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Hebraeerbrief Walvoord

Hebräer (Zane C. Hodges)


EINFÜHRUNG


Der Brief an die Hebräer ist sowohl vom Umfang als auch von seinem Inhalt her einer der wichtigsten Briefe des neutestamentlichen Kanons. Er konzentriert sich in einzigartiger Weise auf die Person und das Werk Jesu Christi und leistet damit einen theologisch unschätzbaren Beitrag zur Lehre von der Inkarnation, dem stellvertretenden Tod Christi und seiner Priesterschaft. Daneben bezieht er Stellung zum Verhältnis zwischen dem Neuen und dem Alten Bund, zur Auslegung des Alten Testaments und zum Glaubensleben. Es wäre in der Tat ein unersetzlicher Verlust für die Kirche, wenn die Ausführungen dieser Schrift verlorengegangen wären.

Doch trotz seines unleugbaren Wertes wissen wir wenig Sicheres über Anlaß, Hintergrund und Verfasserschaft des Schreibens. Die Unklarheit in diesen Punkten beeinträchtigt das Verständnis der Botschaft des Briefes jedoch nicht ernstlich. Diese Botschaft bleibt zeitlos gültig, ganz gleich, unter welchen Umständen sie entstanden ist.


Datierung


Wenn man sich mit dem Hintergrund des Hebräerbriefes auseinandersetzen will, ist es sinnvoll, mit der Datierungsfrage zu beginnen, die immerhin mit einiger Gewißheit beantwortet werden kann. Da der Brief bereits Clemens von Rom bekannt war und von ihm im 1. Clemensbrief zitiert wurde, kann er kaum später als etwa um das Jahr 95 n. Chr. entstanden sein. Außerdem enthält er keinerlei Hinweise auf die Zerstörung des Tempels in Jerusalem, muß also eigentlich vor dem Jahr 70 n. Chr. geschrieben sein. Wenn

dieses einschneidende Ereignis bereits eingetreten wäre, hätte es dem Verfasser ein definitives Argument für die Abkehr vom alttestamentlichen Opfersystem geliefert. So aber scheint er davon auszugehen, daß dieses System noch intakt war (vgl. Hebr 8,4.13;9,6-9;10,1-3 ).

Es besteht kein Anlaß, Hebr 2,3 als Hinweis auf Christen der zweiten Generation zu verstehen, zumal der Brief ganz offensichtlich zu Lebzeiten von Timotheus geschrieben wurde, den der Autor persönlich kannte ( Hebr 13,23 ). Wenn nicht Paulus der Verfasser des Briefes ist (und es hat insgesamt den Anschein, daß er es nicht ist; vgl. auch die folgende Erörterung zur Verfasserfrage ), dann legt Hebr 13,23 möglicherweise die Annahme nahe, daß der Apostel bereits gestorben war, denn sonst wäre zu erwarten gewesen, daß sich ihm Timotheus nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis angeschlossen hätte. Wenn man alle diese Punkte in Rechnung stellt, so scheint eine Abfassungszeit um das Jahr 68 oder 69 n. Chr. am wahrscheinlichsten.



Verfasserfrage


Viele Namen sind in die Diskussion um die Verfasserschaft des Hebräerbriefes geworfen worden, doch die Frage nach dem wirklichen Briefschreiber bleibt ungeklärt. Die Überlieferungslinie, nach der Paulus als Verfasser des Briefes gilt, ist sehr alt und wurde nie gänzlich widerlegt. Seit der Zeit des Pantänus (er starb ca. 190 n. Chr.) herrschte in Alexandria die Überzeugung, daß der Brief paulinischer Herkunft sei. Clemens von

Alexandria ging davon aus, daß Paulus

ihn ursprünglich auf hebräisch geschrieben und Lukas ihn dann ins Griechische übertragen habe.

Origenes zweifelte aus stilistischen Gründen an einer paulinischen Verfasserschaft, setzte aber andererseits die Tradition nicht außer Kraft. In einer berühmten Äußerung räumte er ein, daß Gott allein wissen könne, wer den Text verfaßt habe.

Die Überzeugung, daß Paulus der Verfasser des Hebräerbriefes sei, hielt sich besonders lange im Osten. Hieronymus und Augustinus haben diese Theorie dann im Westen bekannt gemacht. In neuerer Zeit war man allgemein der Ansicht, daß der Stil und bestimmte innere Merkmale des Hebräerbriefes Paulus als Autor ausschließen. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, daß Argumente, die auf derartigen Überlegungen basieren, immer subjektiv bleiben und in anderen Fällen auch als Beweis für völlig unhaltbare Thesen herangezogen werden. Dennoch ist einzuräumen, daß der Hebräerbrief, wenn man ihn im Griechischen liest und mit den anderen bekannten Paulusbriefen vergleicht, den Eindruck vermittelt, daß man es hier mit einem Verfasser zu tun hat, der in theologischer Hinsicht zwar eindeutig eine gewisse Nähe zu Paulus aufweist, sich aber in verschiedenen Feinheiten wieder gänzlich von ihm unterscheidet. Dieser subjektive Eindruck hätte sich allerdings wohl kaum durchgesetzt, wenn die frühe kirchliche Überlieferung nur Paulus als möglichen Verfasser erwähnt hätte.

Der andere Name, mit dem der Brief schon früh in Verbindung gebracht wird, ist der des Barnabas, mit dem Paulus zu Anfang seiner missionarischen Tätigkeit zusammenarbeitete. Diese Überlieferung findet sich zuerst im Westen bei Tertullian (ca. 160/170 - 215/220 n. Chr.). In einer polemischen Passage zitiert er aus dem Hebräerbrief und gibt als Quelle einen Brief von Barnabas an. Es hat dabei nicht den Anschein, als ob er nur seine eigene Meinung wiedergibt, sondern als würde er auf eine Tatsache verweisen, die seinen Lesern ebenso bekannt ist wie ihm. Die Sicht, daß Barnabas den Hebräerbrief schrieb, wurde später von Hieronymus übernommen und taucht bei Gregor von Elvira und Philastrius wieder auf, beides Schriftsteller des 4. Jahrhunderts. Es gibt Grund zu der Annahme, daß der Hebräerbrief unter dem Namen "Barnabasbrief" in das alte Verzeichnis der kanonischen Schriften im Kodex Claremontanus aufgenommen wurde.

Der Brief selbst bietet zwar nicht viele Anhaltspunkte, doch die Tatsache, daß er aus dem Westen kam, ist möglicherweise signifikant. Der einzige geographische Hinweis im Hebräerbrief deutet auf Italien ( Hebr 13,24 ), und wenn stimmt, was die Überlieferung von Barnabas sagt, so wäre es nicht überraschend, daß der Brief aus diesem Teil der antiken Welt kam. Doch auch in anderer Hinsicht erfüllt Barnabas die Anforderungen, die an den Verfasser des Hebräerbriefes zu stellen sind. Da er Levit war ( Apg 4,36 ), wäre das Interesse am levitischen System, das der Verfasser des Hebräerbriefes an den Tag legt, für ihn nicht ungewöhnlich. Außerdem war er eng mit Paulus verbunden, was Berührungspunkte des Hebräerbriefes mit dem paulinischen Gedankengut erklären würde. Timotheus war in dem Gebiet bekehrt worden, das Paulus auf seiner zweiten Missionsreise durchzog ( Apg 16,1-3 ), und war Barnabas deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach bekannt. Wenn Paulus zur Zeit der Abfassung des Hebräerbriefes bereits tot war, so wäre es durchaus verständlich, daß Timotheus sich an seinen früheren Gefährten Barnabas anschloß ( Hebr 13,23 ). Der theologische Streit zwischen Paulus und Barnabas ( Apg 15,37-39 ) war längst beigelegt, und Paulus selbst hatte später mit Wärme von Barnabas' Vetter Markus gesprochen (vgl. Kol 4,10; 2Tim 4,11 ).

Natürlich läßt sich die Verfasserschaft des Barnabas genausowenig endgültig beweisen, wie sich die des Paulus endgültig widerlegen läßt. Trotzdem hat diese Annahme mehr für sich als die Thesen, die an ihrer Statt geäußert wurden. So wurden von Zeit zu Zeit die Namen Clemens, Lukas, Silvanus, Philipp der Evangelist, Priszilla und Apollos als mögliche Verfasser ins Gespräch gebracht, wobei besonders Apollos bei modernen Forschern Zustimmung fand. Häufig wird diese These auf Martin Luther zurückgeführt, doch die Belege dafür sind wenig stichhaltig und können nicht auf eine so lange Stützung durch die Tradition zurückblicken wie die Annahme, daß der Hebräerbrief von Barnabas geschrieben wurde. So erscheint diese denn letztlich als der plausibelste Vorschlag. Wenn der Hebräerbrief tatsächlich von Barnabas verfaßt wurde, dann kann er apostolische Autorität für sich in Anspruch nehmen, denn Barnabas wurde als Apostel bezeichnet ( Apg 14,14 ). Die göttliche Autorität des Briefes aber wird schon aus ihm selbst deutlich.


Hintergrund und Umfeld des Briefes


Die Identität der Adressaten des Hebräerbriefes bleibt ebenso im Dunkel wie sein Verfasser. Sie gehörten allerdings, wie an verschiedenen Beobachtungen deutlich wird, fraglos einer speziellen Gemeinschaft an. So hatten die Leser eine bestimmte Geschichte, auf die der Briefschreiber mit dem Hinweis auf ihre "früheren Tage" Bezug nahm ( Hebr 10,32-34 ); er wußte von ihren früheren und gegenwärtigen Liebesdiensten für andere Christen ( Hebr 6,10 ); und schließlich war er detailliert über ihre momentane geistliche Verfassung informiert ( Hebr 5,11-14 ). Offenbar bestand zwischen dem Briefschreiber und seinen Adressaten eine wirkliche Verbindung, denn er äußert in seinem Schreiben die Absicht, sie - vielleicht zusammen mit Timotheus - zu besuchen ( Hebr 13,19.23 ), und bittet um ihre Fürbitte ( Hebr 13,18 ).

Aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Leser des Briefes größtenteils stark jüdisch geprägt. Dafür spricht trotz aller Einwände, die gegen diese Annahme erhoben wurden, der ganze Inhalt des Briefes. Die Überschrift "an die Hebräer" war zwar sicherlich nur eine spätere Hinzufügung, doch sie paßt zum Tenor des Schreibens. Wenn man davon ausgeht, daß alles, was in diesem Text gesagt wird, auf eine heidnische Leserschaft zugeschnitten ist, so kommt man doch nicht an der Tatsache vorbei, daß die starke Betonung jüdischer Vorstellungen und die massive Polemik des Verfassers gegen das Fortbestehen des levitischen Systems sich am besten erklären läßt, wenn man davon ausgeht, daß seine Leser vom jüdischen Denken herkommen und in Gefahr sind, in ihren alten Glauben zurückzufallen. Auch die mit zahlreichen Beispielen untermauerte Berufung auf die Autorität des Alten Testaments ergibt am ehesten einen Sinn bei Lesern, die mit diesen Schriften großgeworden sind.

Über die geographische Lage der Gemeinde, der die Leser angehörten, läßt sich nichts Bestimmtes sagen. Die Annahme, Apollos habe den Brief an die Gemeinden im Lykustal (wo auch Kolossä lag) oder nach Korinth geschrieben, läßt sich nicht von der Position trennen, die man in der Verfasserfrage einnimmt. So gibt es auch Anhänger der These, daß die Leser eine Enklave innerhalb der römischen Kirche bildeten. Abgesehen von dem Hinweis auf "die Brüder aus Italien" deutet allerdings nicht viel auf Rom als Bestimmungsort des Briefes. Wenn man davon ausgeht, daß Barnabas sein Verfasser war, bietet sich Zypern als Heimat der Adressaten an, da Barnabas selbst Zypriote war. Keine dieser Hypothesen ist jedoch letztlich überzeugend.

In neuerer Zeit hat die Ansicht, der Brief sei nach Palästina gerichtet gewesen, einige Bestärkung durch die Beobachtung erfahren, daß die Polemik des Verfassers am ehesten verständlich wird, wenn man davon ausgeht, daß er sich gegen eine bestimmte sektiererische Form des Judentums wandte, wie sie etwa in Qumran praktiziert wurde. Tatsächlich ergeben sich in diesem Zusammenhang viele interessante und eindrückliche Parallelen, auf die im Laufe des Textkommentars eingegangen werden soll. Besonders das Bestreben des Autors zu zeigen, daß die Wüstenerfahrung des alten Israel eine Zeit des Unglaubens und des geistlichen Versagens war, kann als Pointe, wenn nicht als direkter Angriff gegen Sektierer wie die Angehörigen der Qumran-Sekte, die den Rückzug in die Wüste idealisierten, verstanden werden. Wenn die Daten, die für eine Verbindung des Hebräerbriefes mit sektiererischem Gedankengut sprechen, auch nicht jeden gleichermaßen überzeugen, so tragen sie doch auf jeden Fall zu einer Stützung der These von einem palästinischen Bestimmungsort des Briefes bei.

Doch auch diese Theorie bietet gewisse Schwierigkeiten. Zum einen paßt die Äußerung, daß die Leser ihr Wissen vom Herrn von Leuten bezogen, die ihn persönlich gehört haben ( Hebr 2,3 ), besser zu einer Gemeinde, in der Mission betrieben wurde. In Palästina und besonders in Jerusalem dagegen könnten viele Christus selbst begegnet sein. Außerdem klingt der Hinweis auf die Freigebigkeit der Adressaten gegenüber den Armen ( Hebr 6,10 ) nicht nach der Gemeinde in Jerusalem, die später selbst in großer Armut lebte (vgl. Apg. Hebr 11,27-29; Gal 2,10 ). Wenn der Satz von Hebr 12,4 so zu verstehen ist, daß es in der Gemeinschaft, die der Verfasser des Hebräerbriefes anspricht, bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Märtyrer gab, so ist Palästina oder zumindest Jerusalem als Bestimmungsort ohnehin auszuschließen. Es wäre aber auch denkbar, daß lediglich von der speziellen Gruppe, die der Briefschreiber ansprach, noch kein solches Opfer verlangt worden war.

Wenn Barnabas der Verfasser des Briefes war, so kämen als mögliche Adressaten, auf die alle Bedingungen zutreffen, die Christen in der alten libyschen Stadt Kyrene in Nordafrika in Frage. Kyrene wurde um 630 v. Chr. als griechische Kolonie gegründet, beherbergte zur Zeit der römischen Herrschaft aber auch eine vielköpfige und einflußreiche jüdische Gemeinde. Es scheint dort schon sehr früh Christen gegeben zu haben, denn die Kirche von Antiochia in Syrien war von Missionaren, die aus Zypern und Kyrene kamen, gegründet worden ( Apg 11,20 ). Die Verbindung zwischen Zypern und Kyrene ist im Hinblick auf Barnabas' zypriotische Herkunft besonders interessant. Zwei seiner Mitarbeiter, mit denen er später in der antiochenischen Kirche Dienst tat, waren "Simeon, genannt Niger", und "Luzius von Kyrene" ( Apg 13,1 ). Der Beiname Simeons bedeutet "schwarz", er stammte also möglicherweise wie sein Gefährte Luzius aus Nordafrika. Ob dieser Simeon mit dem Simon, der Jesu Kreuz trug ( Lk 23,26 ), identisch war, ist unklar, doch auch letzterer stammte aus Kyrene. Simon hatte zwei Söhne, Alexander und Rufus ( Mk 15,21 ), die in der römischen Gemeinde bekannt waren, falls das Markusevangelium dort zuerst verkündet wurde. Auf jeden Fall bestanden höchstwahrscheinlich Kontakte zwischen den Christen der libyschen Stadt Kyrene und Christen in Rom und in Italien. Das würde auch den Hinweis auf die "Brüder aus Italien" in Hebr 13,24 rechtfertigen.

