr als alles, und verderbt ist es" (Jer. 17, 9). Oft ist es schwer, den eigentlichen Grund unseres Vertrauens ausfindig zu ma­chen. Wir bilden uns ein, oder möchten uns selbst gern einreden, daß Gott unsere Stütze ist, während wir in Wirklichkeit unser Vertrauen auf irgendeine von uns selbst erfundene Methode setzen. Hätte sich wohl jemand vorstellen können, daß Jakob kurz nach seinem Gebet ­"Rette mich doch von der Hand meines Bruders, von der Hand Esaus! denn ich fürchte ihn, daß er etwa komme und mich schlage, die Mutter samt den Kindern" (V. 11), sagen konnte: "Ich will ihn versöhnen durch das Geschenk?" (V. 20). Hatte Jakob sein Gebet ganz vergessen? Machte er aus seinem Geschenk einen Gott? Setzte er mehr Vertrauen auf einige Stück Vieh als auf Gott, dessen Händen er sich soeben noch anvertraut hatte?

 

Diese Fragen erheben sich, wenn wir betrachten, wie Jakob sich in dieser Situation verhielt, aber wir brauchen nur in unsere eigenen Herzen zu blicken, um die Antwort zu erhalten. In diesem Spiegel er­kennen wir wie aus der Geschichte Jakobs, daß wir uns viel leichter auf unsere eigene Weisheit verlassen als auf Gott. Aber wir müssen früher oder später zu der Erkenntnis kommen, daß alle unsere Eigenleistungen ganz und gar Torheit sind, und daß der wahre Weg der Weisheit darin besteht, unser volles Vertrauen auf Gott zu setzen. Leider sind wir oft sehr zufrieden mit uns selbst, wenn wir alle erlaubten Mittel ange­wendet und den Segen Gottes auf sie herabgefleht haben. Aber wenn das der Fall ist, so gelten unsere Gebete nicht viel mehr als unsere Pläne, weil wir uns mehr auf sie als auf Gott stützen. Wir müssen wirk­lich mit allem, was aus dem eigenen Ich hervorkommt, am Ende sein, ehe Gott sich offenbaren kann, und wir werden nie unser eigenes Pla­nen ablegen, so lange wir nicht mit uns selbst ein Ende gemacht haben. Wir müssen verstehen lernen, daß "alles Fleisch Gras ist, und alle seine Anmut wie die Blume des Feldes" (Jer. 40, 6).

 

Nachdem Jakob alle seine klugen Maßnahmen getroffen hatte, lesen wir: "Und Jakob blieb allein übrig; und es rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte aufging" (V. 24). Hier ist ein Wendepunkt in der Ge­schichte dieses merkwürdigen Mannes. Allein gelassen zu sein mit Gott, das ist der einzige Weg, uns selbst und unsere Wege zu erkennen. Um den wahren Wert der Natur und ihrer Handlungen zu sehen, müssen wir sie auf die Waage des Heiligtums legen. Es hängt wenig davon ab, was wir oder andere Menschen von uns halten. Die wichtige Frage ist, was Gott von uns denkt, und um das zu erfahren, müssen wir mit Gott "allein gelassen“ sein, fern von der Welt, fern vom Ich, fern von allen Gedanken, Urteilen, Einbildungen und Überlegungen der Natur, "allein" mit Gott.

 

"Und Jakob blieb allein übrig; und es rang ein Mann mit ihm". Be­achten wir, daß es nicht heißt: Jakob rang mit einem Mann, sondern: ein Mann rang mit Jakob. Man hat dieses Ereignis oft dargestellt als ein Beispiel der Kraft, mit der Jakob betete. Daß dies verkehrt ist, beweist der Wortlaut der Stelle. Es ist ein Unterschied, ob ich mit jemand ringe oder ob jemand mit mir ringt. Wenn ich mit einem anderen ringe, will ich etwas von ihm, im umgekehrten Fall der andere von mir. In diesem Fall rang Gott mit Jakob, um ihn fühlen zu lassen, was für ein armer und schwacher Mensch er war, und als Jakob sich der Er­reichung dieses Ziels hartnäckig widersetzte, rührte er sein Hüft­gelenk an; und das Hüftgelenk Jakobs ward verrenkt, indem er mit ihm rang" (V. 25). Vom Urteil des Todes muß das Fleisch gekenn­zeichnet sein, die Tragweite des Kreuzes Christi muß verstanden werden, ehe wir beständig und glücklich mit Gott leben können. Wir haben bisher die verschiedenen Züge des außergewöhnlichen Charakters Jakobs kennengelernt, wir haben ihn planen und handeln sehen, während seines zwanzigjährigen Aufenthalts bei Laban, aber erst als er "allein gelassen" ist, bekommt er eine richtige Vorstellung davon, wie schwach und ohnmächtig er in sich selbst ist. Dann aber, nachdem der Sitz seiner Kraft getroffen ist" kann er sagen: "Ich lasse dich nicht los".

 

Damit beginnt ein ganz neuer Abschnitt in der Geschichte Jakobs. Bisher hatte er an seinen eigenen Methoden festgehalten. Jetzt aber wird er dahin gebracht zu sagen: "Ich lasse dich nicht los!" Der Leser muß jedoch beachten, daß er erst dann diese Worte sagte, als "sein Hüftge­lenk verrenkt war". Diese Tatsache gibt uns den Schlüssel zur Erklä­rung der ganzen Begebenheit. Gott rang mit Jakob, um ihn an diesen Punkt zu bringen. Wenn es sich um Jakobs Kraft im Gebet handelt, so haben wir bereits gesehen, daß er schon gleich nach seiner Bitte das Geheimnis seines Vertrauens mit den Worten offenbarte: "Ich will Esau versöhnen mit einem Geschenk". Hätte er so reden können, wenn er die wirkliche Bedeutung des Gebets oder die wahre Abhängig­keit von Gott verstanden hätte? Gott und das Geschöpf müssen ge­trennt bleiben, und dies wird bei jeder Seele der Fall sein, die die heilige Wirklichkeit eines Lebens aus Glauben kennt.

 

In diesem Punkt fehlen wir jedoch so oft. Wir verbergen oft großen Unglauben hinter dem scheinbar einleuchtenden und frommen Vorwand, Mittel abzuwenden, von denen wir meinen, Gott könne sie segnen, während wir Ihn in Wirklichkeit ausschließen und nur auf die Mittel vertrauen. Möchten doch unsere Herzen das Schlechte dieser Hand­lungsweise erkennen! Möchten sie lernen, mit mehr Einfalt auf Gott allein zu schauen, damit unser Leben mehr durch eine heilige Würde charakterisiert wird, die uns über die Umstände erhebt, durch die wir zu gehen haben! Es ist durchaus nicht leicht, mit dem Geschöpf in jeder Art und Form so völlig ein Ende zu machen, daß man sagen kann: "Ich lasse dich nicht los, du habest mich denn gesegnet" (V. 26). Das von Herzen zu sagen und in der Kraft zu bleiben, die diese Worte ausdrücken, ist das Geheimnis wirklicher Stärke. Jakob redete erst dann so, als sein Hüftgelenk angerührt war, nicht vorher. Er rang lange, bevor er nachgab, weil sein Vertrauen auf das Fleisch stark war. Aber Gott kann den hartnäckigsten Charakter in den Staub beugen. Er weiß die Quelle der natürlichen Kraft zu erreichen und sie zum Tode zu bringen, und ehe dies geschehen ist, kann man keine Kraft vor Gott und Menschen haben. Wir müssen schwach sein, bevor wir stark sein können. Die Kraft Christi kann nur in Verbindung mit der Er­kenntnis unserer Schwachheit in uns sein. Christus kann die Kraft der Natur und ihre Weisheit niemals billigen. Diese Dinge müssen abneh­men, damit Er wachsen kann. Nie kann die Natur in irgendeiner Weise der Entfaltung der Gnade oder der Kraft Christi zur Grundlage dienen.

 

Da also die Entfaltung der Herrlichkeit Gottes mit der totalen Bei­seitesetzung der Natur verbunden ist, kann die Seele sich über diese Entfaltung nicht eher freuen, bis diese Beiseitesetzung wirklich erfolgt ist. Obwohl Jakob aufgefordert wird, seinen Namen zu nennen und anzuerkennen, daß er "Jakob" oder "Überlister" heißt, wird ihm den­noch nicht der Name dessen geoffenbart, der mit ihm gerungen und ihn in den Staub gebeugt hat. Er empfängt für sich selbst den Namen "Israel" oder "Kämpfer Gottes", und das ist ein großer Fortschritt, aber als er sagt: "Tue mir doch deinen Namen kund!‑ erhält er zur Antwort: "Warum doch fragst du nach meinem Namen?" (V. 29). Der Herr weigert sich, ihm Seinen Namen zu nennen, obschon Jakob die Wahrheit über sich selbst bekannt hatte, und deshalb gesegnet wird. Wie viele ähnliche Fälle enthält die Geschichte der Familie Gottes! Das Ich wird in seiner ganzen Häßlichkeit aufgedeckt, aber wir kommen praktisch nicht soweit, zu erkennen, was Gott ist, obwohl er uns so nahe ist und uns segnet.

 

Jakob empfing den neuen Namen "Israel" nachdem seine Hüfte an­gerührt worden war und er so erfahren und anerkannt hatte, daß er ein schwacher Mensch war. Dennoch mußte der Herr zu ihm sagen: "Warum doch fragst du nach meinem Namen?" und Er offenbarte ihm nicht den Namen dessen, der den wahren Namen und den wahren Zustand Jakobs ans Licht gebracht hatte. Dies lehrt uns, daß es etwas ganz anderes ist, von Gott gesegnet zu werden, als durch den Geist die Offenbarung des Charakters Gottes für unsere Herzen zu empfan­gen. "Er segnete ihn daselbst", aber Er nannte ihm nicht Seinen Namen. Es ist stets ein Segen, in irgendeinem Maß zur Selbsterkenntnis geführt zu werden, denn wir werden dadurch auf einen Weg gebracht, auf dem wir klarer unterscheiden können, was Gott in allen Einzelheiten für uns ist. So war es bei Jakob. Sobald sein Hüftgelenk angerührt worden war, war er in einem Zustand, in dem Gott allein genügen konnte. Ein armer hinkender Mann konnte wenig ausrichten. Es blieb ihm daher nichts übrig, als sich an den zu klammern, der allmächtig ist.

 

Ehe wir die Betrachtung dieses Kapitels abschließen, möchte ich noch bemerken, daß das Buch Hiob in gewissem Sinn eine Erklärung zu dem soeben betrachteten Abschnitt der Geschichte Jakobs gibt. In den ersten 31 Kapiteln streitet Hiob mit seinen Freunden und hält seine Behauptungen allen ihren Beweisgründen gegenüber aufrecht. In Ka­pitel 32 aber beginnt Gott durch Elihu mit ihm zu ringen, und in Kapitel 38 greift Er ihn unmittelbar an in der ganzen Majestät Seiner Kraft, überwältigt ihn durch die Offenbarung Seiner Größe und Herr­lichkeit und dann spricht Hiob die bekannten Worte: "Mit dem Gehör des Ohres hatte ich von dir gehört, aber nun hat mein Auge dich gesehen. Darum verabscheue ich mich und bereue in Staub und Asche" (Hiob 42, 5. 6). Gott hatte sein Hüftgelenk angerührt. Man beachte den Ausdruck: "Mein Auge hat dich gesehen". Hiob sagt nicht: "Ich sehe mich“, sondern: "Ich habe dich gesehen". Nur ein Blick auf das, was Gott ist, führt zu wahrer Buße und Verabscheuung unseres Ich. So wird es auch mit dem Volk Israel sein, dessen Geschichte mit der­jenigen Hiobs sehr verwandt ist. Wenn sie auf den blicken werden, den sie durchbohrt haben, werden sie wehklagen (Sach. 12, 10); und dann wird Gott sie segnen und völlig wiederherstellen.

 

Kapitel 33 und 34

 

JAKOB VOR ESAU UND IN SICHEM

 

Wir werden jetzt sehen, wie grundlos Jakobs Befürchtungen und wie nutzlos alle seine Pläne waren. Obwohl er gerungen hatte, obwohl sein Hüftgelenk angerührt worden war, fährt er fort, Pläne zu machen. "Und Jakob hob seine Augen auf und sah: und siehe, Esau kam und mit ihm vierhundert Mann. Und er verteilte die Kinder zu Lea und Rahel und zu den beiden Mägden; und er stellte die Mägde und ihre Kinder voran, und Lea und ihre Kinder dahinter, und Rahel und Joseph zuletzt" (V. 1. 2). Diese Vorkehrungen beweisen, daß die Be­fürchtungen Jakobs noch nicht aufgehört haben. Er fürchtet immer noch die Rache Esaus, und er setzt diejenigen der größten Gefahr aus, um die er am wenigsten besorgt ist. Was für erstaunliche Tiefen des menschlichen Herzens! Wenn Jakob sich wirklich auf Gott gestützt hätte, dann hätte er nie für sich und seine Familie befürchtet, zugrunde gerichtet zu werden, Aber leider wissen wir aus Erfahrung, wie schwer es dem Herzen fällt, sich einfältig und in stillem Vertrauen auf einen stets gegenwärtigen, allmächtigen und unendlich barmherzigen Gott zu stützen.

 

Gott zeigt uns hier, wie nutzlos diese Unruhe des Herzens ist. "Und Esau lief ihm entgegen und umarmte ihn und fiel ihm um den Hals und küßte ihn; und sie weinten" (V. 4). Das Geschenk Jakobs war unnötig und sein Plan nutzlos. Gott "versöhnte" Esau, wie Er schon Laban versöhnt hatte. So findet Gott stets Seine Freude daran, unsere furchtsamen und ungläubigen Herzen zu beschämen und alle unsere Befürchtungen zu zerstreuen. Anstatt dem Schwert Esaus zu begegnen, findet Jakob die offenen Arme und die Küsse seines Bruders. Anstatt gegeneinander zu streiten, vergießen sie Tränen. Das sind die Wege Gottes. Wer wollte Ihn nicht ehren durch volles Vertrauen des Herzens? Woher kommt es, daß wir trotz aller Beweise Seiner Treue so leicht geneigt sind, bei jeder neuen Gelegenheit zu zweifeln und Bedenken zu erheben? Weil wir Gott nicht genug kennen. "Verkehre doch freund­lich mit ihm und halte Frieden; dadurch wird Wohlfahrt über dich kommen" (Hiob 22, 21). Das trifft sowohl auf den unbekehrten Men­schen als auch auf das Kind Gottes zu. Wahre Erkenntnis Gottes, wirk­liche Bekanntschaft mit Ihm ist Leben und Frieden. "Dies aber ist das ewige Leben, daß sie dich, den allein wahren Gott, und den du ge­sandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh. 17, 3). Je inniger wir mit Gott bekanntwerden, um so tiefer ist unser Friede, und um so mehr sind wir über jede Abhängigkeit von der Natur erhaben. "Gott ist ein Fels", und wir brauchen nur unsere ganze Last auf Ihn zu legen, um zu erfahren, wie bereitwillig und mächtig Er ist, uns zu erhalten.

 

Nach dieser Offenbarung der Güte Gottes sehen wir, wie Jakob sich in Sukkoth niederläßt und im Widerspruch mit den Grundsätzen eines Pilgerlebens ein Haus baut, als wenn dort seine Heimat wäre. Gewiß war Sukkoth nicht der Ort, den Gott für ihn bestimmt hatte. Der Herr hatte ihm nicht gesagt: "Ich bin der Gott von Sukkoth", sondern: "Ich bin der Gott von Bethel" (Kap. 31, 13). Jakob hätte daher Bethel und nicht Sukkoth als Ziel haben sollen. Aber leider sind unsere Herzen viel zu oft mit einer geringeren Stellung und einem niedrigeren Teil zufrieden, als Gott in Seiner Güte geben möchte.

 

Dann zieht Jakob weiter bis nach Sichem und kauft dort ein Feldstück und erreicht so wieder nicht das von Gott gesetzte Ziel. Auch der Name, den er seinem Altar gibt, ist bezeichnend für den Zustand seiner Seele. Er nennt ihn: "Gott, der Gott Israels" (Kap. 33, 20). Dies gibt ein sehr begrenztes Bild von Gott. Zwar hat jeder von uns das Vorrecht, Gott zu kennen als seinen Gott, aber noch mehr ist es, Ihn als den Gott Seines eigenen Hauses zu kennen und uns selbst als Teil des­selben zu betrachten. Der Gläubige hat das Vorrecht, Christus als sein Haupt betrachten zu dürfen, aber es ist noch ein weit größeres Vorrecht, Ihn als das Haupt "Seines Leibes", der Versammlung, zu kennen und zu wissen, daß wir selbst Glieder dieses Leibes sind.