Wenn man den Parallelen zu einem jüdischen Sektierertum, das den Rückzug in die Wüste favorisierte, eine gewisse Bedeutung beimessen will, dann mag auch die Tatsache, daß Kyrene am Rand einer von Nomaden bevölkerten Wildnis lag, recht aufschlußreich sein. Die Hinweise des Verfassers auf das griechische Wort oikoumenE (in Hebr 1,6 und Hebr 2,5 mit "Welt" wiedergegeben) würden im Zusammenhang mit Kyrene einen besonderen Klang erhalten. Im allgemeinen bezeichnete das Wort das Römische Reich und die Grenzen der römischen oikoumenE nach Süden, nicht weit von Kyrene. Da es unwahrscheinlich ist, daß die Motivation, sich aus dem städtischen Leben und der korrupten jüdischen Gesellschaft zurückzuziehen, sich allein auf Palästina beschränkte, wäre es nicht überraschend, wenn es auch in der Wüste um Kyrene Enklaven von Sektierern gegeben hätte. Von Philo wissen wir zum Beispiel, daß eine asketische jüdische Sekte sich an den Gestaden eines Sees nahe bei Alexandria in Ägypten niedergelassen hatte.

Wenn man das Für und Wider abwägt, erscheint als wahrscheinlichster Adressat des Briefes an die Hebräer eine christliche Gemeinde mit einem hohen Anteil an jüdischen Mitgliedern in einer Stadt wie Kyrene. Unter dem Druck ihrer nicht zum christlichen Glauben übergetretenen ehemaligen jüdischen Glaubensbrüder sahen sie sich ständig der Versuchung ausgesetzt, ihrem christlichen Bekenntnis abzuschwören und zum Glauben ihrer Väter zurückzukehren. Besondere Relevanz gewinnen die Aussagen des Briefschreibers - wie der Kommentar zeigen wird -, falls es sich dabei um die besondere Ausprägung des jüdischen Glaubens, wie wir sie aus Qumran kennen, handelte. Der Hebräerbrief besitzt große Plausibilität als Entgegnung auf die Versuchung, sich aus dem bürgerlichen Leben in ein Leben in der Wildnis zurückzuziehen.

Der Herr Jesus ist als Herrscher über die oikoumenE ( Hebr 2,5 ) gesetzt, und all jene, die sich treu zu ihm bekennen, werden an dieser Herrschaft teilhaben (vgl Hebr 12,28 ), wenn sie fest an ihrem christlichen Bekenntnis festhalten.

Letztlich ist die Identifizierung der Adressaten des Briefes genauso von zweitrangiger Bedeutung wie die Identität seines Verfassers. Unabhängig davon, wer ihn geschrieben hat oder wohin er ursprünglich gesandt wurde, hat die christliche Kirche ihn zu Recht durch die Jahrhunderte als eine mächtige und gültige Botschaft von Gott betrachtet, der sich in seinem Sohn definitiv offenbart hat.



GLIEDERUNG


I. Prolog ( 1,1-4 )

II. Teil I: Der König-Sohn Gottes ( 1,5-4,16 )

     A. Der erhöhte König-Sohn( 1,5-14 )
     B. Die erste Warnung ( 2,1-4 )
     C. Der König-Sohn als vollkommener "Anfänger des Heils" ( 2,5-18 )
          1. Das Schicksal des "Anfänger des Heils" ( 2,5-9 )
          2. Die Verbundenheit des "Anfänger des Heils" mit seinen Anhänger ( 2,10-18 )

     D. Die zweite Warnung ( Kap.3-4 )
          1. Der Aufruf zur Treue ( 3,1-6 )
          2. Das warnende Beispiel Israels ( 3,7-4,11 )
          3. Gottes Wort und der Gnadenthron ( 4,12-16 )

III. Teil II: Der Priester-Sohn Gottes ( Kap.5-10 )

     A. Einführung: Der rechte Hohepriester ( 5,1-10 )
          1. Die Anforderungen an einen Hohenpriester ( 5,1-4 )
          2. Die Berufung des Sohnes zur Hohenpriesterschaft ( 5,5-10 )

     B. Die drite Warnung ( 5,11-6,20 )
          1. Das Problem der geistlichen Unreife ( 5,11-14 )
          2. Die Lösung des Problems ( 6,1-3 )
          3. Die Alternative zum geilichen Wachstum ( 6,4-8 )
          4. Eine abschließende Ermutigung ( 6,9-20 )

     C. Der größere Priester und sein größeres Amt ( 7,1-10,18 )
          1. Der höhere Priester ( Kap.7 )
               a. Die Größe Melchisedeks ( 7,1-10 )
               b. Die neue Priesterschaft ( 7,11-19 )
               c. Die Überlegenheit der neuen Priesterschaft ( 7,20-28 )

          2. Der höhere Dienst ( 8,1-10,18 )
               a. Einführung in den höhere Dienst ( 8,1-6 )
               b. Der höhere Bund ( 8,7-9,15 )
               c. Das höhere Opfer ( 9,16-28 )
               d. Die Wirkung des einmaligen Opfers ( 10,1-18 )

     D. Die vierte Warnung ( 10,19-39 )
          1. Seelsorgerliche Ermahnung ( 10,19-25 )
          2. Erneute Warnung ( 10,26-31 )
          3. Erneuter Zuspruch ( 10,32-39 )

IV. Teil III: Die Antwort des Glaubens ( Kap.11-12 )

     A. Das Leben des Glaubens ( Kap.11 )
          1. Prolog ( 11,1-3 )
          2. Die Annahme des Glaubens ( 11,4-6 )
          3. Verschiedene Beispiele für Glabensrafhrung ( 11,7-40 )

     B. Die letzte Warnung ( Kap.12 )
          1. Einleitende Ermahnung ( 12,1-2 )
          2. Ermutigung zu standhaftem Ausharren ( 12,3-11 )
          3. Aufruf zu geistlicher Erneuerung ( 12,12-17 )
          4. Die Warnung ( 12,18-29 )

V. Epilog ( Kap.13 )



AUSLEGUNG


I. Prolog
(
1,1-4 )


In einem beeindruckenden Einleitungsabschnitt konfrontiert der Verfasser des Briefes seine Leser sogleich mit der alles übersteigenden Größe des Herrn Jesus Christus. Der Sohn, so erklärt er, ist der Träger der göttlichen Offenbarung schlechthin. Dabei hebt er Jesus implizit von den alttestamentlichen Propheten und explizit von den Engeln ab.



Hebr 1,1-2 a


In diesem Satz steht bereits die zentrale Aussage des ganzen Prologes. Nachdem Gott sich vorzeiten auf ganz verschiedene Weise ( polymerOs kai polytropOs ) vielfach und auf vielerlei Weise offenbart hat, hat die alttestamentliche Prophetie nun ihren abschließenden Höhepunkt in Gottes Sohn gefunden. Wie hoch die Adressaten des Briefes alle früheren Offenbarungen auch einschätzen mögen, nun müssen sie, so die implizite Aufforderung, sich in erster Linie auf den Sohn konzentrieren.



Hebr 1,2-4 (Hebr 1,2b-4)


In einer Reihe von Nebensatzkonstruktionen, die im Griechischen einen einzigen Satz bilden, beschreibt der Verfasser die Herrlichkeit des Sohnes. Zuallererst ist der Sohn der designierte Erbe über alles (V. 2 b), wie es ihm - der ja auch alles geschaffen hat ( durch den er auch die Welt gemacht hat , tous aiOnas , wörtlich "die Zeitalter"; hier und in Hebr 11,3 mit "die Welt" übersetzt) - zukommt. Der Verweis auf das Erbe des Sohnes nimmt bereits den Gedanken an seine zukünftige Herrschaft vorweg, auf die der Verfasser später ausführlich eingeht.

Doch der, der sowohl Schöpfer als auch Erbe ist, ist zugleich auch ein vollkommenes Abbild des Gottes, der in ihm gesprochen hat. Sein Wort ist so kräftig , daß alles, was er erschaffen hat, durch dieses Wort erhalten wird. Dieser Gott hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe (vgl. Hebr 8,1;10,12;12,2 ). Damit hat er eine Stellung weit über der eingenommen, die den Engeln gebührt.

Wie man es in einem Prolog erwartet, spricht der Briefschreiber hier Gedanken an, die bei der Entfaltung der Thematik seines Briefes eine wichtige Rolle spielen. Er geht davon aus, daß die Offenbarung Gottes im Sohn einen endgültigen Charakter hat, der aller früheren Offenbarung fehlte. Das Sühnopfer, das von einem solchen Menschen gebracht wird, muß zwangsläufig größer sein als alle anderen Opfer. Die Größe des Sohnes macht die Beschäftigung mit der Bedeutung irgendwelcher Engelwesen vollkommen überflüssig. Der Prolog des Hebräerbriefes enthält zwar keine Warnung - die spart der Verfasser sich für später auf -, aber er übermittelt eine implizite Mahnung: Das ist Gottes über alles erhabener Sohn; hört auf ihn (vgl. Hebr 12,25-27 )!



II. Teil I: Der König-Sohn Gottes
(
1,5 - 4,16 )


An dieser Stelle beginnt der erste größere Hauptteil des Briefes, der sich schließlich in Hebr 4,14-16 zu einem dramatischen Appell an die Leser steigert, von den Möglichkeiten Gebrauch zu machen, die ihnen mit dem "Thron der Gnade" ( Hebr 4,16 ) angeboten sind. Der Schwerpunkt des ganzen Abschnittes liegt auf der Sohnschaft Jesu Christi, die der Verfasser des Briefes als Königssohnschaft gemäß dem davidischen Bund versteht.



A. Der erhöhte König-Sohn
(
1,5 - 14 )


Gestützt auf das Zeugnis der alttestamentlichen Offenbarung, führt der Briefschreiber seinen Lesern die Einzigartigkeit des Sohnes vor Augen. Der Sohnestitel und die Privilegien, die er mit sich bringt, erhöhen ihn unvergleichlich weit über die Engel. Diejenigen Forscher, die im Hebräerbrief Verbindungen zu bestimmten jüdischen Sekten sehen, weisen an dieser Stelle auf die hochentwickelte Engellehre der Sekte am Toten Meer hin. Dieser ganze Abschnitt stellt eine eindrucksvolle Widerlegung gegen jede Tendenz zu einer übersteigerten Engelverehrung dar.



Hebr 1,5


Die beiden Fragen in diesem Vers machen deutlich, daß der Titel Sohn in einer Art und Weise mit dem Messias verbunden ist, wie er es nie mit irgendeinem "Engelwesen" war. Offenbar ist "Sohn" der höhere Titel, den Jesus "ererbt hat" (V. 4 ). Es geht jedoch klar aus dem Text hervor, daß der Schreiber primär an der besonderen Bedeutung dieses Titels im Zusammenhang mit dem Gedanken des davidischen Königtums interessiert ist.

Das Zitat in Vers 5 a stammt aus Ps 2,7 ,während das Zitat aus Vers 5 b entweder aus 2Sam 7,14 oder aus 1Chr 17,13 ist. Ps 2 ist eine Königshymne, in der Gott den davidischen König als seinen "Sohn annimmt". Daß auch der Verfasser des Hebräerbriefs ihn so auffaßt, bestätigt die Zitation aus dem davidischen Bund in Hebr 1,5 a. Zweifellos verstand der Autor des Briefes das "heute" in der Wendung "heute habe ich dich gezeugt" als eine Anspielung auf den Messias, der zur Rechten Gottes sitzt (vgl. V. 3 ).

Natürlich war der Herr Jesus Christus schon immer der ewige Sohn Gottes. In einem kollektiven Sinn werden zwar auch die Engel im Alten Testament als "Gottessöhne" ( Hi 38,7 ) bezeichnet, den Titel Sohn jedoch versteht der Verfasser des Hebräerbriefes im Sinne des davidischen Erben, der die Vollmacht hat, Gott um die Herrschaft über die ganze Erde zu bitten (vgl. Ps 2,8 ). In dieser besonderen Form gebührt der Titel allein Jesus und nicht den Engeln.



Hebr 1,6


Im folgenden werden die Privilegien dessen, der diesen höchsten Titel trägt, geschildert. Der Satz "wenn er den Erstgeborenen wieder einführt in die Welt" bezieht sich auf den zweiten Advent des Herrn, wo die königlichen Vorrechte des Sohnes in der Anbetung der Engel vor aller Augen offenbar werden (vgl. die korrekte Wiedergabe des Textes von Ps 97,7 in der Septuaginta).



Hebr 1,7-9


Mit zwei gegensätzlichen Zitaten stellt der Briefschreiber die dienende Stellung der Engel (V. 7 ) der ewigen Herrschaft des Sohnes (V. 8 - 9 ) gegenüber. Möglicherweise verstand der Autor - in Einklang mit einer bestimmten jüdischen Vorstellung über die Engel (vgl. 2. Esdras 8,21-22) - den Satz aus Ps 104,4 (zitiert in Hebr 1,7 ) dahingehend, daß die Engel bei der Ausführung der Aufträge, die ihnen Gott erteilt, häufig die flüchtige Gestalt von Winden oder Feuerflammen annahmen. Der Thron des Sohnes ist im Gegensatz dazu ewig und unveränderlich (V. 8 ).

Das Zitat in den Versen 8 - 9 stammt aus Ps 45,7-8 ,in dem der endgültige Sieg des messianischen Königs beschrieben wird. Dieses Zitat ist länger als die vorhergehenden, offenbar deshalb, weil die Aussagen des Psalmisten das, was der Verfasser des Hebräerbriefes seinen Lesern auseinandersetzen will, besonders gut veranschaulichen. Der König, von dem der Psalmist berichtet, hat die Gerechtigkeit (geliebt) und gehaßt die Ungerechtigkeit . Das ist ein Verweis auf die Heiligkeit und den Gehorsam Christi in seinem irdischen Leben - ein Punkt, der später immer wieder aufgegriffen wird (vgl. Hebr 3,1-2;5,7-8;7,26;9,14 ). Der König ist also zu Recht mit Freudenöl gesalbt . Die Wendung "wie keinen deinesgleichen" ( para tous metochous sou ) enthält im Griechischen das in der späteren Erörterung äußerst wichtige Wort metochoi , "Gefährten, Teilhaber" (vgl. Hebr 3,1.14;12,8 ). Im Urtext ist damit bereits angedeutet, daß der König seine Freude und seine Herrschaft nicht allein genießt, sondern dabei möglicherweise Teilhaber hat, die seinem gerechten Leben nacheifern. Dieser ganze Gedankengang wird in Hebr 12,28 noch wesentlich klarer.