 

In Kapitel 35 werden wir sehen, daß Jakob zu einer herrlicheren Vor­stellung von Gott gebracht wird, aber in Sichem befindet er sich offen­bar auf einem niedrigen Niveau, und dafür muß er leiden, wie es immer sein wird, wenn wir die Stellung nicht einnehmen, die Gott uns zuge­wiesen hat. Die zweieinhalb Stämme, die sich diesseits des Jordan niederließen, fielen als erste dem Feind in die Hand. So war es auch bei Jakob. Wir sehen in Kapitel 34 die bitteren Früchte seines Aufent­halts in Sichem. Auf seine Familie wird ein Schandfleck gebracht, den Simeon und Levi durch die Gewalttat der Natur auswischen wollen, wodurch sie aber nur das Herzeleid und die Unruhe Jakobs vermehren. Jakob wird sogar durch ihre Gewalttat stärker berührt, als durch die seiner Tochter zugefügte Schmach. "Da sprach Jakob zu Simeon und zu Levi: Ihr habt mich in Trübsal gebracht, indem ihr mich stinkend machet unter den Bewohnern des Landes, unter den Kanaanitern und unter den Perisitern. Ich aber bin ein zählbares Häuflein, und sie werden sich wider mich versammeln und mich schlagen, und ich werde vertilgt werden, ich und mein Haus" (Kap. 34, 30). Das was Jakob am meisten erschütterte, waren die Folgen für ihn und sein Haus. Er scheint in ständiger Furcht vor drohenden Gefahren gelebt zu haben. Überall offenbart er einen unruhigen und berechnenden Geist, der unvereinbar ist mit einem Leben des Glaubens an Gott.

 

Damit soll nicht gesagt werden, daß Jakob überhaupt kein Mann des Glaubens gewesen ist. Das war er sicher und er hat als solcher auch seinen Platz inmitten der "großen Wolke von Zeugen" gefunden (Hebr. 11). Aber er lebte diesen göttlichen Grundsatz nicht aus und machte deshalb so viele traurige Fehler. Hätte ihn wohl der Glaube sagen lassen: "Und ich werde vertilgt werden, ich und mein Haus"? Sicher nicht. Gottes Verheißung in Kap. 28, 14. 15 sollte jede Furcht aus seinem Herzen verbannt haben. "Ich bin mit dir ... ich werde dich nicht verlassen", das waren Worte, die sein Herz hätten beruhigen sollen. Aber Jakob war mehr mit der Gefahr beschäftigt, die ihn in­mitten der Bewohner des Landes umgab, als mit seiner Sicherheit in der Hand Gottes. Er hätte wissen sollen, daß nicht ein Haar seines Hauptes angetastet werden konnte, und anstatt daher auf Simeon und Levi oder auf die Folgen ihrer übereilten Handlung zu blicken, hätte er sich selber verurteilen sollen, weil er sich überhaupt in dieser Stellung befand. Hätte er sich nicht in Sichem wohnlich eingerichtet, so wäre Dina nicht entehrt worden und die Gewalttat seiner Söhne nicht zum Ausbruch gekommen. Wie viele Christen stürzen sich durch ihre eigene Untreue in Kummer und Herzeleid und klagen dann die Umstände an, anstatt sich selber zu verurteilen!

 

Wie oft sehen wir z. B. christliche Eltern in Unruhe und großer Sorge über die Auflehnung und Weltlichkeit ihrer Kinder, und doch haben sie eigentlich nur sich selbst wegen dieser Erscheinungen anzuklagen, weil sie in ihrer Familie nicht treu mit Gott ihren Weg gegangen sind. So war es bei Jakob. Er stand in Sichem auf einem niedrigen Niveau, und da ihm jenes zarte Gefühl fehlte, das ihn bestimmt zur Entdeckung seiner falschen Stellung gebracht hätte, gebrauchte Gott in Seiner Treue die Umstände, um ihn zu züchtigen. "Irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten! denn was irgend ein Mensch sät, das wird er auch ernten" (Gal. 6, 7). Das ist ein ernster Grundsatz, der sich in den Re­gierungswegen Gottes immer wieder findet, und dessen Anwendung niemand entgehen kann. Für die Kinder Gottes ist es sogar Gnade, daß sie gezwungen sind, die Früchte ihrer Irrtümer zu ernten. Es ist Gnade, auf die eine oder andere Weise lernen zu müssen, wie traurig es ist, sich von dem lebendigen Gott zu entfernen oder den uns von Ihm zuge­wiesenen Platz nicht einzunehmen. Wir müssen erfahren, daß auf der Erde der Ort unserer Ruhe nicht ist. Der Wunsch Gottes ist, daß wir in und bei Ihm ruhen. Das ist Gnade. Und wenn wir abirren oder auf dem Weg zurückbleiben, ruft Er uns zu: "Wenn du umkehrst, zu mir um­kehrst usw." (Jer. 4, 1). Falsche Demut, die Frucht des Unglaubens, leitet oft den Abgeirrten oder Zurückgebliebenen dahin, eine geringere Stellung einzunehmen als die, die Gott ihm gibt, weil er nicht den Grundsatz kennt, auf dem Gott eine Seele wiederherstellt und auch nicht das Maß dieser Wiederherstellung. Der verlorene Sohn wollte ein Tagelöhner werden, weil er nicht wußte, daß er auf diesen Platz ge­nausowenig Anspruch hatte wie auf den eines Sohnes, und daß es andererseits dem Charakter des Vaters nicht entsprochen hätte, ihn in eine solche Stellung zu bringen.

 

Kapitel 35

 

JAKOB WIEDER IN BETHEL. RAHELS TOD

 

"Und Gott sprach zu Jakob: Mache dich auf, ziehe hinauf nach Bethel“ (V. 1). Diese Worte bestätigen den Grundsatz, mit dem wir uns soeben beschäftigt haben. Wenn wir einen Fehler gemacht haben oder von Gott abgewichen sind, ruft der Herr die Seele zu sich zurück. "Gedenke nun, wovon du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke" (Offbg. 2, 5). Das ist Gottes Grundsatz der Wiederher­stellung. Die Seele muß zum göttlichen Maß zurückgebracht werden. Der Herr sagt nicht: "Bedenke wo du bist", sondern: "Gedenke der hohen Stellung, von der du gefallen bist". Nur auf diese Weise lernen wir, wie weit wir abgewichen sind und wie wir wieder zurückkehren können, und erst dann, wenn wir so zu dem heiligen Maß Gottes zu­rückgebracht sind, können wir das Böse unseres gefallenen Zustandes ganz beurteilen. Wieviel Böses hatte sich in der Familie Jakobs an­gehäuft, ohne daß er es gerichtet hatte, bis die Seele Jakobs durch den Ruf aufgeweckt wurde: "Ziehe hinauf nach Bethel"! Sichem war nicht der Platz, um Verständnis über all das Böse zu erlangen. Die Atmo­sphäre dieses Ortes war unrein, so daß es unmöglich war, dort den wahren Charakter des Bösen zu erkennen. Aber als Jakob nach Bethel gerufen wurde, "sprach er zu seinem Hause und zu allen, die bei ihm waren: Tut die fremden Götter hinweg, die in eurer Mitte sind, und reinigt euch, und wechselt eure Kleider; und wir wollen uns aufmachen und nach Bethel hinaufziehen, und ich werde daselbst einen Altar ma­chen dem Gott, der mir geantwortet hat am Tage meiner Drangsal und mit mir gewesen ist auf dem Wege, den ich gewandelt bin" (V. 2. 3). Schon die Erwähnung des Hauses Gottes versetzt eine Saite in der Seele des Patriarchen in Schwingungen und läßt in einem Augenblick die Geschichte von zwanzig ereignisreichen Jahren an ihm vorüberziehen.

 

Nicht in Sichem, sondern in Bethel hatte er gelernt, was Gott war. Daher mußte er nach Bethel zurückkehren und dort einen Altar er­richten, der sich in Grundsatz und Namen völlig von seinem Altar in Sichem unterschied, denn dieser war mit einer Menge Unreinigkeit und Abgötterei verbunden.

 

Jakob konnte von "Gott, dem Gott Israels", reden, während ihn Dinge umgaben, die zur Heiligkeit des Hauses Gottes überhaupt nicht paßten. Nichts kann die Seele auf dem Weg beständiger und einsichtsvoller Absonderung von dem Bösen erhalten als nur das Bewußtsein davon, was Aas Haus Gottes" ist, und was diesem Haus entspricht. Wenn ich nur in bezug auf mich selbst auf Gott schaue, werde ich kein klares Verständnis davon haben, was eine Würdigung der Beziehungen Gottes zu Seinem Haus bewirkt. Manche halten es für unbedeutend, in ihrem Gottesdienst mit unreinen Dingen verbunden zu sein (wenn sie selbst nur treu und von Herzen aufrichtig sind). Sie glauben, daß man Gott auch in Sichem anbeten kann, und daß ein Altar, der den Namen "Gott, der Gott Israels", trägt, ebenso erhaben und gottgemäß ist, wie ein Altar mit dem Namen "Bethel" (Haus Gottes). Aber das ist ein Irrtum. Wir können einen großen Unterschied zwischen dem Verhalten Jakobs in Sichem und seinem Verhalten in Bethel feststellen, und der­selbe Unterschied besteht zwischen den beiden Altären. Unsere Vor­stellung vom Gottesdienst wird natürlich von unserem geistlichen Zu­stand beeinflußt, und unser Gottesdienst wird genau in dem Maß, wie wir den Charakter Gottes und unsere Beziehungen zu Ihm verstanden haben, armselig oder erhaben sein.