Hebr 1,10-12


Die Unwandelbarkeit des König-Sohnes wird durch die folgenden Zitate aus Ps 102,26-28 noch stärker hervorgehoben. Ein einfaches und ( kai ) verbindet sie mit dem Zitat in Hebr 1,8-9 .Es besteht kein Zweifel, daß der Verfasser auch die Worte von Ps 102 auf den Sohn bezog. Der Sohn ist also der Herr, der die Erde und die Himmel geschaffen hat (vgl. Hebr 1,2 ). Doch selbst wenn die Schöpfung sich abgenützt hat wie ein altes Gewand und durch ein neues ausgetauscht wird, wird der Sohn unverändert bleiben. Hier geht es eindeutig um die Verwandlung des Himmels und der Erde nach dem Tausendjährigen Reich, vor dem Eintritt der Ewigkeit ( 2Pet 3,10-13 ). Doch auch nach diesen umwälzenden Ereignissen werden die Jahre des Sohnes nicht aufhören . Das ist sicherlich ein Hinweis auf die Ewigkeit des Herrn. Ebenso wahrscheinlich ist, daß das Wort "Jahre" zugleich auch für alles steht, was sie dem Sohn bringen: den ewigen Thron und das Zepter sowie eine nie endende Freude. Der Verfasser des Hebräerbriefes lehrt damit, daß das Reich des Messias auch die letzte "Erschütterung" der Schöpfung überdauern wird (vgl. Hebr 12,26-28 ).

 

Hebr 1,13-14


Die Ausführungen des Briefschreibers erreichen ihren Höhepunkt in einem letzten alttestamentlichen Zitat, das für das Gedankengut des ganzen Briefes von entscheidender Bedeutung ist. Es stammt aus Ps 110 ,den der Verfasser später bei der Erörterung der Priesterschaft Jesu nach der Ordnung des Melchisedek erneut heranzieht. Hier zitiert er zunächst Vers 1 des Psalms, um den schließlichen Sieg des Sohnes über seine Feinde deutlich zu machen. Wenn dem Sohn ein ewiger Thron bestimmt ist ( Hebr 1,8 ), so muß auch ein solcher Sieg stattfinden. Es ist jedoch sein persönlicher Sieg und nicht der der Engel. Ihre Aufgabe ist lediglich die von dienstbare(n) Geister(n), ausgesandt zum Dienst um derer willen, die das Heil ererben sollen .

Man sollte "Heil" in diesem Zusammenhang nicht automatisch mit der Wiedergeburt des Gläubigen gleichsetzen. Es geht hier im Gegenteil um etwas Zukünftiges, wie sowohl der Kontext als auch die Worte "ererben sollen" zeigen. Man muß also davon ausgehen, daß der Verfasser des Hebräerbriefs auch an dieser Stelle wie im ganzen Brief vom Ethos des Alten Testamentes herkommt, um so mehr, als hier die Anspielungen auf das Alte Testament das Rückgrat seiner Argumentation bilden. Außerdem hat der Begriff "Heil" gerade in der Psalmliteratur, die in diesem Kapitel als hauptsächliche Gewährsquelle angeführt wird, eine ganz bestimmte Bedeutung. Er beschreibt dort immer wieder die Erlösung des Gottesvolkes aus der Unterdrückung durch seine Feinde und den Genuß der göttlichen Segnungen, derer sich das Volk danach erfreut. In der Septuaginta, jener griechischen Übersetzung, die dem Verfasser des Hebräerbriefes besonders vertraut war, wird das Wort "Heil" ( sOtEria ) in eben dieser Bedeutung in Ps 3,3.9; 18,3.36.47.51; 35,3; 37,39; 71,15; 118,14-15.21; 132,16 und an anderen Stellen gebraucht. Sicherlich ist auch an dieser Stelle im Hebräerbrief, wo vom Triumph des Sohnes über seine Feinde die Rede ist, diese Bedeutung von "Heil" gemeint.

Es besteht kaum Zweifel daran, daß die Leser des Hebräerbriefes unter äußerem Druck standen. Sie hatten schon in der Vergangenheit unter Verfolgungen zu leiden gehabt und werden ermahnt, auch weiterhin standhaft zu bleiben ( Hebr 10,32-36 ). Der Verfasser erinnert sie daran, daß der Sieg über alle Feinde dem König Gottes zufallen wird und daß die Engel schon jetzt denen dienen, die dazu bestimmt sind, an diesem Sieg teilzuhaben, d. h., "das Heil zu ererben".

 

B. Die erste Warnung
(
2,1-4 )


An dieser Stelle hält der Briefschreiber inne, um die erste von sechs Warnungen auszusprechen (die übrigen fünferscheinen in Hebr 3-4;5,11-6,20;10,19-39;12 ). Diese erste Warnung ist die kürzeste und knappste, aber nichtsdestoweniger von großer Eindringlichkeit.



Hebr 2,1


Das im vorigen Abschnitt Gesagte enthält wichtige Implikationen für die Leser, wie das einleitende "darum" zeigt. Weil der Sohn so hoch über allem steht und am Ende über alle seine Feinde siegen wird, tun die Leser gut daran, desto mehr auf diese Wahrheiten zu achten. Wenn sie das nicht tun, laufen sie Gefahr, am Ziel vorbei(zu)treiben ( pararyOmen ; ein Wort, das nur an dieser einen Stelle im Neuen Testament vorkommt). Die Adressaten des Hebräerbriefes zeichnen sich offenbar durch geistliche Unreife und Trägheit aus (vgl. Hebr 5,11-12 ), und wenn dieser Zug nicht bekämpft wird, können sie leicht von dem rechten Weg, der ihnen verkündet worden war, abkommen. Vielleicht dachte der Verfasser des Briefes hier an die Übersetzung von Spr 3,21 in der Septuaginta, wo ebenfalls das Wort pararyOmen verwendet ist: "Mein Sohn, laß sie nicht aus deinen Augen weichen, bewahre Umsicht und Klugheit."



Hebr 2,2-4


Da unter dem Alten Bund, der durch das Wirken der Engel zustande kam ( Gal 3,19 ), schwere Strafen für die Übertretungen der Gebote vorgesehen waren, können die Leser nicht einfach voraussetzen, daß die Übertretungen des Neuen Bundes nicht bestraft würden. Im Gegenteil, der Verfasser fragt sie mit trügerischer Leichtigkeit: Wie wollen wir entrinnen (vgl. Hebr 12,25 ), wenn wir ein so großes Heil nicht achten? Wenn die Leser den endgültigen Sieg und die Erlösung, die ihnen im Zusammenhang mit dem persönlichen Sieg des Sohnes verheißen ist, aus dem Blick verlieren, müssen sie mit Vergeltung rechnen. Wie diese Vergeltung aussehen wird, wird nicht gesagt, und der Text bietet keinerlei Anhalt, dabei an die Hölle zu denken. Das Pronomen "wir", das in der ganzen Passage verwendet wird, macht deutlich, daß der Verfasser sich selbst ebenfalls zu jenen rechnet, die die Wahrheit vom Sieg und von der Erlösung nicht vergessen dürfen.

Das "Heil", von dem hier die Rede ist, ist natürlich im gleichen Sinne zu verstehen wie in Hebr 1,14 (vgl. den dortigen Kommentar) und spielt auf die künftige Teilhabe der Leser an der triumphalen Herrschaft des Sohnes an. Jesus selbst sprach, als er auf Erden war, viel von seinem künftigen Reich, an dem seine treuen Anhänger teilhaben sollen (vgl. z. B. Lk 12,31; 22,29-30 ). Doch die Erfahrung dieses Heil(s) ..., das seinen Anfang nahm mit der Predigt des Herrn , war auch durch die verschiedenen Wunder und Manifestationen des Heiligen Geistes bestätigt worden, die die, die es gehört haben , vollbrachten. Der Verfasser des Hebräerbriefes erachtete diese Wunder offenbar als Vorzeichen des kommenden Zeitalters (vgl. Hebr 6,5 ) und sah sie - wie die ersten Christen in der Apostelgeschichte - als Ausdruck der Souveränität dessen, der erhöht worden war, um zur Rechten Gottes zu sitzen (vgl. "Zeichen", "Wunder" und "große Taten" in Apg 2,43; 4,30; 5,12; 6,8; 8,6.13; 14,3; 15,12; vgl. auch 2Kor 12,12 ). Daß der Verfasser tatsächlich immer an die "zukünftige Welt" dachte, wird in Hebr 2,5 ganz deutlich.



C. Der König-Sohn als vollkommener "Anfänger des Heils"
(
2,5 - 18 )


Zu seinem eigentlichen Thema zurückkehrend, befaßt sich der Autor des Hebräerbriefes hier erneut mit der Rolle Jesu in der künftigen Welt. Im vorliegenden Abschnitt geht es dabei in erster Linie um die enge Verbundenheit Jesu mit all denen, die durch seine Menschwerdung an seiner künftigen Macht teilhaben werden.



1. Das Schicksal des "Anfängers des Heils"
(
2,5 - 9 )


Hebr 2,5


Aus den Schriftrollen vom Toten Meer geht nach Aussage der Wissenschaftler hervor, daß die Anhänger der Qumran-Sekte glaubten, daß das kommende Zeitalter im Zeichen der Herrschaft des Erzengels Michael und der ihm untertanen Engelschar stehen würde. Einer solchen Auffassung wird in diesem Vers energisch widersprochen. Nicht den Engeln , sondern Menschen wird die Herrschaft über die zukünftige Welt anvertraut werden. Die Wendung "von der wir reden" macht dabei deutlich, daß hier keineswegs ein neuer Gedanke eingeführt wird. Das ganze erste Kapitel, in dem immer wieder das Königtum und die künftige Herrschaft des Sohnes herausgestellt wurde, stand ja unter diesem Thema.



Hebr 2,6-8 a


Ps 8 , der im folgenden zitiert wird, wird häufig als eine allgemeine Aussage über die Rolle des Menschen in Gottes Schöpfung verstanden. Auf dem Hintergrund von Hebr 2,5 und der Auslegung, die sich in Hebr 2,8 b- 9 anschließt, wird jedoch deutlich, daß der Verfasser des Hebräerbriefes diese Passage in erster Linie unter dem messianischen und eschatologischen Aspekt auffaßte. Er betrachete damit das Alte Testament aus dem gleichen Blickwinkel, der im ganzen Neuen Testament vertreten ist und direkt auf Jesus selbst zurückgeht (vgl. Lk 24,25-27.44-45 ).



Hebr 2,8-9 (Hebr 2,8b-9)


Wie auch immer in Ps 8 die Stellung des Menschen in der Welt aufgefaßt sein mag, nach Ansicht des Briefschreibers ist damit nicht der gegenwärtige Stand der Dinge wiedergegeben. Er stellt im Gegenteil fest: Jetzt aber sehen wir noch nicht, daß ihm alles untertan ist . Er bezieht diese Aussage in erster Linie auf Jesus ( Hebr 2,9 ), eine Auffassung, die zweifellos durch den gebräuchlichen messianischen Titel "Menschensohn" (V. 6 ) gestützt wurde. Er erklärt also, daß Jesus die endgültige Herrschaft über die Schöpfungsordnung zwar noch nicht angetreten hat, doch am Ende durch das Leiden des Todes "gekrönt mit Preis und Ehre" sein wird. Der so Gekrönte ist "eine kleine Zeit niedriger gewesen ... als die Engel" , um zu sterben, d. h., um durch Gottes Gnade ... für alle den Tod zu schmecken . Das war das Ziel der Erniedrigung des Herrn unter die Engel, d. h. seiner Menschwerdung. Die Wendung "durch das Leiden des Todes gekrönt mit Preis und Ehre" stellt gewissermaßen einen Einschub dar, der im griechischen Text deutlicher als solcher erkennbar wird. Das Hauptgewicht der Aussage liegt also trotz des Hinweises auf die gegenwärtige Herrlichkeit Gottes auf der Tatsache, daß er Mensch wurde, um zu sterben.



2. Die Verbundenheit des "Anfängers des Heils" mit seinen Anhängern
(
2,10-18 )


In diesem Abschnitt wird zum ersten Mal der griechische Titel archEgos für Jesus verwendet (das Wort taucht nochmals in Hebr 12,2 auf). Er bedeutet soviel wie "Führer", "Urheber", "Begründer" und ist in mancher Hinsicht mit dem Begriff "Pionier" zu vergleichen. Seine Wiedergabe in der Lutherausgabe mit "Anfänger des Heils" scheint gegenüber der Formulierung "Urheber" die bessere zu sein ( Hebr 2,10 ).

Der Herr Jesus, so versucht der Verfasser deutlich zu machen, ist der "Anfänger des Heils" für die treue Schar von Menschen, die von Gott zur Herrlichkeit ausersehen ist.



Hebr 2,10


Die Wendung alle Dinge zeigt, daß die folgenden Ausführungen nach wie vor unter dem Eindruck von Ps 8 stehen (vgl. Hebr 2,8 ). Die Herrlichkeit , von der hier die Rede ist, ist jene Herrlichkeit, von der der Ps. spricht, d. h. die Herrlichkeit der Herrschaft über die Schöpfungsordnung (vgl. Hebr 2,7-8 ). Selbst der Ausdruck viele Söhne ist an die Psalmformulierung "Menschensohn" angelehnt und suggeriert damit die Vorstellung, daß der messianische Titel des Menschensohns für den Verfasser des Hebräerbriefes offensichtlich einen Gemeinschaftsaspekt hat: Jesus ist der Menschensohn, und seine Brüder und Schwestern sind die vielen, die mit ihm sowohl im Leiden als auch in der künftigen Herrlichkeit verbunden sind. Sie werden die Freude des Königs in der künftigen Welt teilen (vgl. Hebr 1,9 ).

In Hebr 2,9 hat der Briefschreiber zum ersten Mal vom Tod Jesu gesprochen. Nun versichert er, daß sich ein solches Leiden für den, der den vielen Söhnen als "Anfänger des Heils" voranging, ziemte . Bevor er die Menschen zum Heil führen konnte, das Gott ihnen schenken wollte, d. h. "zur Herrlichkeit", mußte er "durch Leiden" für diese Aufgabe vollendet werden. Weil seine Brüder leiden müssen, mußte auch er, wenn er der wirkliche "Anfänger ihres Heils" werden sollte, leiden, denn nur so konnte er ihnen die Hilfe bringen, die sie wirklich brauchten (vgl. V. 18 ).



Hebr 2,11 - 13


Es besteht also eine tiefe Einheit zwischen dem Sohn und den vielen Söhnen. Durch seinen Tod hat er sie geheiligt . Die solcherart "Geheiligten" (kommen) alle von einem . Aus Hebr 10,10.14 wird deutlich, daß der Verfasser überzeugt ist, daß das Opfer Christi die vielen Söhne ein für allemal geheiligt hat (vgl. den Kommentar zu dieser Stelle). Wie Ps 22,23 (zitiert in Hebr 2,12 ) vorhersagt, schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu nennen . Ja, er kann ihnen von seinem Vertrauen auf Gott erzählen (V. 13 a, zitiert nach Jes 8,17 ) und betrachtet sie als die Kinder, die mir Gott gegeben hat ( Hebr 2,13 b, zitiert nach Jes 8,18 ). Wie ein älterer Bruder inmitten eines Kreises von jüngeren Kindern lehrt der "Anfänger ihres Heils" die, die ihm nachfolgen auf dem Weg des Leidens, die Lektion des Glaubens.



Hebr 2,14-15


Diese Kinder wurden jedoch einst von Satan, ihrem Feind, in Knechtschaft gehalten. Weil sie Menschen sind, mußte der "Anfänger des Heils" ebenfalls Mensch werden. Er mußte für sie sterben, um sie zu erlösen, denn nur so war er in der Lage, dem Teufel (die Macht) zu nehmen. Damit ist nicht gemeint, daß Satan nicht mehr existiert oder nicht mehr in der Welt aktiv ist. Die Wendung "die Macht nehmen" ( katargEsE ) bedeutet nur, daß er keine Macht mehr hat über die, die Christus erlöste. Daß der Teufel als der beschrieben wird, der Gewalt über den Tod hatte , heißt, daß er die Furcht vor dem Tod dazu ausnützt, um die Menschen unter seine Herrschaft zu bringen. Oft treffen Menschen aus ihrem starken Selbsterhaltungstrieb heraus moralisch falsche Entscheidungen. Die Leser des Hebräerbriefes werden deshalb daran erinnert, daß sie nicht länger Knechte des Teufels sind und dem Tod mit demselben Gottvertrauen entgegengehen können, wie es ihr Herr tat.



Hebr 2,16-18


In welche Nöte und Bedrängnisse sie auch geraten, ihr Herr kann ihnen helfen, denn er nimmt sich nicht der Engel an, sondern der Kinder Abrahams . Der Ausdruck "Kinder Abrahams" ist vielleicht ein Hinweis darauf, daß die Adressaten des Hebräerbriefes Juden waren, wenngleich sich im geistlichen Sinn auch Heidenchristen zu den "Kindern Abrahams" zählen konnten ( Gal 3,29 ). Die Hilfe, die der Herr seinen Anhängern zukommen läßt, gründet sich auf die Tatsache, daß er in allem seinen Brüdern gleich wurde ( Hebr 2,17 ), und zwar sowohl durch seine Menschwerdung als auch durch sein Leiden. In diesem Zusammenhang taucht auch zum ersten Mal der Gedanke der Priesterschaft Jesu auf, der später genauer ausgeführt wird. Zunächst wird lediglich festgestellt, daß die Identifikation mit "seinen Brüdern" Jesus zu einer Priesterschaft befähigte, die sowohl von Erbarmen als auch von Treue vor Gott getragen ist. Die Grundlage dieser Priesterschaft ist es, zu sühnen die Sünden des Volkes . Auch davon ist später noch ausführlicher die Rede.

Der Abschnitt schließt mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß der Herr in seiner Funktion als Priester denen, die versucht werden (V. 18 ), helfen kann, weil er selbst in seinem Leiden die Erfahrung der Versuchung durchlebt hat. Die behandelten Themen sind damit noch nicht abgeschlossen, doch es ist eindeutig klargestellt, daß der "Anfänger des Heils" in der Tat für seine Aufgabe - die, die ihm anhängen, zur Teilhabe an seiner künftigen Herrlichkeit zu führen - "vollendet" wurde.



D. Die zweite Warnung
( Hebr 3-4 )


An dieser Stelle unterbricht der Briefschreiber erneut den thematischen Fluß seiner Ausführungen, um eine zweite Warnung auszusprechen. Sie ist diesmal sehr viel ausführlicher und detaillierter gehalten als in Hebr 2,1-4 .Dadurch wird deutlicher, weshalb er sich um seine Leser sorgt, aber auch, welch unschätzbaren Verlust sie erleiden, wenn sie seine Mahnungen in den Wind schlagen. Der Grundlagentext für diesen ganzen Abschnitt ist Ps 95,7-11 ,der in Hebr 3,7-11 zitiert und in der Paränese von Kapitel 3 und Hebr 4,1-11 ausgelegt wird. Der ganze Abschnitt schließt mit dem Hinweis auf die richterliche Gewalt des göttlichen Wortes ( Hebr 4,12-13 ) und mit der Aufforderung, die Hilfe des großen Hohenpriesters zu suchen ( Hebr 4,14-16 ).



1. Der Aufruf zur Treue
(
3,1-6 )


Hebr 3,1


Mit der Anrede "ihr heiligen Brüder, die ihr teilhabt an der himmlischen Berufung" greift der Autor auf jene Wahrheit zurück, die er seinen Lesern in Kapitel 2 zu vermitteln versucht hat. Sie sind "Brüder" (vgl. Hebr 3,12;10,19 ), und zwar nicht nur untereinander, sondern auch Brüder ihres Herrn ( Hebr 2,11-12 ). Sie sind heilig, weil dieser sie geheiligt hat. Schließlich "haben sie teil an der himmlischen Berufung", weil Gott sie "zur Herrlichkeit geführt hat" ( Hebr 2,10 ). Das griechische Wort für "teilhaben" ( metochoi ; in Hebr 1,9 mit "deinesgleichen" übersetzt) taucht auch in Hebr 3,14;6,4 und Hebr 12,8 auf. Dahinter steht vor allem der Gedanke an das hohe Vorrecht der Teilhabe am künftigen Reich und der künftigen Freude des göttlichen König-Sohnes.

Als "heilige und geheiligte" Menschen sollen die Leser ihr ganzes Denken auf den richten, der zugleich Apostel und Hoherpriester ihres christlichen Glaubens ist. Der erste dieser beiden Titel weist wahrscheinlich auf Jesus als den von Gott gesandten Mittler des Vaters (vgl. Hebr 1,1-2 ), während der zweite auf jene Funktion Bezug nimmt, von der in Hebr 2,17-18 die Rede war.



Hebr 3,2


Die Leser werden aufgefordert, den Blick auf Christus zu richten, der noch jetzt Gott treu ist. In ihm können sie ein Vorbild für ihre eigene Treue finden. Im Alten Testament ist die Treue Christi in Mose verkörpert.

Der Hinweis auf Mose, der in Gottes ganzem Hause treu war, stammt aus 4Mo 12,7 ,wo es um die Stiftshütte geht. Mit dem "Haus" Gottes ist in der betreffenden alttestamentlichen Situation die Stiftshütte gemeint, die Mose in striktem Gehorsam gegenüber den göttlichen Anweisungen errichtet hatte. Er wurde damit "zum Zeugnis für das, was später gesagt werde sollte" ( Hebr 3,5 ).



Hebr 3,3-6 a


Jesus als Erbauer ist jedoch größerer Ehre wert als Mose , denn Mose war nur ein Knecht, der Anweisungen ausführte. Jesus dagegen hat im Grunde alles erbaut , denn Gott ist der Erbauer aller Dinge. Damit wird implizit wieder die Rolle des Sohnes bei der Schöpfung (vgl. Hebr 1,2.10 ) und seine Gottheit (vgl. Hebr 1,8 ) angesprochen.

Dieser Implikation vorgelagert ist jedoch der Gedanke, daß Gottes Haus , in dem Mose sich treu erwies, eine Art Miniaturbild von "allem", d. h. von dem größeren Haus, dem der Sohn zur Rechten Gottes Himmel vorsteht, war (vgl. Hebr 1,3 mit Hebr 4,14 ). Das "Allerheiligste" in seinem irdischen Haus war nur ein Schatten des Himmels, in den Christus nun entrückt worden ist, "um jetzt für uns vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen" ( Hebr 9,24 ). Moses Treue bestand darin, jenes Schattenhaus, die Stiftshütte, zu errichten, als Abglanz der künftigen priesterlichen Ordnung, die sich nun auf das ganze Universum erstreckt. Das ist das Reich, in dem der erhöhte Christus von Ewigkeit her und nun wieder sitzt und dem ganzen als Sohn über Gottes Haus vorsteht ( Hebr 3,6 a).



Hebr 3,6 b


In einer ganz selbstverständlichen Assoziation, zu der das griechische Wort für Haus herausfordert, schwenkt der Briefschreiber vom Gedanken des Hauses als einem Ort, wo sich priesterliche Aktivitäten vollziehen, zu einem Verständnis von "Haus" als Gemeinschaft all derer, die an diesen Aktivitäten teilnehmen, über. So versichert er seinen Lesern: Sein Haus sind wir . Er stellt allerdings eine wichtige Vorbedingung: Wenn wir das Vertrauen ( parrEsian ; ein Wort, das viermal im Hebräerbrief vorkommt; vgl. auch Hebr 4,16;10,19.35 ) und den Ruhm der Hoffnung festhalten . Wie in seiner ersten Warnung ( Hebr 2,1-4 ) gebraucht der Verfasser des Briefes auch hier das Pronomen "wir" und schließt sich selbst in seine Ermahnung mit ein. Er ist in Sorge, daß manche seiner christlichen Brüder "ein böses, ungläubiges Herz" haben, "das abfällt von dem lebendigen Gott" ( Hebr 3,12 ). Wenn einer der Leser dieser Versuchung nachgibt, verwirkt er damit seine Funktion im priesterlichen Haus des Sohnes, die nur denen offensteht, die standhaft an ihrem christlichen Bekenntnis festhalten (vgl. auch V. 14 sowie Hebr 10,23-25.35-36 ).

Der Verfasser des Hebräerbriefes meint damit nicht, daß die Leser ihr ewiges Heil aufs Spiel setzen können - es wäre falsch, das Wort "Haus" an dieser Stelle mit dem Leib Christi, der wahren, allgemeinen Kirche, gleichzusetzen. Vielmehr zeigen der ganze Kontext und der alttestamentliche Hintergrund, daß der Autor hier in priesterlichen Begriffen denkt. Der erhöhte Sohn steht einer Priesterschaft vor, die eine funktionierende Realität darstellt. Solange seine Leser bei ihrer christlichen Überzeugung bleiben, haben sie ihren Platz in dieser Priesterschaft. Doch so, wie ein wahrer Levit - d. h. ein Levit von Geburt her - sich zu Moses Zeiten selbst vom Dienst im Allerheiligsten ausschließen konnte, so kann auch ein wahrer wiedergeborener Christ sich von seiner priesterlichen Funktion innerhalb des Haushaltes des Herrn ausschließen. Diese Gefahr ist es, die den Verfasser des Hebräerbriefes beschäftigt, und die sowohl in der vorliegenden Warnung als auch in den später folgenden immer wieder zur Sprache kommt.



2. Das warnende Beispiel Israels
(
3,7 - 4,11 )


Hebr 3,7-11


Zum Abschluß seines Aufrufs zur Standhaftigkeit und als Warnung vor den Folgen des Abfalls vom Glauben führt der Verfasser das klassische Beispiel vom Versagen Israels bei Kadesch-Barnea an, das zu dem vierzigjährigen Umherirren des Gottesvolkes in der Wüste führte. Statt wie manche Sektierer offenbar in verklärtem Rückblick glaubten, eine Glanzzeit der israelischen Geschichte zu sein, war dies eine Zeit des tragisches Verlustes und des Abfalls. Die Leser des Hebräerbriefs sollen in ihrem Leben keine ähnliche Erfahrung machen wie Israel in der Wüste.

Der Text, den der Briefschreiber wählt, um das Lehrstück, das er seinen Lesern vor Augen führen möchte, anschaulicher zu machen, stammt aus Ps 95 (es werden die Verse 7 - 11 zitiert). Der Ps. paßt gut in einen Kontext, in dem es um Gottesdienst und priesterliche Handlungen geht, denn Ps 95 ist im Grunde genommen ein Ruf zum Gottesdienst (vgl. Ps 95,1-7 ). Die Einladung des Psalmisten - "Kommt, laßt uns anbeten und knien und niederfallen vor dem Herrn, der uns gemacht hat. Denn er ist unser Gott und wir das Volk seiner Weide und Schafe seiner Hand" ( Ps 95,6-7 ) - spiegelt genau die Intentionen des Hebräerbriefes. Vor diesem Hintergrund muß das ganze im folgenden zitierte Material gesehen werden.



Hebr 3,12-13


Seht zu, liebe Brüder leitet über zur Auslegung des vorangehenden Textes für die christlichen Leser. Weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle in seinem Brief zeigt der Verfasser auch nur den geringsten Verdacht, daß seine Leserschaft möglicherweise nicht nur aus wirklichen Christen bestehen könnte. Er behandelt sie vielmehr als "liebe" oder "heilige Brüder, die teilhaben an der himmlischen Berufung" (V. 1 ). Die weitverbreitete Ansicht, daß es ihm in seinem Schreiben mehr um bloß äußerliche Christen als um wirkliche Gläubige ging, läßt sich also nicht halten.

Jeder Glaubensbruder muß sich davor hüten, ein böses, ungläubiges Herz zu bekommen, wie es Gottes Volk in der Wüste hatte - ein Herz, das abfällt von dem lebendigen Gott . Ein Vorbeugungsmittel gegen derartige negative Tendenzen kann ein Geist wechselseitiger Fürsorge und Ermahnung innerhalb der christlichen Gemeinschaft sein. Deshalb rät der Briefschreiber: Ermahnt euch selbst alle Tage ... daß nicht jemand unter euch verstockt werde durch den Betrug der Sünde (V. 13 ). Diese Aufforderung ist von zeitloser Gültigkeit und könnte genauso jeder Gemeinde von heute gelten, wo den Verhärtungen der Sünde ebenfalls oft durch wahre christliche Fürsorge begegnet werden kann. Der Ausdruck "solange es 'heute' heißt" spielt auf das "heute" in Ps 95,7 an und heißt soviel wie "solange ihr die Gelegenheit habt".



Hebr 3,14


Die Äußerung "wir haben an Christus Anteil bekommen" lautet wörtlich "wir sind Partner des Christus". Der Artikel vor "Christus", der sich im Urtext findet, macht aus der Bezeichnung einen Titel im Sinne von "der Messias". In dem Wort "Partner" begegnet uns wieder das griechische metochoi , das schon in Hebr 1,9 und Hebr 3,1 für die Anhänger des messianischen Königs gebraucht wurde. Noch einmal unterstreicht der Autor das ungeheure Privileg, unter den "vielen Söhnen" zu sein, die Gott zu der Herrlichkeit der Teilhabe an der Herrschaft über die Schöpfungsordnung, die Christus regieren wird, berufen hat. Auch hier - wie bei dem Vorrecht des Dienstes im priesterlichen Haus (V. 6 ) - ist diese Funktion an die Treue gebunden: wenn wir die Zuversicht vom Anfang bis zum Ende festhalten . Das erinnert an die Worte von Offb 2,26 - 27 : "Und wer überwindet und hält meine Werke bis ans Ende, dem will ich Macht geben über die Heiden, und er soll sie weiden mit eisernem Stabe."

 

Hebr 3,15


Die nochmalige Zitation eines Teils der zitierten Stelle aus Ps 95 fügt sich an die Mahnung in Hebr 3,8 an. Die Leser sollen sich ihre Zuversicht bis zum Ende bewahren und nicht wie die alten Israeliten ihre Herzen verstocken, wie es bei der Verbitterung geschah .



Hebr 3,16-19


Nach dieser erneuten Anspielung auf den zu interpretieren den Text beginnt der Verfasser mit seiner Auslegung. Die Fragen in Vers 16 lesen sich eher wie Feststellungen: "Denn manche, die sie gehört hatten, verbitterten sich; wenn es nicht sogar alle waren, die von Ägypten auszogen mit Mose." Der Autor ist sich der bemerkenswerten Ausnahmen eines Josua und Kaleb, die sich nicht in den allgemeinen Abfall hineinziehen ließen, wohl bewußt. Doch er fragt: Über wen war Gott zornig vierzig Jahre lang? Die Antwort lautet, daß er über die in dem Volk in der Wüste zornig war, die sündigten und deshalb auch in der Wüste umkamen. Ihr Ungehorsam, mit dem sie den Eintritt in das verheißene Land verweigerten, veranlaßte Gott zu dem Schwur, daß sie nicht zu seiner Ruhe kommen sollten . Damit ist natürlich gemeint, daß die sündige Generation in der Wüste auf Dauer von der Inbesitznahme ihres Erbes in Kanaan ausgeschlossen war, und nicht, daß sie auf ewig verdammt war. Es wäre also falsch zu behaupten, daß die gesamte Generation des Exodus nicht wiedergeboren und damit verloren war. Doch ihr Ausschluß von der Landnahme in Kanaan war eine Folge ihres mangelnden Glaubens an die Macht Gottes, ihnen zum Sieg über ihre Feinde zu verhelfen - ein Versagen, das sich prinzipiell bei den Lesern des Hebräerbriefs wiederholen konnte, wenn sie den endgültigen Triumph des Messias über seine und ihre Feinde aus dem Blick verloren (vgl. Hebr 1,13-14 ). Der Briefschreiber möchte, daß seine Leser sich zu Herzen nehmen, daß Gottes Volk wegen des Unglaubens , also aus Mangel an Gottvertrauen, nicht ins gelobte Land kam.