 

Der Name unseres Altars und der Charakter unseres Gottesdienstes bringen denselben Gedanken zum Ausdruck. Ein mit dem "Gott von Bethel" in Verbindung stehender Dienst ist erhabener als derjenige, der dem "Gott Israels" geweiht ist. Der erste ist mit einer höheren Vorstellung von Gott verbunden als der zweite, bei dem Gott, anstatt als der Gott Seines Hauses gekannt zu sein, nur als der Gott einer einzigen Person erscheint. Allerdings ist der Titel "Gott, der Gott Israels", der Ausdruck einer bewundernswerten Gnade, und die Seele wird glücklich sein, wenn sie den Charakter Gottes betrachtet, der sich in Gnaden mit jedem einzelnen Stein Seines Hauses und mit jedem Glied des Leibes verbindet. Jeder Stein in dem Hause Gottes ist ein lebendig gemachter Stein, und verbunden mit dem "lebendigen Stein" hat er Gemeinschaft mit dem "lebendigen Gott" durch die Macht des "Geistes des Lebens". Aber wie wahr das alles sein mag, so ist Gott doch auch der Gott Seines Hauses, und wenn wir fähig gemacht sind, Ihn so zu betrachten, dann erhält unser Gottesdienst einen erhabene­ren Charakter.

 

Die Berufung Jakobs nach Bethel enthält jedoch noch etwas anderes. Gott sagt ihm: "Mache einen Altar dem Gott, der dir erschienen ist, als du vor deinem Bruder Esau flohest" (V. 1). Er erinnert ihn dadurch an die "Tage seiner Drangsal" (V. 3). Es ist oft gut, in unserer Erinne­rung bis zu dem Zeitabschnitt unseres Lebens zurückgeführt zu werden, da wir uns auf der untersten Sprosse der Leiter befanden. So erinnert Samuel den König Saul an die Zeit, da er "klein war in seinen Augen" (l. Sam. 15, 17), und jeder von uns hat es nötig, daß die Zeit, da er "klein in seinen Augen war", oft in sein Gedächtnis zurückkehrt. Wenn wir "klein in unseren Augen" sind, stützt sich das Herz wirklich auf Gott. Wenn wir wieder anfangen, uns für etwas zu halten, dann ist der Herr gezwungen, uns von neuem unser Nichts fühlen zu lassen. Wenn jemand den Weg des Dienstes oder des Zeugnisses betritt, fühlt er sehr die eigene Schwachheit und Unfähigkeit, und wie sehr empfindet er daher das Bedürfnis, sich auf Gott zu stützen! Wie ernst fleht die Seele zu Ihm um Kraft und Hilfe! Später bilden wir uns vielleicht ein, daß wir, weil wir schon so lange im Werk sind, auf eigenen Füßen stehen können, oder wir haben jedenfalls nicht mehr dasselbe Gefühl von unserer Schwachheit und stehen nicht mehr in derselben Abhängig­keit von Gott, und dann wird unser Dienst zu einer wertlosen Sache ohne Salbung und Kraft, weil er nicht mehr aus der unversiegbaren Quelle des Geistes schöpft.

 

In den Versen 9‑15 erneuert Gott dem Jakob Seine Verheißung und bestätigt ihm den neuen Namen "Kämpfer Gottes" anstatt "Überlister", und Jakob nennt wieder den Namen des Ortes "Bethel". Vers 18 gibt uns ein interessantes Beispiel von dem Unterschied, der zwischen dem Urteil des Glaubens und dem Urteil der Natur besteht. Die Natur sieht die Dinge durch den Nebel, von dem sie umgeben ist, während der Glaube sie im Licht der Gegenwart und der Ratschlüsse Gottes be­trachtet. Rahel nannte ihr Kind Benoni, als ihre Seele ausging (denn sie starb), "sein Vater aber nannte ihn Benjamin". Die Natur nennt ihn den "Sohn meiner Not", aber der Glaube: den "Sohn der Rechten, d. h. des Glückes". So ist es immer.

 

Kapitel 36 und 37

 

JOSEPHS TRÄUME

 

Kapitel 36 enthält das Geschlechtsregister der Söhne Esaus mit ihren verschiedenen Titeln und Niederlassungsorten. Wir werden nicht dabei stehenbleiben, sondern zu einem der reichsten und interessante­sten Teile der Heiligen Schrift übergehen.

 

Es gibt in der Schrift wohl kein schöneres und willkommeneres Bild von Christus als Joseph. Ob wir Ihn betrachten als den Gegenstand des Neides der "Seinigen", ob wir Ihn sehen in Seiner Erniedrigung, in Seinem Leiden und Tod, oder in Seiner Erhöhung und Herrlichkeit, in allem finden wir Ihn treffend durch Joseph dargestellt.

 

Kapitel 37 teilt uns die Träume Josephs mit, deren Erzählung den Haß seiner Brüder erregte. Joseph war der Gegenstand der Liebe des Vaters und zu einer herrlichen Bestimmung berufen, und da seine Brüder hiervon nichts verstanden, haßten sie ihn. Sie teilten nicht die Liebe des Vaters zu Joseph und wollten sich dem Gedanken einer Er­höhung ihres Bruders nicht unterwerfen. Das ist eine genaue Vor­stellung der Juden in den Tagen Christi! "Er kam in das Seinige, und die Seinigen nahmen ihn nicht an" (Joh. 1, 11). Er hatte keine Gestalt und keine Pracht" in ihren Augen (Jes. 53, 2). Sie wollten Ihn weder als den Sohn Gottes noch als den König Israels anerkennen. Ihre Augen waren nicht geöffnet, um Seine Herrlichkeit anzuschauen, "eine Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahr­heit" (Joh. 1, 14; vgl. Kap. 12, 37 ff). Sie wollten Ihn nicht ja, sie haßten Ihn.

 

Aber obwohl Joseph bei seinen Brüdern kein Gehör fand, blieb er dennoch bei seinem Zeugnis. "Und Joseph hatte einen Traum und teilte ihn seinen Brüdern mit; und sie haßten ihn noch mehr ... Und er hatte noch einen anderen Traum und erzählte ihn seinen Brüdern" (V. 5 u. 9). Das war ein einfaches Zeugnis aufgrund einer Offenbarung Gottes, aber dieses Zeugnis sollte Joseph in die Grube bringen. Hätte er geschwiegen oder die Schärfe und Kraft seines Zeugnisses etwas gemildert, wäre er vielleicht verschont geblieben, aber er sagte seinen Brüdern die Wahr­heit, und darum haßten sie ihn.

 

Dasselbe finden wir bei dem großen Gegenbild Josephs. Christus gab der Wahrheit Zeugnis (Joh. 18, 37). Er bezeugte "das gute Bekenntnis" (i. Tim. 6, 13). Er hielt nichts zurück. Er konnte nur die Wahrheit reden, weil Er die Wahrheit ist. Und der Mensch beantwortete Sein Zeugnis mit dem Kreuz. Das Zeugnis Christi war zugleich mit der reichsten Gnade verbunden. Er kam nicht nur als "die Wahrheit", sondern auch als der vollkommene Ausdruck der Liebe des Vaterherzens. "Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden" (Joh. 1, 17), Er war für den Menschen die vollständige Offenbarung von dem, was Gott ist, Darum ist der Mensch ohne Entschuldigung (Vgl. Joh. 15, 22‑25). Er kam, um dem Menschen Gott zu zeigen, und der Mensch haßte Gott mit vollkommenem Haß. Die Liebe Gottes fand ihre Antwort in der Offenbarung des menschlichen Hasses. Wir sehen dies am Kreuz, aber die Grube, in die Joseph von seinen Brüdern ge­worfen wurde, gibt uns schon ein Bild davon.