Hebr 4,1


Das tragische Beispiel Israels sollte auch den Christen als Warnung dienen, denn die Verheißung ... daß wir zu seiner Ruhe kommen (besteht noch) .

Die Vorstellung des Verfassers von "Ruhe" darf nicht aus ihrem alttestamentlichen Zusammenhang gerissen werden. In der Septuaginta finden sich wichtige Abschnitte, in denen das Wort für "Ruhe" ( katapausis ) in Zusammenhang mit der Landnahme Israels ganz eindeutig parallel zu dem Wort für "Erbe" ( klEronomia ) verwendet wird. Mose machte dem Volk Gottes klar ( 5Mo 3,18-20; 5Mo 12,9-11 ), daß die Ruhe Israels in seinem Erbe lag. So liegt auch für den Verfasser des Hebräerbriefs die Ruhe der Christen in ihrem christlichen Erbe. Daß die Christen "Erben" sind, hat er bereits bestätigt ( Hebr 1,14 ) und tut es noch an weiteren Stellen ( Hebr 6,12.17; vgl. Hebr 9,15 ). Wie er ihre Beziehung zu diesem Erbe auffaßt, wird aus der Fortführung seiner Argumentation deutlich. Doch das Erbe selbst kann kaum von seiner Schilderung des messianischen Königreiches, an dem die "Partner" des Messias teilhaben, getrennt werden. Das zeigt sich explizit in Hebr 12,28 .

Da der Verfasser offensichtlich vermeiden wollte, daß einer seiner Leser auf den Gedanken kam, er habe sein "Erbe" verfehlt, ist es einsichtig, daß er sich in diesem Zusammenhang mit dem Problem der Verzögerung der Wiederkunft Christi befaßt, dem Paulus auch bei der thessalonischen Gemeinde begegnet war. Seinem Aufruf zur Geduld und der Beruhigung, daß die Leser "das Verheißene empfangen werden", folgt denn auch die Versicherung: "Nur noch eine kleine Weile, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben" ( Hebr 10,36-37 ). Es ging auf alle Fälle darum, deutlich zu machen, daß die verheißene Ruhe den Gläubigen nach wie vor offen stand.



Hebr 4,2


Nach den Worten des Briefschreibers ist es, das Evangelium, auch uns verkündigt worden (wörtlich: "wir erhielten die gute Nachricht"). Doch die Verkündigung bezieht sich nicht immer nur auf die Erlösung von den Sünden. Eine so spezifische, eng eingegrenzte Auffassung, wie sie in manchen Kreisen mit dem Begriff "Evangelium" verbunden wird, würde den Vorstellungen des Autors an dieser Stelle nicht gerecht werden. Den Israeliten damals wurde von der Ruhe gepredigt, die Gott ihnen anbot. Das war in der Tat eine "gute Nachricht" für sie, wie auch für uns heute, entspricht allerdings nicht ganz dem, was heute allgemein unter "Evangelium" verstanden wird. Das griechische Verb euangelizomai , das an dieser Stelle gebraucht ist, kann im Neuen Testament durchaus auch eine unspezifische Bedeutung haben (vgl. z. B. seine Verwendung in Lk 1,19; 1Thes 3,6 ), und wahrscheinlich unterschied der Briefschreiber nicht so scharf zwischen der "guten Nachricht" von der Ruhe Gottes, die seine Leser vernommen hatten, und jener besonderen "guten Nachricht", die üblicherweise mit dem Begriff "Evangelium" in Verbindung gebracht wird (vgl. 1Kor 15,1-4 ). Aus dem Kontext läßt sich jedoch erschließen, daß es ihm in erster Linie um die gute Nachricht von der künftigen Ruhe des Gottesvolkes ging ( Hebr 4,10 ) und nicht so sehr um die fundamentalen Glaubenswahrheiten, von denen in 1Kor 15 die Rede ist.

Wie schon gezeigt wurde, half den Israeliten das Wort der Predigt (von der Ruhe) nichts, weil sie nicht glaubten, als sie es hörten (vgl. Hebr 3,19 ). Aus Unglauben gingen sie also des Privilegs, das ihnen das göttliche Angebot der Ruhe verhieß, verlustig. Damit die Leser des Hebräerbriefes in den Genuß dieses Privilegs kommen, müssen sie glauben.


Hebr 4,3


Diese Schlußfolgerung wird im nächsten Vers gezogen. Die Worte hoi pisteusantes , wir, die wir glauben , sind der Gegenpol zum Unglauben der Israeliten. Der Verfasser des Hebräerbriefes ist nicht um den anfänglichen Glauben seiner Leser in der Vergangenheit besorgt, sondern um ihr Durchhaltevermögen (vgl. Hebr 3,6.14 ). Der Glaube bleibt die Vorbedingung für den Eintritt in die Ruhe, dafür bürgt der Ausspruch Gottes, daß nur die, die diesen Glauben nicht haben, nicht zu seiner Ruhe kommen sollen. Dieser Ausschluß war endgültig, trotzdem die Ruhe Gottes den Menschen schon von Anbeginn der Welt offensteht.


Hebr 4,4-5


Mit einem großen gedanklichen Bogenschlag verbindet der Verfasser die Ruhe Gottes am siebten Tag der Schöpfung mit der Ruhe, die den Israeliten in der Wüste genommen war. Gott ruhte , nachdem er sein Schöpfungswerk vollendet hatte, und die Erfahrung dieser Ruhe ist seit dieser Zeit allen Menschen zugänglich, die die Arbeit, die ihnen aufgetragen ist, zu Ende gebracht haben (vgl. V. 10 ). Wenn aber ein Auftrag nicht erfüllt ist, wie es mit dem Volk in der Wüste der Fall war, so gilt die Feststellung: Sie sollen nicht zu meiner Ruhe kommen .



Hebr 4,6-7


Das Versagen der Israeliten machte jedoch nicht die Wahrheit zunichte, daß einige zu dieser Ruhe kommen sollen , und in Übereinstimmung mit dieser Wahrheit erneuerte Gott sein Angebot ( Ps 95 ) lange Zeit später, zur Zeit Davids. Damals hat er abermals einen Tag , ein "heute", bestimmt , an dem er diese Möglichkeit allen Lesern des Psalms, für die dieses "heute" zu ihrem "heute" wird, gegeben hat. So hat auch der Verfasser des Hebräerbriefs dieses "heute" des Königs David auf seine Leser angewandt (vgl. Hebr 3,14-15 ).



Hebr 4,8-10


Doch die Leser des Hebräerbriefs sollen nicht glauben, daß die Verheißung der Ruhe in der Zeit Josuas wahr wurde. Der Verfasser ist sich vollkommen bewußt, daß das Alte Testament auch als Beweis dafür zitiert werden kann, daß Israel durch die Landnahme in der Zeit Josuas bereits in die Ruhe eingetreten ist (vgl. Jos 22,4; 23,1 ). Er widerlegt diese Theorie - die den Christen zur Zeit des Hebräerbriefs wahrscheinlich verkündigt wurde - jedoch auf ebenso einfache wie überzeugende Weise: Wenn es so wäre, würde Gott nicht danach von einem andern Tag geredet haben . Der Psalm, auf den er sich dabei beruft, widerspricht der Vorstellung, daß die "Ruhe" bereits eingetreten ist und den Gläubigen in späterer Zeit nun nicht mehr offensteht.

Hinter diesem Argument steht die unwiderlegliche Tatsache, daß die Landnahme in der Zeit Josuas nicht zum bleibenden Besitz des Landes führte. Dieser bleibende Besitz ihres verheißenen Erbes ist für die Juden zu einer Hoffnung geworden, die sich erst im messianischen Reich erfüllen wird. Das gilt zumindest für das normative Judentum, ganz gleich, was manche Sekten lehrten. Wahrscheinlich dachte der Verfasser des Hebräerbriefs hier an bestimmte Formen der "präsentischen Eschatologie", die den Zukunftscharakter dieser Hoffnung leugneten. (Vgl. die aus einer ganz ähnlichen Auffassung erwachsene Lehre von der Auferstehung der Gläubigen, der Paulus in 2Tim 2,17-18 widerspricht.) Wenn dem so ist, dann war Ps 95 nach Ansicht des Autors gegen eine solche verdrehte Sicht einzusetzen. Die Ruhe - die Gemeinschaft mit dem Messias - liegt in der Tat noch in der Zukunft: Es ist also noch eine Ruhe vorhanden für das Volk Gottes .

Es gilt jedoch, daß in Gottes Ruhe nur eintritt, wer auch von seinen Werken (ruht), so wie Gott von den seinen . Diese Äußerung ist sowohl eine Zusicherung als auch eine Ermahnung. Einerseits bestätigt sich darin die Schlußfolgerung des Verfassers ( Hebr 4,9 ), daß es eine solche Ruhe gibt, in die die Menschen eintreten können. Andererseits werden die Leser jedoch auch daran erinnert, daß sie nur dorthin gelangen können, wenn sie ihre eigenen Aufgaben erfüllen, wie Gott die seinen bei der Schöpfung erfüllt hat. In der Wendung "ruht ... von seinen Werken" gebraucht der Verfasser eine Art Wortspiel, denn das Verb für "ruhen" heißt gleichzeitig auch "aufhören" - ein Hinweis auf den erfolgreichen Abschluß einer Tätigkeit, zumal vor dem Hintergrund des Werkes Gottes. Das ist die Pointe des ganzen Abschnittes: Die Christen sollen ihr Leben nach dem Vorbild Jesu Christi einrichten, der "treu ist dem, der ihn gemacht hat" ( Hebr 3,2 ), und müssen sich darum bemühen, "die Zuversicht vom Anfang bis zum Ende festzuhalten" ( Hebr 3,14; vgl. Hebr 3,6 ). Nur so können sie im freudigen Genuß ihres Erbes im messianischen Königreich von ihren Werken ausruhen.



Hebr 4,11


Daraus folgt logisch, daß die Leser gemeinsam mit dem Autor ( laßt uns ) nun bemüht sein sollen, zu dieser Ruhe zu kommen. Im Gegensatz zu der Gewißheit aller Christen, daß sie das ewige Leben besitzen und sich seiner im Angesicht Gottes erfreuen werden (vgl. Joh 6,39-40 ), kommen sie in den Genuß der Gemeinschaft mit dem Messias in seinem Reich nur, wenn sie seinen Willen bis zum Ende erfüllen ( Offb 2,26-27 ). Das Versagen Israels in der Wüste muß den Gläubigen deshalb als warnendes Beispiel dienen, nicht in den gleichen Ungehorsam zu verfallen.


3. Gottes Wort und der Gnadenthron
(
4,12 - 16 )


Zum Schluß seiner Auslegung von Ps 95 und der Verfehlung Israels, die das Volk um die Ruhe Gottes brachte, kommt der Verfasser des Hebräerbriefes zu einer ebenso nüchter-

nen wie tröstlichen Schlußfolgerung. Gottes Wort ist ein scharfes Instrument des göttlichen Gerichtes, aber sein Thron ist gnädig und barmherzig.



Hebr 4,12


Das Lehrstück, das der Verfasser seinen Lesern aus den Schriften des Alten Testaments vor Augen geführt hat, ist mehr als eine historische Erzählung. Es hat, wie bereits an vielem klar wurde, eine beklemmende Relevanz für die Leser seiner Zeit. Denn das Wort Gottes ist lebendig ( zOn ) und kräftig ( energEs ). Seine durchdringende Gewalt ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert ; es trifft den Menschen in seinem innersten Wesen und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens . Es kann zwischen dem, was wirklich "geistlich" an einem Menschen ist, und dem, was nur "seelisch" oder "natürlich" ist ( es dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist ), unterscheiden - auch dann, wenn diese häufig gegensätzlichen inneren Bereiche so eng miteinander verwoben sind wie Mark und Bein . Das innere Leben eines Christen ist oft eine seltsame Mischung aus Antrieben wirklich geistlicher Art und ganz und gar menschlichen Motiven. Man braucht ein übernatürliches Instrument wie das Wort Gottes, um diese beiden Bereiche voneinander zu trennen und offenzulegen, was letztlich fleischlich ist. Die Gläubigen sind möglicherweise der Überzeugung, bestimmte Dinge aus rein geistlichen Motiven heraus zu tun, wenn sie im Grunde, wie Gottes Wort ihnen zeigen könnte, genauso treulos handeln wie das alte Israel.



Hebr 4,13


Sie dürfen sich aber nicht einbilden, daß ihre Motive unentdeckt bleiben, denn kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes . Das ist eine Mahnung daran, daß die Leser des Hebräerbriefs wie alle Christen eines Tages vor dem Richterstuhl Christi stehen werden, wo sie Rechenschaft geben müssen (vgl. Röm 14,10-12; 2Kor 5,10 ). Wenn sich dann heraustellen wird, daß sie gerade dabei versagt haben, wovor sie gewarnt wurden, so werden sie, wie der Verfasser durchblicken läßt, weniger Lohn erhalten (vgl. 1Kor 3,11-15 ). Vom vorliegenden Kontext her wird ihr Verlust in dem Verlust ihres Erbes, der Ruhe, bestehen.



Hebr 4,14


Das muß jedoch nicht so sein. Es besteht im Gegenteil Grund genug, festzuhalten an dem Bekenntnis, wenn man bedenkt, daß die Gläubigen einen großen Hohenpriester haben ... der die Himmel durchschritten hat . Nur einmal ( Hebr 2,1-3,6 ) war bislang von der Priesterschaft Jesu die Rede, auch wenn dieser Gedanke implizit in Hebr 1,3 enthalten war. An dieser Stelle kündigt sich jedoch an, daß die Priesterschaft Jesu in der weiteren Folge des Briefes zum Gegenstand ausführlicher Erörterungen wird. Zunächst liegt dem Verfasser allerdings daran, seinen Lesern die praktische Relevanz dieses Gedankens klarzumachen, indem er sie ermahnt, "am Glauben festzuhalten". Sie müssen wissen, daß die Priesterschaft ihres Herrn ihnen alles erschließt, was sie brauchen.



Hebr 4,15


Ihr Hoherpriester war überall da gewesen, wo auch sie sind, und war versucht worden ... in allem , wie sie selbst. Auch wenn er, anders als sie, ohne Sünde war (vgl. Hebr 7,26; 2Kor 5,21; 1Joh 3,5 ) und seinen Versuchungen niemals erlag (was seiner Gottheit widersprochen hätte), so war er ihnen als Mensch doch wirklich ausgesetzt (wie ein unbeweglicher Fels die anstürmende Gewalt des Meeres spürt), und darum kann er mitleiden ( sympathEsai ) mit unserer Schwachheit . Man kann in der Tat argumentieren - was auch geschehen ist -, daß nur jemand, der der Versuchung widerstanden hat, ihre ganze Gewalt kennen kann. Deshalb hat der Sündlose eine stärkere Fähigkeit zum Mitgefühl, als jeder Sünder es für seinen Nächsten haben kann.



Hebr 4,16


Mit einem solchen Hohenpriester können die Christen hinzutreten mit Zuversicht ( parrEsias ; vgl. Hebr 3,6;10,19.35 ) zu dem Thron der Gnade . In einem Text voller schöner und ergreifender Wendungen muß der Begriff "Thron der Gnade" nichtsdestoweniger besonders im Gedächtnis haften.

Diese Vorstellung von der Gegenwart Gottes, zu der die bedrängten Christen zu jeder Zeit ihre Zuflucht nehmen können, bringt in einzigartiger Weise die Herrschermacht dessen, dem sie sich nähern (sie treten vor einen "Thron"), und seine Güte zum Ausdruck. Bei einer solchen Begegnung mit Gott können die Christen mit Sicherheit darauf hoffen, daß sie Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn sie Hilfe nötig haben .



III. Teil II: Der Priester-Sohn Gottes
( Hebr 5-10 )


Im ersten Hauptteil des Briefes ( Hebr 1,5-4,16 ) arbeitete der Verfasser zwei zentrale Wahrheiten heraus: (1) Die Erhöhung und die künftige Bestimmung dessen, der in einzigartiger Weise Gottes Königsohn ist, und (2) das Heil und Erbe derer, die im Glauben an ihm festhalten. Die Auseinandersetzung mit diesen Punkten wurde unterbrochen von zwei feierlichen Warnungen, das Erbe, das die erhöhte Stellung des König-Sohnes den Seinen zusagt, nicht aufs Spiel zu setzen. Das künftige Königreich des Sohnes stand dabei im Mittelpunkt aller Erörterungen.

Neben diesem Hauptgedanken lief zugleich jedoch auch schon das zweite Thema, die Hohepriesterschaft des König-Sohnes, her. Seine Bedeutung wurde bereits kurz angesprochen. Im folgenden wird die priesterliche Funktion des Sohnes im Detail erörtert, wobei die Auslegungspassagen wiederum von mahnenden und warnenden Abschnitten unterbrochen sind.



A. Einführung: Der rechte Hohepriester
(
5,1 - 10 )


Bevor er weiter auf die Probleme der Priesterschaft Christi eingeht, zeigt der Verfasser des Hebräerbriefes zunächst als logische Vorbedingung die Befähigung, die Christus für sein Amt mitbringt. Auch wenn seine Priesterschaft schon zuvor als gegeben vorausgesetzt wurde, so muß nun ihre Rechtmäßigkeit nachgewiesen werden, damit die Mahnungen, die auf dieser Priesterschaft fußen, wirksam sein können.



1. Die Anforderungen an einen Hohenpriester
(
5,1-4 )


Hebr 5,1


Die Frage, was ein Hoherpriester ist, kann ganz leicht von der aus dem Alten Testament bekannten Institution her beantwortet werden. Ein Hoherpriester wird von den Menschen genommen und ist ihr Stellvertreter zum Dienst vor Gott . Zu diesem "Dienst" gehört das Darbringen von Gaben ( dOra ) und Opfern ( thysias ) für die Sünden (vgl. Hebr 8,3;9,9 ).



Hebr 5,2-3


Ein Hoherpriester muß mit den Menschen mitfühlen ( metriopathein ) können, d. h., er muß in der Lage sein, seine eigenen Gefühle zwischen kalter Gleichgültigkeit und hemmungsloser Hingabe an die Trauer im Gleichgewicht zu halten. Den gewöhnlichen Hohenpriestern des Alten Testaments gelang dies, weil sie wußten, daß sie auch selber Schwachheit an sich trugen und versagten. Aus diesem Grund gehört es zu den Pflichten des Priesters, die notwendigen Opfer für sich selbst (wie für das Volk) darzubringen. Einzig und allein in dieser Hinsicht entsprach Christus, wie der Briefschreiber später noch zeigen wird (vgl. Hebr 7,27 ), nicht dem hier geschilderten Bild des Hohenpriesters, weil er "ohne Sünde" war ( Hebr 4,15 ). Vielleicht schwingt dabei aber auch der Gedanke mit, daß das Mitleid des Sohn-Priesters viel tiefer war als die gemäßigte Freundlichkeit, die von den anderen Hohenpriestern erwartet wurde.



Hebr 5,4


Eines steht jedoch fest. Das hohepriesterliche Amt war von Gott eingesetzt und konnte nicht einfach angetreten werden, weil man die hohepriesterliche Würde anstrebte. Wie auch Aaron muß der Hohepriester von Gott berufen werden.



2. Die Berufung des Sohnes zur Hohenpriesterschaft
(
5,5 - 10 )


Hebr 5,5-6


Auch Christus hat sein priesterliches Amt nicht ohne die entsprechende Berufung von Gott angetreten. Im Gegenteil, der, der ihn als König-Sohn proklamierte, erklärte ihn auch zum Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks . Durch die Zusammenfassung von Ps 2,7 ,den er schon einmal zitiert hat ( Hebr 1,5 ), und Ps 110,4 gelingt es dem Verfasser, in kunstvoller Weise die beiden großen Wahrheiten über den Messias, die seinem Brief zugrunde liegen, zu verbinden. In Ps 2,7 wird er als der davidische Erbe, der über die Völker herrschen wird, dargestellt (vgl. Ps 2,8 ). Auch Ps 110 war in diesem Zusammenhang bereits zitiert worden (vgl. Hebr 1,13 ). An dieser Stelle jedoch zeigt ein weiteres Zitat aus diesem Psalm, daß der künftige Sieger und Eroberer auch ein ganz besonderer Priester ist. Auf diese Weise vereint der Briefschreiber das zweifache Amt des Priesters und des Königs in der Person Christi. Er war sich möglicherweise bewußt, daß er damit einer bestimmten sektiererischen Auffassung widersprach, wie sie offensichtlich in Qumran vertreten wurde, wo allem Anschein nach sowohl ein Laie als auch ein königlicher und ein priesterlicher Messias erwartet wurden. Auf jeden Fall geben die beiden Psalmzitate das Wesen dessen wieder, was der Verfasser über den Herrn Jesus Christus aussagen will. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß er beide Proklamationen mit jenem Augenblick verband, wenn der Sohn "sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt hat" ( Hebr 1,3 ).


Hebr 5,7


Aber auch in anderen Punkten ist Jesus für sein Priesteramt qualifiziert. So kann von ihm gesagt werden, daß er in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht ( prospherO ; das Wort taucht auch in V. 1 auf) hat, der ihn vom Tod erretten konnte. Die zweite Hälfte des Satzes ist oft mit dem Gethsemane Erlebnis in Zusammenhang gebracht worden. Vom Griechischen her scheint es sich jedoch eher um eine Anspielung auf Ps 22,24 nach der Übersetzung der Septuaginta zu handeln. Da der Verfasser des Hebräerbriefes Ps 22 als messianischen Ps. auffaßt (vgl. Hebr 2,12 ), scheint es plausibel anzunehmen, daß er hier an die Leiden am Kreuz denkt. Das fügt sich auch insofern in den Gedankengang ein, als die Schreie des Heilands in diesem Fall unmittelbar mit seinem Opfer verbunden wären.

Daß Gott dieses "Schreien" und diese "Tränen" angenommen hat, zeigt die Feststellung: Er ist auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt ( eulabeias ). Auch hier kann Ps 22 als Belegstelle angeführt werden, denn der zweite Teil dieses Psalms gibt die Worte einer Person wieder, die im Triumph aus ihren Leiden hervorgegangen ist und Gott dafür preist (vgl. Ps 22,22-31 ). In Hebr 2,12 wurde die erste Äußerung dieses Triumphes bereits zitiert ( Ps 22,23 ). Der Dulder, der Gott "in Ehren" hielt, wurde wirklich vom Tod errettet, und zwar durch die Auferstehung von den Toten. Die Auferstehung wird damit zu einem weiteren Beweis dafür, daß Gott das Opfer Jesu angenommen hat.



Hebr 5,8-10


Die ganze Erfahrung, von der zuvor berichtet wurde, war für Jesus eine Art Lernprozeß, bevor er selbst seinem leidenden Volk diente. Ungeachtet seiner einzigartigen Beziehung zu Gott ( obwohl er Gottes Sohn war ) mußte er wirklichen Gehorsam im Sinne von Leiden lernen. Dadurch wurde er für seine Aufgabe als Herrscher und Hoherpriester seines Volkes vollendet . Es ist nicht abzuleugnen, daß in all diesem ein Mysterium verborgen ist, doch es ist kein größeres Mysterium als das, das in den Worten des Lukas zum Ausdruck kommt: "Und Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen" ( Lk 2,52 ). Auch wenn dieses ganze Geschehen nicht restlos begreifbar ist, so erfuhr der bereits vollkommene Sohn Gottes durch seine Menschwerdung in tiefstem Sinne an sich selbst, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das Leiden wurde für ihn zu einer Realität, die er selbst erfahren hat. Von daher kann er vollkommen mit seinen Anhängern mitfühlen. (Vers 8 enthält im Griechischen ein interessantes Wortspiel mit den beiden Verbformen (er hat) gelernt ( emathen ) und er litt ( epathen ).

Auf diese Gewißheit gründet sich die Feststellung des Briefschreibers: Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind, der Urheber ( aitios ) des ewigen Heils geworden. Das "Heil", von dem hier die Rede ist, läßt sich nicht von dem "ererbten" Heil in Hebräer 1,14 unterscheiden und kann mit dem "ewigen Erbe" in Hebr 9,15 gleichgesetzt werden. Es darf allerdings nicht mit der Erlangung des ewigen Lebens verwechselt werden, die nicht vom Gehorsam, sondern vom Glauben abhängt (vgl. Joh 3,16 u. a.). Einmal mehr geht es dem Briefschreiber an dieser Stelle um die Befreiung von allen Feinden und den endgültigen Sieg mit seiner anschließenden "Herrlichkeit", an der die vielen Söhne und Töchter teilhaben. Dieses Heil ist ausdrücklich mit dem Gehorsam der Gläubigen verknüpft, einem Gehorsam, der sich ganz am Gehorsam Jesu, der ebenfalls litt , orientiert. So steht es in engem Zusammenhang mit dem Wort des Herrn: "Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben erhalten will, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird's erhalten" ( Mk 8,34-35 ).

Der Hohepriester ist zum "Urheber" dieses besonderen Heils geworden, das denen zufällt, die bereit und willens sind, im Gehorsam vor Gott zu leben. Mit dieser Bezeichnung wollte der Briefschreiber in erster Linie auf die Hilfe hinweisen, die den Gläubigen aus dem priesterlichen Dienst Christi erwächst und die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, ein Leben des Gehorsams zu führen. Welches Leiden den Christen auch quälen mag, der Hohepriester versteht ihn, fühlt mit ihm und läßt ihm jenes Erbarmen und jene Gnade zukommen, die er braucht, um ausharren zu können. Oder, wie der Briefschreiber es an einem späteren Ort sagt, "daher kann er auch für immer selig machen, die durch ihn zu Gott kommen; denn er lebt für immer und bittet für sie" ( Hebr 7,25 ). Zu diesem Zweck ist Christus ggenannt von Gott ein Hoherpriester nach der Ordnung Melchisedeks .


B. Die dritte Warnung
(
5,11-6,20 )


Schon jetzt, unmittelbar nachdem er begonnen hat, sich mit der Priesterschaft Christi nach der Ordnung Melchisedeks auseinanderzusetzen, sieht der Verfasser des Briefes sich veranlaßt, eine weitere Warnung an die Adresse seiner Leser einzuschalten, denn ihre geistliche Unreife und Trägheit ließ es ihm zweifelhaft erschei-

nen, daß sie einer längeren Auslegung konzentriert folgen würden. Sicherlich hoffte er, sie durch seine Warnungen aufnahmebereiter für die Wahrheit, die er darlegen wollte, zu machen. Zugleich aber wollte er sie auch dazu bewegen, die Gefahr zu erkennen, die darin lag, wenn sie sich nicht weiterentwickelten oder gar in tragischer Weise hinter ihren jetzigen Zustand zurückfielen.



1. Das Problem der geistlichen Unreife
(
5,11 - 14 )


Hebr 5,11-12


Darüber hätten wir noch viel zu sagen , meint der Autor im Hinblick auf die Hohepriesterschaft Jesu, deren Erörterung in der Tat noch relativ viel Raum in seinem Schreiben einnehmen wird ( Hebr 7,1-10,18 ). Er befürchtet jedoch, daß es schwer sein wird, seinen Lesern diese Dinge nahezubringen, weil sie so harthörig sind. Gemessen an der langen Zeit, die sie bereits Christen sind, müßten sie eigentlich längst Lehrer sein und andere, die noch nicht so lange im Glauben stehen, durch ihre Unterweisung voranbringen. Statt dessen brauchen sie selbst jemanden, der sie erst einmal wieder mit den elementaren Wahrheiten ihres Glaubens vertraut macht.

Mit dem Hinweis auf die Anfangsgründe spielt der Briefschreiber möglicherweise auf die Buchstaben des Alphabets an, wie sie in der Schule gelernt werden. "Man muß euch anscheinend noch einmal das ABC beibringen", besagt sein Tadel, doch andererseits läßt er sich nicht dazu herbei, diese "Anfangsgründe" tatsächlich noch einmal zu behandeln ( Hebr 6,1 ). Besondere Sorge macht ihm offenbar ihre schwankende Haltung im Hinblick auf die Irrtümer, die sie vom Glauben weglocken wollen. Wenn sie sich von Sektierern oder anderen dazu drängen ließen, ihr christliches Bekenntnis aufzugeben, so waren die fundamentalen Wahrheiten, deren sie doch sicher sein sollten, eindeutig in Frage gestellt. So kam es allem Anschein nach, daß man ihnen Milch anbieten mußte und nicht feste Speise . Dabei ist das, was ihnen der Verfasser des Hebräerbriefes zumutet, eine wirklich "feste Speise", von der er sich offensichtlich erhoffte, daß sie sie in dramatischer Weise in ihrem christlichen Glauben voranbringen würde.



Hebr 5,13-14


Es ist unbefriedigend, in geistlichen Dingen ein Kleinkind zu bleiben, denn ein kleines Kind ... ist unerfahren ( apeiros ) in dem Wort der Gerechtigkeit . Das Problem liegt nicht so sehr darin, daß ein geistliches "Kleinkind" nicht genügend Informationen hätte - auch wenn das zunächst offensichtlich der Fall ist -, sondern vielmehr darin, daß es noch nicht gelernt hat, das "Wort der Gerechtigkeit" richtig anzuwenden. Es fehlt ihm die mit dem Wachstum einhergehende Fertigkeit, die es schließlich dazu befähigt, die richtigen moralischen Entscheidungen zu treffen. Diese Fähigkeit zeichnet jene aus, die durch den Gebrauch geübte Sinne haben und Gutes und Böses unterscheiden können . Ein solcher Mensch kann feste Speise vertragen.

Noch einmal gibt der Briefschreiber seiner Sorge Ausdruck, ob seine Leser wohl auch imstande sind, den falschen Ideen, mit denen sie konfrontiert sind, in rechter Weise entgegenzutreten. Wenn sie wirklich reif wären, könnten sie diese Ideen neben der Wahrheit, von der sie wissen müßten, daß sie "gut" ist, als "böse" erkennen. Er fürchtet jedoch, daß sie dazu nicht in der Lage sind, auch wenn er alles tut, um ihnen diese Fähigkeit zu vermitteln.