 

"Und sie sahen ihn von ferne; und ehe er ihnen nahte, da ersannen sie gegen ihn den Anschlag, ihn zu töten. Und sie sprachen einer zum anderen: Siehe, da kommt jener Träumer! So kommt nun und laßt uns ihn erschlagen und ihn in eine der Gruben werfen, und wir wollen sagen: Ein böses Tier hat ihn gefressen; und wir werden sehen, was aus seinen Träumen wird" (V. 18‑20). Diese Worte erinnern uns in ergreifender Weise an das Gleichnis von den Weingärtnern in Matth. 21, wo wir lesen: "Zuletzt aber sandte er seinen Sohn zu ihnen, indem er sagte: Sie werden sich vor meinem Sohne scheuen. Als aber die Weingärtner den Sohn sahen, sprachen sie untereinander: Dieser ist der Erbe; kommt, laßt uns ihn töten und sein Erbe in Besitz nehmen. Und sie nah­men ihn, warfen ihn zum Weinberg hinaus und töteten ihn." Gott sandte Seinen Sohn in die Welt, indem Er sagte: "Sie werden sich vor meinem Sohne scheuen"; aber das Herz des Menschen hatte keine Scheu vor dem "Vielgeliebten" des Vaters. Sie warfen Ihn hinaus! Die Erde und der Himmel waren und sind noch immer Christi wegen in Zwiespalt. Der Mensch kreuzigte Ihn, aber Gott weckte Ihn aus den Toten auf. Der Mensch gab Ihm einen Platz am Kreuz zwischen zwei Verbrechern, aber Gott setzte Ihn zu Seiner Rechten in den Himmeln. Der Mensch stellte Ihn auf den niedrigsten Platz auf der Erde, aber Gott gab Ihm den höchsten Platz in den Himmeln und bekleidete Ihn mit der herrlichsten Majestät.

 

Wir finden das alles in der Geschichte Josephs wieder. "Sohn eines Fruchtbaumes ist Joseph, Sohn eines Fruchtbaumes am Quell; die Schößlinge treiben über die Mauer. Und es reizen ihn und schießen, und es befehden ihn die Bogenschützen; aber sein Bogen bleibt fest, und gelenkig sind die Arme seiner Hände, durch die Hände des Mächtigen Jakobs. Von dannen ist der Hirte, der Stein Israels: von dem Gott deines Vaters, und er wird dir helfen, und dem Allmächtigen, und er wird dich segnen mit Segnungen des Himmels droben, mit Segnungen der Tiefe, die unten liegt, mit Segnungen der Brüste und des Mutter­leibes. Die Segnungen deines Vaters überragen die Segnungen meiner Voreltern bis zur Grenze der ewigen Hügel. Sie werden ' sein auf dem Haupte Josephs und auf dem Scheitel des Abgesonderten unter seinen Brüdern" (Kap. 49, 22‑26).

 

Diese Worte schildern in bewundernswerter Weise "die Leiden, die auf Christum kommen sollten, und die Herrlichkeiten danach" (i. Petr. 1, 11). Die "Bogenschützen" haben ihr Werk getan, aber Gott war stärker als sie. Der wahre Joseph wurde schwer verwundet im Hause Seiner Freunde, aber die Arme Seiner Hände sind gelenkig geblieben in der Kraft der Auferstehung, und der Gläubige kennt Ihn jetzt als die Grundlage, auf der Gott die Kirche, Israel und die ganze Schöpfung segnen und verherrlichen kann. Wenn wir Joseph in der Grube und im Gefängnis betrachten und dann später als Herrscher über ganz Ägypten, dann erkennen wir den großen Unterschied zwischen den Gedanken Gottes und den Gedanken der Menschen, und denselben Unterschied sehen wir, wenn wir auf das Kreuz und dann auf den Thron der Ma­jestät in den Himmeln blicken.

 

Nichts hat den wirklichen Zustand des menschlichen Herzens Gott ge­genüber so klargemacht wie die Erscheinung Christi. "Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, so hätten sie keine Sünde" (Joh. 15, 22). Das heißt nicht, daß die Menschen keine Sünder ge­wesen wären, sondern: "sie hätten keine Sünde". So sagt der Herr auch an einer anderen Stelle: "Wenn ihr blind wäret, so würdet ihr keine Sünde haben" (Joh. 9, 41). Gott ist dem Menschen in der Person Seines Sohnes so nahe gekommen, daß der Mensch sagen konnte: "Dieser ist der Erbe", aber er hat hinzugefügt: "Kommt, laßt uns ihn töten". Darum haben sie jetzt keinen Vorwand für ihre Sünde (Joh. 15, 22). Alle, die sagen, daß sie sehen, haben keine Entschuldigung. Nicht darin, daß man blind ist und diesen Zustand anerkennt, besteht das Verhängnis, sondern darin daß man bekennt, sehend zu sein. In einer Zeit wie heute, wo sich soviel äußeres Bekenntnis findet, ist dieser Grundsatz doppelt ernst. Mit dem bloßen Bekenntnis, zu sehen, ist ver­bunden, daß die Sünde bleibt. Die Augen eines Menschen, der seine Blindheit anerkennt, können geöffnet werden, aber was kann man für jemand tun, der zu sehen meint, während er in Wirklichkeit blind ist?

 

Kapitel 38

 

TAMAR

 

Dieses Kapitel gibt uns ein Beispiel von Umständen, wo die Gnade Gottes über die Sünde des Menschen triumphiert. "Es ist offenbar, daß unser Herr aus Juda entsprossen ist" (Hebr. 7, 14). Aber wie? "Juda zeugte Pharas und Zara von der Tamar" (Matth. 1, 3). Diese Tatsache verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Gott erhebt sich in Seiner unendlichen Gnade über die Sünde und Torheit des Menschen, um die Ratschlüsse Seiner Liebe und Seines Erbarmens zu erfüllen. So lesen wir ein wenig später in demselben Evangelium: "David zeugte Salomo von der, die Urijas Weib gewesen". Es ist Gottes würdig, so zu handeln. Der Geist Gottes führt uns durch das Geschlechtsregister Christi und zeigt uns als Glieder dieser Kette Tamar und Bathseba! Es ist deutlich, daß hier der Mensch ausgeschlossen ist. Am Ende von Matthäus 1 begegnen wir "Gott, geoffenbart im Fleische", so wird der Herr vom Heiligen Geist dargestellt. Kein Mensch hätte ein ähnliches Geschlechtsregister ersinnen können, und ein geistlich gesinnter Mensch wird darin eine Offenbarung reicher Gnade finden und auch die Be­stätigung der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift.

 

Kapitel 39‑45

 

JOSEPH IN ÄGYPTEN

 

Beim Lesen dieser anziehenden Teile des Buches Gottes stellen wir eine interessante Verkettung verschiedener Wirkungen der Vorsehung fest, die alle ein Hauptziel verfolgen, nämlich die Erhöhung des Men­schen, der in der Grube gewesen war, und die gleichzeitig am Rande eine Menge untergeordneter Dinge ans Licht bringen. "... damit die Überlegungen vieler Herzen offenbar werden" (Luk. 2, 35), aber Joseph sollte erhöht werden. "Und er rief eine Hungersnot über das Land her­bei; jede Stütze des Brotes zerbrach er. Er sandte einen Mann vor ihnen her, Joseph wurde zum Knechte verkauft. Man preßte seine Füße in den Stock, er kam in das Eisen, bis zur Zeit, da sein Wort eintraf; das Wort des HERRN läuterte ihn. Der König sandte hin und ließ ihn los, der Herrscher über Völker, und befreite ihn; er setzte ihn zum Herrn über sein Haus, und zum Herrscher über all sein Besitztum, um seine Fürsten zu fesseln nach seiner Lust, und daß er seine Ältesten Weisheit lehre" (Ps. 105, 16‑22).

 

Es ist zu beachten, daß es sich hauptsächlich darum handelte, den zu erhöhen, den die Menschen verworfen hatten, und dann den Men­schen ihre Sünde bewußt zu machen, der sie sich durch die Verwerfung schuldig gemacht hatten. In welch bewundernswerter Weise erfüllt sich das alles! Unwichtige und wichtige, günstige und ungünstige Umstände müssen zur Erfüllung der Vorsätze Gottes mitwirken. In Kapitel 39 gebraucht Satan das Weib Potiphars, um Joseph ins Gefängnis zu bringen, und in Kapitel 40 benutzt er die Undankbarkeit und Nachlässigkeit des obersten Schenken, um ihn dort festzuhalten. Aber alles ist ver­geblich. Gott steht hinter den Kulissen und hält alle Fäden in Seiner Hand. Er läßt zur richtigen Zeit den Mann Seiner Ratschlüsse hervortreten. Gott steht über allen Umständen. Er kann alles zur Erfüllung Seiner unausforschlichen Absichten benutzen. Wie glücklich sind wir, in allen Dingen die Entwicklung der Ratschlüsse unseres Vaters ver­folgen zu dürfen, und wie wohltuend ist die Gewißheit, daß Er als unumschränkter Machthaber über alle Werkzeuge verfügt, und daß Engel, Menschen und Teufel unter Seiner Gewalt stehen und nach Seinem Belieben zur Ausführung Seiner Vorsätze dienen müssen.

 

Dies alles sehen wir deutlich in den vor uns liegenden Kapiteln. Gott tritt in das Privatleben eines heidnischen Leibwachen‑Obersten, be­sucht das Haus eines heidnischen Königs, ja, dessen Lagerstätte, und läßt dessen Träume zur Entwicklung Seiner Pläne beitragen. Wir sehen, daß nicht nur einzelne Personen und deren Verhältnisse zur Erreichung der Ziele Gottes benutzt werden, sondern Ägypten und die umliegenden Länder müssen auf Seinen Ruf auf dem Schauplatz erscheinen. Die ganze Erde wird durch die Hand Gottes gewissermaßen zu einer Bühne, auf der die Herrlichkeit und Größe des "von seinen Brüdern Abgeson­derten" entfaltet werden. Das sind die Wege Gottes, und es ist eine der schönsten Erfahrungen für den Gläubigen, die wunderbaren Taten seines himmlischen Vaters zu sehen. Wie mächtig bricht die Vorsehung Gottes in der Geschichte Josephs durch! Werfen wir z. B. einen Blick in den Kerker. Wir sehen dort einen in Eisen gelegten Mann, eines üblen Verbrechens beschuldigt, aus der menschlichen Gesellschaft ausge­stoßen und verworfen, und gerade dieser Mann wird in einem Augen­blick in die höchste Stellung in Ägypten berufen. Wer könnte leugnen, daß Gott hierin Seine Hand hatte?

 

"Und der Pharao sprach zu Joseph: Nachdem Gott dir dies alles kund­getan hat, ist keiner so verständig und weise wie du. Du sollst über mein Haus sein, und deinem Befehl soll mein ganzes Volk sich fügen; nur um den Thron will ich größer sein als du. Und der Pharao sprach zu Joseph: Siehe, ich habe dich über das ganze Land Ägypten gesetzt. Und der Pharao nahm seinen Siegelring von Seiner Hand und tat ihn an die Hand Josephs, und er kleidete ihn in Kleider von Byssus und legte die goldene Kette um seinen Hals. Und er ließ ihn auf dem zweiten Wagen fahren, den er hatte, und man rief vor ihm her: Werfet euch nieder! ‑ Und er setzte ihn über das ganze Land Ägypten. Und der Pharao sprach zu Joseph: Ich bin der Pharao, und ohne dich soll kein Mensch seine Hand oder seinen Fuß aufheben im ganzen Lande Ägyp­ten" (Kap. 41, 39‑44).

 

Das war keine gewöhnliche Beförderung. Die Reihenfolge der Bege­benheiten, die zu dieser Erhöhung mitwirkten, zeigt deutlich, daß die Hand Gottes alles leitete. Zugleich sehen wir in allem ein treffendes Bild von den Leiden und der Herrlichkeit des Herrn Jesus Christus. Joseph wurde aus der Grube und dem Kerker, in die ihn die Eifersucht seiner Brüder und das falsche Urteil der Heiden gebracht hatten, heraus­genommen, um Herrscher über ganz Ägypten zu werden, und nicht nur das, er sollte auch auf diesem Weg der Segenskanal und der Erhalter Israels und der ganzen Erde werden. Das alles deutet bildlich auf Christus hin, es könnte wirklich kein besseres Bild geben. Wir sehen, wie ein Mensch durch die Hand des Menschen bis zur Stätte des Todes geführt wird, und dann sehen wir ihn durch die Hand Gottes auferweckt und zur höchsten Würde und Herrlichkeit erhoben. "Männer von Israel, höret diese Worte: Jesum, den Nazaräer, einen Mann, von Gott an euch erwiesen durch mächtige Taten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte tat, wie ihr selbst wisset ‑ diesen, übergeben nach dem bestimmten Ratschluß und nach Vorkenntnis Gottes, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geheftet und umgebracht. Den hat Gott auferweckt, nachdem er die Wehen des Todes aufgelöst hatte, wie es denn nicht möglich war, daß er von dem­selben behalten würde" (Apg. 2, 22‑24).

 

Aber es gibt außer den bereits angedeuteten Punkten noch zwei Ereig­nisse in der Geschichte Josephs, die ihrem bildhaften Charakter eine ganz besondere Vollkommenheit geben. Es ist seine Heirat mit einer Fremden in Kapitel 41 und sein Zusammentreffen mit seinen Brüdern in Kapitel 45. Dies ist die Reihenfolge der Ereignisse: Joseph stellt sich seinen Brüdern als vom Vater gesandt vor. Sie verwerfen ihn und bringen ihn, so weit es an ihnen liegt, an die Stätte des Todes. Gott nimmt ihn von dort weg und erhebt ihn zu einem Platz der höchsten Würde. Als er so erhoben ist, empfängt er eine Braut, eine Frau, und als seine Brüder völlig gebrochen zu seinen Füßen liegen, gibt er sich ihnen zu erkennen, beruhigt ihre Herzen und führt sie in die Segnung ein. Dann wird er der Segenskanal für sie und die ganze Erde.

 

Einige Bemerkungen über die Heirat Josephs und die Wiederherstel­lung seiner Brüder sind hier angebracht. Die fremde Frau ist ein Bild der Kirche oder der Versammlung Gottes. Christus stellte sich den Juden dar und nachdem Er von ihnen verworfen worden war, nahm Er Seinen Platz in der Höhe ein, von wo Er den Heiligen Geist hernieder­sandte, um eine auserwählte Kirche zu sammeln, die aus Juden und Heiden zusammengesetzt und dazu bestimmt ist, mit Ihm in der himm­lischen Herrlichkeit vereinigt zu sein. Wir haben bereits in Kapitel 24 die Lehre von der Kirche betrachtet, aber es sind noch einige Punkte zu erwähnen. Zunächst ist zu beachten, daß Josephs ägyptische Braut innig mit ihm in seiner Herrlichkeit verbunden war. (Die Frau Josephs stellt die Kirche dar als mit Christus in Seiner Herrlichkeit vereinigt, während die Frau Moses die Kirche als mit Christus in Seiner Verwerfung ver­einigt darstellt.) Mit ihm vereinigt teilte sie alles, was sein war. Zudem nahm sie einen Platz der Nähe und Vertrautheit ein, den sie nur allein kannte. Ebenso ist es mit der Kirche, der Braut des Lammes: Sie wird zu Christus hin gesammelt, um, die Teilhaberin sowohl Seiner Ver­werfung als auch Seiner Herrlichkeit zu sein. Die Stellung Christi ver­leiht der Stellung der Versammlung ihren Charakter, und die Stellung der Versammlung sollte stets ihren Weg charakterisieren. Wenn wir zu Christus hin gesammelt werden, so ist es zu Ihm als dem in Herrlich­keit Erhöhten und nicht als dem auf der Erde Erniedrigten. "Daher kennen wir von nun an niemand nach dem Fleische; wenn wir aber auch Christum nach dem Fleische gekannt haben, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr also" (2. Kor. 5, 16). Der Sammelpunkt der Kirche ist Christus in der Herrlichkeit.

 

Das volle Verständnis dieses Grundsatzes ist für die Praxis weit wichti­ger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Absicht Satans und die Neigung unserer Herzen gehen stets dahin, uns von einer Erhebung zu der Höhe der Gedanken Gottes zurückzuhalten, und dies ist ganz besonders wahr im Blick auf den Mittelpunkt unserer Vereinigung als Christen. Viele sind der Meinung, daß das Blut des Lammes diesen Mittelpunkt bildet. Nun ist es ganz sicher richtig, daß das kostbare Blut Christi uns persönlich als Anbeter in die Gegenwart Gottes versetzt hat und das Blut daher die Grundlage unserer Gemeinschaft mit Gott bildet. Aber wenn wir von dem Mittelpunkt unserer Vereinigung als Versamm­lung reden, dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, daß der Heilige Geist uns zu einem auferstandenen und verherrlichten Christus hin sammelt. Diese Tatsache verleiht unserer Vereinigung als Christen einen hohen und heiligen Charakter. Sobald wir uns auf einen niedri­geren Boden stellen, werden wir unfehlbar zu einer Sekte oder Partei. Wenn wir uns um irgendeine Verordnung versammeln, so wichtig sie sein mag, oder um eine Wahrheit, die an und für sich durchaus nicht bestritten werden kann, so machen wir etwas Geringeres als Christus zu unserem Mittelpunkt.