2. Die Lösung des Problems
(
6,1-3 )


Hebr 6,1-2


Etwas überraschend angesichts der geringen Einschätzung des geistlichen Entwicklungsstandes seiner Leser lehnt der Verfasser es ab, nochmals die "Anfangsgründe" des Glaubens mit ihnen durchzunehmen. Statt dessen drängt er sie, sich zum Vollkommenen zu wenden und über das hinauszukommen, was am Anfang über Christus zu lehren ist . Eine Wiederholung der Grundwahrheiten würde sie keinen Schritt weiterbringen. Der Briefschreiber zieht deshalb die "Radikalmethode" vor und beschließt, sie so rasch wie möglich in ihrer Erkenntnis voranzubringen, denn nur so waren ihre Probleme zu lösen. Wenn sie sich in angemessener Weise weiterentwickelten, war es nicht mehr nötig, abermals den Grund zu legen mit der Umkehr von den toten Werken . Wenn sie, wie die Verse 4 - 6 warnen, im Begriff standen, "abzufallen", hätte das den Grundstein für eine neue Umkehr gelegt, die jedoch "unmöglich" ist (vgl. V. 4.6 ). So war die geistliche Weiterentwicklung also ihr einziges Heilmittel.

Die "toten Werke" kehren noch in anderem Kontext wieder und beziehen sich dort offenbar auf das levitische Ritual ( Hebr 9,14 ). Es ist anzunehmen, daß sie hier in demselben Sinn gebraucht sind, da viele der Leser vom Judentum zum Christentum bekehrt worden waren. Die Rituale, die sie mit ihrem alten Glauben zusammen aufgegeben hatten, waren tot und unfähig, sie an den lebendigen Erfahrungen teilhaben zu lassen, die sie in Christus gefunden hatten. Der Autor beschwört sie deshalb, in keiner wie auch immer gearteten Form zu diesen "toten Werken" zurückzukehren, weil sie damit erneut in die Lage kämen, umkehren zu müssen - und eine solche Umkehr wäre schwierig, so richtig sie auch wäre.

Doch die negative Situation, die sie mit ihrem Abfall schüfen, beträfe auch andere fundamentale Wahrheiten: den Glauben an Gott, die Lehre vom Taufen, das Händeauflegen, die Auferstehung der Toten und das ewige(n) Gericht . Alle diese Aspekte gehören nach Aussage des Briefschreibers eindeutig zu den "Anfangsgründen" ( Hebr 5,12 ), in denen die Leser äußerst schwankend geworden zu sein scheinen. Es ist anzunehmen, daß jeder dieser Punkte auf die eine oder andere Weise bei der Auseinandersetzung der Leser mit

Andersdenkenden im Spiel war. Die Rückkehr zu den Ritualen, sei es nun des normativen oder des sektiererischen Judentums, wäre nichts anderes als eine Rückkehr zu den "toten Werken". Wer einen solchen Schritt zurück tat, hatte es nötig, daß ihm ganz von vorn beigebracht wurde, daß seine Annahme ganz allein von seinem "Glauben an Gott" abhing und nicht von irgendwelchen Ritualen.

Auch die Bedeutung der verschiedenen "Taufen", die die Christenheit kannte (die Taufe des Johannes, die normale christliche Taufe oder die "Geisttaufe"), müßte ihnen ebenso neu vermittelt werden wie die Grundbegriffe des "Handauflegens". Indem er auf diese Dinge anspielte, brachte sich der Briefschreiber möglicherweise bewußt in Gegensatz zu den Lehren der Sekten, die ihrerseits wahrscheinlich ebenfalls Initiationsriten kannten, zu denen auch das "Taufen" und das "Handauflegen" gehörte. Wenn die Sektierer oder wer auch immer zudem auch noch die normativen eschatologischen Hoffnungen des Christentums verwarfen (vgl. den Kommentar zu Hebr 4,1.8-10 ), dann standen die grundlegende Lehre von der "Auferstehung der Toten" und die Lehre vom "ewigen Gericht" auf dem Spiel. Dem christlichen Glauben abzuschwören und vom Glauben abzufallen ( Hebr 6,6 ) hieße, alle diese Lehren fallenzulassen. Was auch immer die Leser früher gelernt hatten, würden sie damit aufgeben. In diesem Sinne wäre dann die Grundlage dafür geschaffen, ganz von vorn zu beginnen, doch der Briefschreiber bewahrt sich eine gewisse Hoffnung, daß die Leser nicht in diese negative Situation kommen werden.

 

Hebr 6,3


Er wünscht sich, daß sie in ihrem Glauben weiterkommen, ist sich dabei jedoch vollkommen bewußt, daß dazu mehr gehört als seine Bemühungen um ihre geistliche Entwicklung. Gott muß ihnen dabei helfen. Hatte er zu Beginn dieses Abschnitts noch gesagt, "darum wollen wir ... uns zum Vollkommenen wenden" (V. 1 ), so setzt er jetzt im Gefühl seiner Abhängigkeit von der göttlichen Hilfe hinzu, das wollen wir tun, wenn Gott es zuläßt .



3. Die Alternative zum geistlichen Wachstum
(
6,4 - 8 )


In feierlicher und eindringlicher Form führt der Autor seinen Lesern dann vor Augen, wie die traurige Alternative zu jenem geistlichen Fortschritt, den er sich für sie wünscht, aussehen würde. Wenn sie nicht vorankommen, fallen sie unweigerlich zurück, und ein solcher Rückfall würde sich für den einzelnen äußerst tragisch auswirken.



Hebr 6,4-6


Zu diesen drei Versen gibt es vier verschiedene Auslegungen: (1) Es gehe um die Gefahr für den Christen, seiner Erlösung verlustig zu gehen. Diese Auffassung wurde jedoch verworfen, weil in der Bibel eindeutig festgehalten ist, daß die Erlösung ein Werk Gottes ist, das nicht rückgängig gemacht werden kann. (2) Die Warnung richte sich gegen ein bloßes Lippenbekenntnis des Glaubens ohne echte Teilhabe am Heil ( The New Scofield Reference Bible , S. 1315). (3) Die Verse seien dahingehend zu interpretieren, daß es in dem hypothetischen Fall, daß ein Christ tatsächlich seine Erlösung verliert, keine Möglichkeit zur Umkehr mehr gebe ( The Ryrie Study Bible , S. 1736). (4) Der Verfasser des Hebräerbriefes warne hier vor den Gefahren, die drohen, wenn ein wirklicher Christ, der auch seinem Glauben entsprechend gelebt hat, sich so verändert, daß er untauglich zum christlichen Dienst wird ( 1Kor 9,27 ) und sein Erbe an der tausendjährigen Herrlichkeit verspielt. Von dieser letzteren Auslegung wollen wir im folgenden ausgehen. Im deutschen wie im griechischen Text bilden die drei Verse einen einzigen Satz. Ihre zentrale Aussage ist: Es ist unmöglich, die, die ... wieder zu erneuern zur Buße . Nach den Worten "die, die" folgt eine Beschreibung des Personenkreises, der nach Auffassung des Briefschreibers wohl kaum wieder zur Buße und Umkehr gebracht werden kann. Die geschilderten Eigenschaften zeigen deutlich, daß er dabei an Christen denkt.

Zunächst einmal schildert er sie als Menschen, die einmal erleuchtet worden sind - ein Hinweis auf die Erfahrung der Bekehrung, der sich ähnlich auch in anderen Texten findet (vgl. 2Kor 4,3-6 ). Das Verb "erleuchten" taucht danach im Hebräerbrief nur noch einmal, in Hebr 10,32 ,auf, einem Kontext, in dem es eindeutig um christliche Erfahrungen geht. Auch die Kennzeichnung der betreffenden Personen als Menschen, die geschmeckt haben die himmlische Gabe , greift auf vertraute Vorstellungen, die allgemein mit der Bekehrung in Verbindung gebracht wurden, zurück (vgl. Joh 4,10; Röm 6,23; Jak 1,17-18 ). Wer dieser Folgerung ausweicht und in dem Wort "geschmeckt" nicht die volle Teilhabe der Christen an Christus erkennt, schließt damit Jesu Todeserfahrung aus, was sich schon vom Gebrauch des Wortes im Hebräerbrief selbst ( Hebr 2,9 ) verbietet (vgl. auch 1Pet 2,3 ,wo Ps 34,9 zitiert wird).

In der Charakterisierung "und Anteil bekommen haben am heiligen Geist" steht im Griechischen wieder das Wort metochoi , das schon in Hebr 1,9 und Hebr 3,1.14 auftauchte (es kommt nochmals in Hebr 12,8 vor). Der Verfasser betrachtet die Gabe des Geistes, angeregt durch die vorangehenden Anspielungen, offensichtlich als ein Resultat der Bekehrung. In einer letzten Wendung werden die zuvor geschilderten als jene beschrieben, die geschmeckt haben das gute Wort Gottes und die Kräfte der zukünftigen Welt . Damit sind auf jeden Fall die Bekehrten gemeint, die durch ihre Unterweisung im "Wort Gottes" einen klaren Eindruck von seiner "Güte" empfangen und auch die Wirklichkeit der Wunder erfahren haben. Das hier mit "Kräfte" ( dynameis ) übersetzte Wort wird im Neuen Testament meistens für "Wunder" gebraucht und spielt offensichtlich auf die in Hebr 2,4 geschilderte Erfahrung an. Es drängt sich auf, daß alles, was hier gesagt wird, besonders gut zu wahren Christen paßt und es demzufolge sicherlich allzu gesucht wäre, darin einen Vergleich von bloßen Lippenbekennern mit wirklich Bekehrten zu vermuten.

Doch dann folgt der harte Satz: und dann doch abgefallen sind (parapesontas ). Das klingt eindeutig danach, daß der Verfasser durchaus solche Fälle kannte.

Das Wort "abgefallen" kann sicherlich nicht den Verlust des ewigen Lebens meinen, das, wie das Johannesevangelium zeigt, ein unveräußerlicher Besitz all jener ist, die im Glauben an Christus darauf vertrauen. Für den Verfasser des Hebräerbriefes geht es hier offensichtlich um den Abfall vom Glauben, die Apostasie, die Abkehr vom christlichen Bekenntnis (vgl. Hebr 3,6.14;10,23-25.35-39 ). Die Behauptung, daß ein Wiedergeborener nicht in diese Situation kommen könne, ist eine theologische Hypothese, die vom Neuen Testament nicht gestützt wird. Auch Paulus kannte die Gefahren von Irrlehren für den christlichen Glauben und bezog Stellung gegen einen gewissen Hymenäus und einen Philetus, die erklärten, "die Auferstehung sei schon geschehen", und damit einige "vom Glauben" abbrachten ( 2Tim 2,17-18 ). Der Verfasser des Hebräerbriefes war ein nüchterner Realist, der Angriffe auf den Glauben seiner Leser sehr ernst nahm. Deshalb warnte er sie auch, daß jene, die solchen Angriffen erliegen und "abfallen", nachdem sie so große geistliche Privilegien erhalten und erfahren haben, nicht wieder ... zur Buße gebracht werden können.

Der Grund dafür ist, daß sie für sich selbst den Sohn Gottes abermals kreuzigen und zum Spott machen . Wer seinen christlichen Glauben widerruft, vollzieht in seinem Leben und in seiner ganzen Einstellung einen Schritt, der im Grunde auf eine erneute öffentliche Verwerfung Christi hinausläuft. Als er ihm zuerst vertraute, bekannte er sich damit zu der Ansicht, daß die Kreuzigung ungerecht war und aus der sündigen Ablehnung des Heilands resultierte. In der Zurücknahme dieser Auffassung bestätigt er jedoch den Standpunkt der Feinde Jesu, daß dieser seinen Tod am Kreuz verdient habe. In diesem Sinne "kreuzigen" solche Menschen "den Sohn Gottes abermals". Diese Aussage gewinnt besonderes Gewicht, wenn man annimmt, daß die Leser des Hebräerbriefes Juden waren, die im Begriff standen, in irgendeiner Form in ihre alte Religion zurückzufallen, denn die Kreuzigung Jesu ging immerhin in erster Linie vom jüdischen Volk aus. Ein Rückfall von Judenchristen war gleichbedeutend mit einem Wechsel ins feindliche Lager und der Solidarisierung mit jenen Landsleuten, die Jesus damals ans Kreuz schlagen wollten. Das war in der Tat ein schweres Vergehen. Solche Menschen konnten nicht ein zweites Mal zu der Buße bekehrt werden, die sie bei ihrer ersten Bekehrung zum Christentum empfunden hatten. Der Autor setzt voraus, daß ihre Herzen gegen alle Bemühungen, sie nicht zum christlichen Glauben, aber zu einem christlichen Leben zurückzugewinnen, verhärtet werden.


Hebr 6,7-8


Er demonstriert das an einem Beispiel aus der Natur. Wenn regengetränkte Erde Frucht bringt, empfängt sie Segen von Gott . Der Briefschreiber vergleicht also die geistlichen Privilegien, die er in Vers 4-5 aufgezählt hat, mit einem himmlischen Regen, der auf das Leben der Christen fällt. Er sollte nützliche Frucht ... denen, die sie bebauen , bringen - vielleicht ein Hinweis auf das, was andere Christen vom Leben wahrer Gläubiger profitieren (vgl. V. 10 ). Eine solche Fruchtbarkeit läßt Gottes Segen auf das Leben der Betreffenden herabkommen.

Doch was geschieht, wenn das Land, das den "Regen" empfangen hat, unfruchtbar ist? Wenn es nur Dornen und Disteln trägt, bringt es keinen Nutzen ( adokimos , "verwerflich"; 1Kor 9,27 ) und ist dem Fluch nahe, so daß man es zuletzt abbrennt . In dieser Metapher wird Gottes Fluch über die Erde heraufbeschworen ( 1Mo 3,17-19 ) und auf das christliche Leben bezogen, das, wenn es keine Frucht bringt, am Ende ("zuletzt") dem strengen Verdammungsurteil Gottes verfällt und seinen Zorn und sein Gericht heraufbeschwört (vgl. Hebr 10,27 ).

Der Hinweis auf das Feuer in der Verbform "abbrennt" hat viele Exegeten zu der Vermutung veranlaßt, daß hier von der Hölle die Rede sei, doch diese Hypothese entbehrt jeder textlichen Grundlage. Im Alten Testament wird Gottes Zorn über sein sündiges Volk häufig mit dem Feuer verglichen (vgl. z. B. Jes 9,18; Jes 10,17 ). So sagt auch der Verfasser des Hebräerbriefes im Rückgriff auf diese beeindruckende alte Metapher: "Unser Gott ist ein verzehrendes Feuer" ( Hebr 12,29 ). In diesem Zusammenhang an die Hölle zu denken hieße, der besonderen Vorstellungswelt, die der Verfasser verwendet, zuwenig Beachtung zu schenken. Das Abbrennen von Feldern zur Vernichtung von Unkraut war in der Antike eine übliche Praxis. Das Ziel dabei war natürlich nicht die Zerstörung des Feldes (was durch das Feuer auch gar nicht möglich war), sondern die Vernichtung der unerwünschten "Frucht". Danach war das betreffende Feld dann bereit für eine neue Bepflanzung.