 

Es ist daher sehr wichtig, die praktischen Folgen der Wahrheit zu prüfen, daß wir zu einem auferstandenen und verherrlichten Haupt hin versammelt sind. Wäre Christus auf der Erde, so würden wir uns hier um Ihn sammeln müssen, da Er aber in den Himmeln verborgen ist, empfängt die Versammlung ihren Charakter von Seiner Stellung dort. Deshalb konnte Christus sagen: "Sie sind nicht von der Welt, gleichwie ich nicht von der Welt bin"; und weiter.‑ "Ich heilige mich selbst für sie, auf daß auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit" (Joh. 17, 16. 19). So lesen wir auch in 1. Petr. 2, 4. 5: "Zu welchem kommend, als zu einem lebendigen Steine, von Menschen zwar verworfen, bei Gott aber aus­erwählt kostbar, werdet auch ihr selbst als lebendige Steine aufgebaut, ein geistliches Haus, ein heiliges Priestertum, um darzubringen geist­liche Schlachtopfer, Gott wohlannehmlich durch Jesum Christum". Wenn wir zu Christus hin versammelt sind, dann muß es sein, so wie Er ist und wo Er ist, und je besser wir durch die Leitung des Heiligen Geistes diese Dinge verstehen, um so besser werden wir auch wissen, wie wir uns jetzt zu verhalten haben. Josephs Braut wurde nicht in der Grube oder im Kerker mit ihm vereinigt, sondern in der Würde und Herrlichkeit seiner Stellung als Herrscher über ganz Ägypten. Es fällt uns in diesem Fall sicher nicht schwer, den außerordentlichen Unter­schied zwischen den beiden Stellungen zu erkennen.

 

Wir lesen ferner: "Und dem Joseph wurden zwei Söhne geboren, ehe das Jahr der Hungersnot kam". Eine Zeit der Trübsal nahte, aber vorher wurde die Frucht seiner Verbindung mit seiner Frau sichtbar. Die Kinder, die Gott ihm gegeben hatte, wurden vor dieser Trübsalszeit ins Leben gerufen. So wird es auch im Blick auf die Kirche sein. Alle ihre Glieder werden berufen, der ganze Leib wird vervollständigt und mit seinem Haupt im Himmel vereinigt werden, ehe "die große Drang­sal" beginnt, die über die ganze Erde kommen soll (Matth. 24, 21).

 

Beschäftigen wir uns jetzt einen Augenblick mit Josephs Zusammen­treffen mit seinen Brüdern. Wir werden darin verschiedene Punkte finden, die mit der Geschichte Israels in den letzten Tagen auffallend übereinstimmen. Während der Zeit, in der Joseph von seinen Brüdern getrennt war, hatten seine Brüder eine tiefe Prüfung und schmerzende Gewissensübungen durchzumachen. Eine dieser Übungen drücken sie mit folgenden Worten aus: "Fürwahr, wir sind schuldig wegen unseres Bruders, dessen Seelenangst wir sahen, als er zu uns flehte, und wir hörten nicht; darum ist diese Drangsal über uns gekommen. Und Ruben antwortete ihnen und sprach ‑ Habe ich nicht zu euch gesprochen und ge­sagt: Versündiget euch nicht an dem Knaben? Aber ihr hörtet nicht; und siehe, sein Blut wird auch gefordert!" (Kap. 42, 21. 22).

 

Weiter lesen wir in Kapitel 44, 16: "Und Juda sprach: Was sollen wir meinem Herrn sagen? Was sollen wir reden und wie uns recht­fertigen? Gott hat die Missetat deiner Knechte gefunden." Keiner kann unterweisen wie Gott. Er allein kann im Gewissen ein wahres Gefühl von der Sünde wachrufen und die Seele zu dem tiefen Bewußtsein ihres Zustandes vor Ihm bringen. Der Mensch eilt sorglos in seinen Sünden dahin, bis die Pfeile des Allmächtigen sein Gewissen durchboh­ren, und dann wird er durch schmerzhafte Übungen geführt, die nur in der Fülle der erlösenden Liebe leichter werden können. Josephs Brüder hatten keine Vorstellung davon, was aus ihrem Verhalten gegen Joseph für sie hervorgehen würde. "Sie nahmen ihn und warfen ihn in die Grube; ... und sie setzten sich, um zu essen" (Kap. 37, 24. 25). "Wehe denen..., die Wein aus Schalen trinken und mit den besten ölen sich salben, und sich nicht grämen über die Wunde Josephs!" (Amos 6, 6).

 

Gott rief zu Seiner Zeit Betrübnis und Gewissensübungen in ihnen wach, und zwar in wunderbarer Weise. Jahre gingen dahin, und die Brüder hätten sich einbilden können, daß alles in bester Ordnung sei. Dann aber kamen "die sieben Jahre des Überflusses und die sieben Jahre der Hungersnot". Was bedeuteten sie? Von wem kamen sie, und was war ihr Zweck? Wie wunderbar und unausforschlich ist die Weisheit Gottes! Die Hungersnot erreicht das Land Kanaan, und der Hunger bringt die schuldigen Brüder nach Ägypten, vor die Füße dessen, den sie mißhandelt hatten. Wie deutlich zeigt sich darin die Hand Gottes! Da stehen sie, in ihren Gewissen überführt und von einem tiefen Schuldbewußtsein erfüllt, in der Gegenwart des Mannes, den sie in die Grube geworfen hatten. In der Tat, ihre Sünde hatte sie gefunden, aber gefunden in der Gegenwart Josephs. Gesegneter Platz!

 

"Da konnte Joseph sich nicht mehr bezwingen vor allen, die um ihn standen, und er rief: Laßt jedermann von mir hinausgehen! Und es stand niemand bei ihm, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab" (Kap. 45, 1). Keinem Fremden wurde gestattet, Zeuge dieser Begeben­heit zu sein, denn welcher Fremdling hätte sie verstehen können? Wir dürfen hier in eine von Gott gewirkte Sünden‑Überführung in Gegen­wart göttlicher Gnade sehen, und wenn diese beiden Dinge sich begeg­nen, ist bald jede Frage geordnet.

 

"Da sprach Joseph zu seinen Brüdern: Tretet doch zu mir her! Und sie traten herzu. Und er sprach: Ich bin Joseph, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun betrübet euch nicht, und es entbrenne nicht in euren Augen, daß ihr mich verkauft habt; denn zur Erhaltung des Lebens hat Gott mich vor euch hergesandt ... Und Gott hat mich vor euch hergesandt, um euch einen Überrest zu setzen auf Erden, und euch am Leben zu erhalten für eine große Errettung. Und nun, nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott." Das ist wirklich Gnade, eine Gnade, die das überführte Gewissen vollkommen zur Ruhe bringt. Da die Brüder sich selbst schon vorbehaltlos verurteilt hatten, konnte Joseph ihren traurigen Herzen wieder Frieden geben. Hier sehen wir ein schönes Bild von dem, was Gott mit Israel tun wird in den letzten Tagen, wenn sie auf ihn blicken, "den sie durchbohrt haben" und wenn sie "über ihn wehklagen" werden. Dann werden sie die Wirklichkeit der Gnade Gottes erfahren, sowie die reinigende Kraft des Quells, der dem Hause Davids und den Bewohnern von Jerusalem geöffnet sein wird für Sünde und für Unreinigkeit (Sach. 13, 1).

 

In Apostelgeschichte 3 finden wir, wie der Geist Gottes in Petrus be­müht ist, diese Überführungen in den Gewissen der Juden hervorzu­rufen. "Der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs, der Gott unserer Väter, hat seinen Knecht Jesus verherrlicht, den ihr überliefert und an­gesichts des Pilatus verleugnet habt, als dieser geurteilt hatte, ihn loszugeben. Ihr habt den Heiligen und Gerechten verleugnet und gebeten, daß euch ein Mann, der ein Mörder war, geschenkt würde; den Urheber des Lebens aber habt ihr getötet, welchen Gott aus den Toten aufer­weckt hat, wovon wir Zeugen sind." Diese Worte hatten den Zweck, den Juden das Bekenntnis der Brüder Josephs in den Mund zu legen: "Fürwahr, wir sind schuldig!" Dann fügt die Gnade hinzu: "und jetzt, Brüder, ich weiß, daß ihr in Unwissenheit gehandelt habt, gleich­wie eure Obersten. Gott aber hat also erfüllt, was er durch den Mund aller Propheten zuvor verkündigt hat, das sein Christus leiden sollte. So tut nun Buße und bekehret euch, daß eure Sünden ausgetilgt werden, damit Zeiten der Erquickung kommen vom Angesicht des Herrn." Wir sehen hier zunächst, daß die Juden in der Ermordung Christi tatsächlich der Feindschaft ihres Herzens freien Lauf gelassen hatten, wie die Brüder in ihrem Verhalten gegenüber Joseph. Zugleich aber äußert sich die Gnade Gottes gegenüber jedem einzelnen von ihnen darin, daß alles als von Gott zu ihrem Segen verordnet und zuvor verkündigt dargestellt wird. Das ist eine vollkommene Gnade, die alle menschlichen Begriffe übersteigt, und um sich dieser Gnade erfreuen zu können, ist nichts anderes nötig als ein durch die Wahrheit Gottes wirklich überführtes Gewissen. Diejenigen, die sagen konnten: "Fürwahr, wir sind schuldig!" konnten auch die kostbaren Worte der Gnade verstehen: "Nicht ihr habt mich hierher gesandt, sondern Gott". Die Seele, die das Verdam­mungsurteil über sich gefällt hat, ist imstande, das vergebende Erbar­men Gottes zu verstehen und zu würdigen.

 

teil. Seine einsichtsvolle Antwort an seinen weniger kundigen Sohn lautet: "Ich weiß es, mein Sohn, ich weiß es". Die Macht der Vernunft und der natürlichen Gefühle hat nicht, wie bei Isaak, sein geistliches Auge verdunkelt. Er hat in der Schule der Erfahrung gelernt, sich fest an den Vorsatz Gottes zu klammern, und kein Einfluß der Natur kann ihn davon abbringen.

 

Kapitel 46‑50

 

JAKOBS LETZTE TAGE

 

Die letzten Kapitel (46‑50) unseres Buches handeln von dem Zug Jakobs und seiner Familie nach Ägypten und von ihrer Ansiedlung dort, ferner von den Handlungen Josephs während der übrigen Jahre der Hungersnot sowie von der Segnung der zwölf Patriarchen durch Jakob und von seinem Tod und Begräbnis. Wir werden bei den Einzelheiten dieser Ereignisse nicht länger stehenbleiben, obwohl sie dem geist­lich gesinnten Menschen ein weiteres Gebiet für gesegnete Betrachtun­gen bieten.

 

(Das Ende von Jakobs Lebensweg bildet einen erfreulichen Gegensatz zu allen früheren Szenen seiner ereignisreichen Geschichte. Es erinnert an einen heiteren Abend nach einem stürmischen Tage: Die Sonne, die während des Tages hinter Wolken und Nebel verborgen war, geht in majestätischem Glanz unter, wobei sie mit ihren Strahlen den Himmel vergoldet und einen schönen Morgen verheißt. So ist es mit Jakob. Das Überlisten und Feilschen, das Überlegen und Planen, die ungläubigen, selbstsüchtigen Befürchtungen und Sorgen, alle diese finsteren Wolken der Natur scheinen verschwunden zu sein, und Jakob tritt in der ganzen Hoheit des Glaubens auf, um Segen auszuteilen und Würden zu ver­leihen, gemäß der heiligen Erkenntnis, die man nur in der Gemeinschaft mit Gott erlangt.

 

Wenn auch die Augen schwach geworden sind, der Blick des Glaubens ist scharf. Jakob läßt sich nicht täuschen bezüglich der Stellungen, die für Ephraim und Manasse in den Ratschlüssen Gottes bestimmt waren. Er braucht nicht, wie sein Vater Isaak in Kapitel 27, "über die Maßen" zu erschrecken über einen beinahe verhängnisvollen Irrtum. Im Gegenteil. Seine einsichtsvolle Antwort an seinen weniger kundigen Sohn lautet: „ Ich weiß es, mein Sohn, ich weiß es“. Die Macht der Vernunft und der natürlichen Gefühle hat nicht, wie bei Isaak. sein geistliches Auge verdunkelt. Er hat in der Schule der Erfahrung gelernt, sich fest an den Vorsatz Gottes zu klammern, und kein Einfluß der Natur kann ihn davon abbringen.

 

Kapitel 48, 11 gibt uns ein sehr schönes Beispiel von der Art und Weise wie Gott sich über alle unsere Gedanken erhebt und sich über alle unsere Befürchtungen erhaben erweist. "Und Israel sprach zu Joseph: Ich hatte nicht gedacht, dein Angesicht wiederzusehen, und siehe Gott hat mich sogar deinen Samen sehen lassen!" Nach Ansicht der Natur war Joseph tot, aber Gott sah ihn lebendig und den höchsten Platz der Autorität nach dem Throne einnehmen. "Was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist", das hat Gott denen bereitet, die Ihn lieben (i. Kor. 2, 9). Möchten unsere Seelen tiefer in das Verständnis Gottes und Seiner Wege eindringen!

 

Es ist interessant, wie die Titel "Jakob" und "Israel" am Ende des ersten Buches Mose gebraucht werden. Wir lesen z. B. im 48. Kapitel: "Und man berichtete dem Jakob und sprach: Siehe, dein Sohn Joseph kommt zu dir. Und Israel machte sich stark und setzte sich aufs Bett". Und in unmittelbarer Verbindung damit heißt es: "Und Jakob sprach zu Joseph: Gott, der Allmächtige, erschien mir zu Lus im Lande Kanaan". Nun wissen wir, daß nichts in der Schrift bedeutungslos ist, und daß deshalb dieser Wechsel der Namen eine Belehrung für uns enthalten muß. Im allgemeinen drückt der Name "Jakob" die Tiefe aus, bis zu der Gott herabgestiegen ist, und "Israel" die Höhe, zu der Jakob erhoben wurde.)

 

Wir sehen die grundlosen Befürchtungen Jakobs beim Anblick seines lebenden und hoch erhobenen Sohnes zerstreut. Wir sehen, wie die Gnade Gottes in großer Macht herrscht und alles lenkt, obwohl sie un­verkennbar auch mit Gericht verbunden ist, weil die Söhne Jakobs gerade an den Ort ziehen müssen, wohin sie ihren Bruder gesandt hatten. Wir sehen außerdem, wie die Gnade das ganze Leben lang in Joseph wirkt: obgleich er durch den Pharao erhöht ist, tritt er doch selbst zurück und verbindet das Volk durch eine bleibende Verpflichtung mit dem König. Der Pharao sagt: "Geht zu Joseph!" während Joseph ihnen durch sein Tun zu verstehen gibt: "Alles was ihr habt und seid, gehört dem Pharao". Alle diese Dinge sind sehr interessant und zeigen der Seele die herrliche Zeit, wenn der Sohn des Menschen nach Gottes Beschluß die Zügel der Regierung in Seine Hand nehmen und über die ganze versöhnte Schöpfung regieren wird, wobei die Versammlung, die Braut des Lammes, nach den ewigen Ratschlüssen Gottes den Platz der engsten Gemeinschaft an Seiner Seite einnimmt. Das völlig wieder­hergestellte Haus Israel wird dann durch Seine gnädige Hand genährt und aufrechterhalten werden, und die ganze Erde wird das Glück kennen, sich unter Seinem Szepter zu befinden. Und schließlich, wenn Er sich alle Dinge unterworfen hat, wird Er die Regierung wieder den Händen Gottes übergeben, auf daß "Gott alles in allem sei" (1. Kor. 15,28).

 

Hieraus können wir uns eine Vorstellung von der reichen Fülle machen, die die Geschichte Josephs in bildlicher Form enthält. Gott zeigt uns darin, um es noch einmal kurz zusammenzufassen, die Sendung des Sohnes an das Haus Israel, Seine Erniedrigung und Verwerfung, die tiefen Seelenübungen und schließlich die Buße und Wiederherstellung des Volkes Israel, dann die Vereinigung der Kirche mit Christus, Seine Erhöhung und Seine allgemeine Regierung. Und zuletzt lenkt Er unsere Blicke vorwärts auf die gesegnete Zeit, wenn Er selbst "alles in allem sein wird".

 

Es ist fast überflüssig zu bemerken, daß alle diese Dinge in der ganzen Heiligen Schrift ausführlich gelehrt und geoffenbart werden. Wir gründen deshalb ihre Wahrheit nicht auf die Geschichte Josephs. Aber doch bringt es viel Freude, schon in alten Zeiten diese kostbaren Wahr­heiten dargestellt zu finden. Es beweist uns die göttliche Einheit der Heiligen Schrift. Ob wir uns mit dem ersten Buch Mose oder mit dem Brief an die Epheser, mit den Propheten des Alten oder denen des Neuen Testaments beschäftigen, überall finden wir dieselben Wahr­heiten. Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtig­keit, auf daß der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werke völlig geschickt" (2. Tim. 3, 16. 17).