Mit der Wahl dieser Metapher zeigt der Autor, daß er sogar über die, die einen solchen Schritt zurück vollzogen, nicht ganz verzweifelte. Zwar sind - zumindest vor der göttlichen Strafe - alle Versuche, die Abgefallenen zum christlichen Glauben zurückzuführen, vergeblich ( Hebr 6,4-6 ), doch diese Unmöglichkeit gilt nicht für Gott selbst. Was der Verfasser damit meint, ist wahrscheinlich, daß nichts sie vor der schrecklichen Vergeltung, die sie erwartet, bewahren kann, daß jedoch das, was geschieht, wenn ihr "Land" verbrannt ist, auf einem anderen Blatt steht. Paulus war der Ansicht, daß diejenigen, die "am Glauben Schiffbruch erlitten" haben, von der Strafe, die sie dafür erhielten, profitieren konnten ( 1Tim 1,19-20 ). Der Verfasser des Hebräerbriefs ist jedoch mit einer Aussage über eine etwaige Wiederherstellung dieser Menschen zurückhaltender. Dabei denkt er wohl nicht nur daran, daß manche nicht einmal auf Strafe reagieren, sondern ihm liegt in erster Linie an der Warnung davor, den Abfall, der zu einer solchen göttlichen Strafe führt, überhaupt zu vollziehen. Nichtsdestoweniger macht sein geschickt gewähltes Bild aus dem Ackerbau deutlich, daß das "Abbrennen" des Feldes etwas zeitlich Begrenztes beschreibt und im Grunde ein hoffnungsvolles Bild ist.



4. Eine abschließende Ermutigung
(
6,9 - 20 )


Der Verfasser des Hebräerbriefs wußte um den Ernst und die Feierlichkeit seiner Worte, die jedoch nicht so schwerwiegend waren wie die Auslegungen, die sie in der Folgezeit erfuhren. Er hielt an dieser Stelle deshalb ein Wort der Ermutigung für angebracht. Dieses Muster - eine strenge Warnung, der eine liebevolle Ermutigung folgt - ist bereits aus dem ersten Teil des Briefes bekannt ( Hebr 3,1-4,16 ), der mit ei nem entschieden positiven Hinweis endete ( Hebr 4,14-16 ). Auch diese Warnung schließt mit einer lebendigen Hoffnung.



Hebr 6,9


Es liegt dem Verfasser des Hebräerbriefes fern, seine Leser glauben zu machen, daß er an ihnen verzweifelt ist. Er ist vielmehr überzeugt, daß es besser mit ihnen steht und sie gerettet werden. Das entspricht dem Vorgehen eines Pfarrers, der seine Gemeinde, nachdem er sie vor gefährlichen Handlungen gewarnt hat, mit den Worten beruhigt: "Aber ich bin sicher, daß ihr das nicht tun werdet." Es handelt sich hier also nicht, wie manchmal fälschlicherweise angenommen, um eine theologische Aussage, sondern lediglich um den Ausdruck einer Hoffnung. Die Rettung, von der hier die Rede ist, sollte in Zusammenhang mit Hebr 1,14 gesehen werden. Es sind der Sieg und die Herrlichkeit, von der in diesem Vers die Rede ist, die die standhaften Anhänger des Königs mit ihm erben werden.

Sie werden mit ihm in die "Ruhe" eingehen. Der Verfasser sagt an dieser Stelle ganz deutlich, daß er sicher ist, daß seine Leser bis zum Ende durchhalten und in den Genuß dieser Segnungen kommen werden, auch wenn er sich gedrängt fühlt, sie vor dem gegenteiligen Verhalten zu warnen.



Hebr 6,10


Der Briefschreiber weiß, daß Gott nicht ungerecht (ist) . Er wird auch die Adressaten des Briefes nicht verlassen, sondern ihres Werkes und der Liebe, die sie seinem Namen erwiesen haben, indem sie anderen Christen halfen, gedenken. Das ist ein geschickter Appell an die Herzen seiner Glaubensbrüder. Er erinnert sie an all die Wohltaten, die sie anderen Christen erwiesen haben und noch erweisen und ermuntert sie, damit fortzufahren, weil Gott ihr Verhalten sieht und ihnen zugleich in jeder nur denkbaren Weise beistehen kann.



Hebr 6,11-12


Wenn sie nur auf dem guten Weg, den sie eingeschlagen haben und der Gott nicht verborgen geblieben ist, bleiben, so werden sie zu Garanten der Hoffnung , mit der all jene belohnt werden, die sich nicht beirren lassen. Der Briefschreiber setzt hinzu: Damit ihr nicht träge ( nOthroi ; dasselbe Wort ist in Hebr 5,11 mit "harthörig" wiedergegeben) werdet. Die Gläubigen sollen also die Trägheit, die aus ihrer geistlichen Unreife resultiert, abschütteln. (Im Griechischen lautet der Satz eigentlich "damit ihr nicht träge seid ".) Ihr wahres Ziel muß das Erbe sein, das ihnen aufbewahrt ist. Im Blick auf dieses Ziel sollen sie Nachfolger derer sein, die durch Glauben und Geduld die Verheißungen ererben .

 

Hebr 6,13-15


Ein Beispiel zur Nachfolge zeigt der Fall des Stammvaters Abraham, dem Gott ... die Verheißung gab , daß seine Nachkommen sich mehren würden, und dieses Versprechen sogar beschwor . Zur rechten Zeit wurde Abrahams Geduld belohnt, und er "erlangte die Verheißung". Da das angeführte Zitat auf 1Mo 22,17- die Verheißung nach der Opferung Isaaks - zurückgeht, sah der Verfasser vielleicht schon im Empfang des Versprechens die Belohnung. Falls das stimmt, so steht dahinter der Gedanke, daß Abraham sie bekam, nachdem er (in der Prüfung mit seinem Sohn Isaak) geduldig ausgeharrt hatte. Wartete ... in Geduld ist die Übersetzung des Partizips makrothymEsas , das mit dem Substantiv makrothymias in Hebr 6,12 verwandt ist.

Dieses im Neuen Testament relativ häufige Wort drückt die Fähigkeit aus, die eigenen Gefühle zu beherrschen und keine Vergeltung zu üben (vgl. z. B. Kol 1,11;3,12; Jak 5,7-8.10 ). Sein Synonym hypomonE , "Standhaftigkeit, Geduld", steht für das Standhaftbleiben unter schlimmen Umständen (vgl. Kol 1,11; Hebr 12,1-3.7; Jak 5,11 ).



Hebr 6,16-18


An dieser Stelle tritt Abraham als Empfänger des göttlichen Schwurs zurück, und der Eid wird zugunsten der Christen allgemein umgedeutet, wobei der messianische Aspekt der Worte "durch dein Geschlecht sollen alle Völker auf Erden gesegnet werden" deutlich wird. Der Verfasser hält fest, daß die messianische Hoffnung, die aus der Verheißung erwächst, eine sichere Hoffnung ist, die nicht nur für Abraham galt, sondern auch für die christlichen Erben der Verheißung . Wie in menschlichen Angelegenheiten ein Schwur aller Widerrede ein Ende (macht) , so kann es keinen Streit über diese Hoffnung geben, weil Gott sich ... mit einem Eid für sie verbürgt hat. Wenn z. B. ein Sektierer diese eschatologische Erwartung leugnete, so log er im Angesicht des sichersten nur denkbaren göttlichen Bürgen. Denn es ist nicht nur unmöglich, daß Gott lügt , sein ewig wahres Wort wird in diesem Fall noch durch seinen Eid gestützt. Das sind die zwei Zusagen, die nicht wanken und denen, die ihre Zuflucht dazu genommen haben, festzuhalten an der angebotenen Hoffnung , Mut machen.


Hebr 6,19-20


In einer leichten Abwandlung des in Vers 18 vorkommenden anschaulichen Begriffes "Zuflucht" geht der Briefschreiber zum Bild des Hafens über, in dem die Seele beruhigt Anker werfen kann. Der Anker haftet in diesem Fall im sichersten Grund überhaupt, er reicht bis in das Innere hinter dem Vorhang , wohin ihn der Vorläufer ... Jesus gebracht hat. Das Bild des "Vorläufers" ( prodromos ) im Verein mit dem des Hafens läßt an Seeleute denken, die ein kleines Boot zu Wasser lassen, um den Anker ihres Schiffes an einem ganz sicheren Ankerplatz zu versenken. So hat auch Jesus, als er in das himmlische Heiligtum eintrat, in dem er als Hoherpriester ... in Ewigkeit fungiert, der Hoffnung der Christen einen festen Ankerplatz gegeben, von dem sie nicht fortgerissen werden kann. Da diese Hoffnung also eine ganz und gar sichere ist, können sie sich bis ans Ende auf sie verlassen.



C. Der größere Priester und sein größeres Amt
(
7,1 - 10,18 )


An dieser Stelle beginnt der längste Abschnitt des Briefes. Schon allein sein Umfang ist ein Beweis dafür, wie wichtig er ist. Er bildet das Herzstück des Hebräerbriefes: Die Hohepriesterschaft Christi ist die wahre Zuflucht der Gläubigen inmitten all ihrer Bedrängnisse. Sie müssen die Größe dieser Priesterschaft, ihre Überlegenheit über die levitischen Institutionen und den uneingeschränkten Zugang, den sie durch den Tod Christi zu ihr haben, begreifen.



1. Der höhere Priester
( Hebr 7 )


Der Verfasser kehrt hier zu dem Thema zurück, das er in Hebr 5,1-10 eingeführt hat und das zu verstehen - wie er vermutet - seinen Lesern verwehrt ist (vgl. Hebr 5,11 ). Am Ende seiner letzten Warnung ( Hebr 5,11-6,20 ) kommt er dann wieder auf die Priesterschaft nach der Ordnung Melchisedeks zu sprechen ( Hebr 6,19-20 ) und geht nun ausführlicher auf diesen wichtigen Aspekt ein.



a. Die Grösse Melchisedeks
(
7,1 - 10 )


Hebr 7,1-3


Am Anfang der Erörterung beschreibt er die persönliche Größe der alttestamentlichen Gestalt des Melchisedek . Wie Christus selbst war Melchisedek König und Priester zugleich. Er segnete Abraham und nahm Abgaben von ihm entgegen. Sein Name und Titel beschwören die messianischen Attribute der Gerechtigkeit und des Friedens herauf. Nach dem Alten Testament war er ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum und hat weder Anfang der Tage noch Ende des Lebens . Diese Aussage wird oft so ausgelegt, daß der Mangel an Informationen über diese geschichtliche Gestalt Melchisedek dem Sohn Gottes gleichmacht. Doch auch wenn diese Auffassung durchaus richtig sein kann, so klingt der Kontext, besonders die Feststellung, daß Melchisedek Priester in Ewigkeit (bleibt) , etwas anders. Die Zeitangabe "in Ewigkeit" ( eis to diEnekes ) ist die Übersetzung einer Wendung, die nur im Hebräerbrief vorkommt (hier und in Hebr 10,12.14 ) und die Bedeutung von "fortwährend" oder "ohne Unterbrechung" hat.

Es scheint plausibler, daß der Verfasser des Hebräerbriefes deutlich machen wollte, daß Melchisedek einer priesterlichen Ordnung angehörte, deren Träger ihr Amt ewig innehatten. (So merkt der Autor später an [ Hebr 7,8 ], daß von Melchisedek "bezeugt wird, daß er lebt".) Wenn das zutrifft, könnte Melchisedek ein Engelwesen gewesen sein, das eine Zeitlang in Salem (d. i. Jerusalem) herrschte. In diesem Fall besagt die Angabe, daß er keinen "Anfang der Tage" hatte, nicht, daß er ewig, sondern vielmehr, daß er von vorzeitlicher Herkunft war. Diese Vorstellung würde ihn aber nicht auf eine Ebene mit dem Sohn Gottes setzen, da der Briefschreiber ja schon zuvor eindringlich auf die Überlegenheit des Sohnes gegenüber den Engeln hingewiesen hatte ( Hebr 1,5-14 ). Es gibt in der Tat Belege dafür, daß Melchisedek in Qumran als ein Engelwesen verehrt wurde. Wenn der Hebräerbrief sich diese Auffassung zu eigen macht, dann ist der Sohn Gottes der Hohepriester innerhalb einer Hierarchie, in der Melchisedek einfach ein Priester ist.



Hebr 7,4-10


Die persönliche Überlegenheit des Melchisedek über den Patriarchen Abraham ist durch die Tatsache verbürgt, daß ihm Abraham, der Erzvater, den Zehnten gab von der eroberten Beute . Obwohl Melchisedek nichts mit dem levitischen Priestersystem zu tun hatte, nahm er den Zehnten von Abraham und segnete ihn. In diesem Vorgang wird seine Überlegenheit über den Stammvater noch unterstrichen. Offensichtlich stand er auch über den Leviten, die zwar ebenfalls den Zehnten einsammelten, aber sterblich waren, während von Melchisedek bezeugt wird, daß er lebt . Außerdem war Levi in gewissem Sinne ( sozusagen ) mit Abraham an der Abgabe des Zehnten beteiligt, denn er sollte seinem Stammvater ja erst noch geboren werden, als Melchisedek diesem entgegenging . Der Briefschreiber war sich natürlich darüber im klaren, daß Levi nicht tatsächlich den Zehnten an Melchisedek zahlte, aber ausgehend von dem Grundgedanken, daß der Stammvater größer ist als seine Nachkommen, bestätigte Abrahams Handlung letztlich die Überlegenheit Melchisedeks auch über die levitische Priesterschaft. Die Bedeutung Melchisedeks wird also vom Alten Testament mit großer Deutlichkeit herausgestellt.



b. Die neue Priesterschaft
(
7,11 - 19 )


Nachdem er Melchisedeks Größe sowohl von seiner Person her als auch im Vergleich mit Abraham und Levi so klar herausgearbeitet hat, kann der Briefschreiber in seiner Argumentation einen Schritt weiter gehen: Eine andere, der alten überlegene priesterliche Ordnung ist nötig, weil das Gesetz aufgehoben ist. Die Unzulänglichkeit des gesetzlichen und levitischen Systems mußte durch etwas Besseres ersetzt werden.



Hebr 7,11-12


Nach den Worten des Briefschreibers ist das levitische Priestertum schon ganz einfach aufgrund der göttlichen Verheißung (in Ps 110,4 ) unvollkommen, daß ein neuer Priester kommen werde, der nicht zur Ordnung Aarons gehört. Wenn aber das Priestertum verändert wird , so muß auch das gesamte System des Gesetzes, auf das sich die levitischen Institutionen gründen, verändert werden. Der Verfasser des Hebräerbriefes bestätigt damit praktisch die paulinische Aussage, daß die Christen "nicht unter dem Gesetz" sind ( Röm 6,14 ), auch wenn er auf einem anderen Weg zu dieser Feststellung gelangt.



Hebr 7,13-14


Die levitische Priesterschaft hat ausgedient, weil unser Herr aus Juda hervorgegangen ist . Dieser Stamm spielte im levitischen System keine Rolle. Die Tatsache, daß sich Gottes Verheißungen über den neuen Priester auf einen Mann aus Juda bezogen, ist ein Beweis dafür, daß ein großer Wandel eingetreten ist.



Hebr 7,15-19


Ein weiterer Beweis ( und noch klarer ist es ) liegt darin, daß der neue Priester sein Amt nach der Kraft unzerstörbaren ( akatalytou ) Lebens erhalten hat. An dieser Stelle wird erneut Ps 110,4 angeführt, um zu zeigen, daß ein solches nicht endendes Leben ein besonderes Kennzeichen der Ordnung Melchisedeks ist. (Wahrscheinlich dachte der Verfasser auch an diesen Text, als er die Aussage über Melchisedek in Hebr 7,8 formulierte.) Der neue Prieser hat seine Funktion also nicht nach dem Gesetz äußerlicher (wörtlich: "fleischlicher") Gebote inne. Der Briefschreiber will damit offenbar sagen, daß das Gesetz, das die priesterliche Hierarchie und die Nachfolge regelte, "fleischlich" war, und zwar nicht im Sinne von "böse", sondern von "vergänglich", weil es Menschen galt, die sterblich waren. Doch dieses frühere Gebot wurde aufgehoben, weil es schwach und nutzlos war. Es wurde durch die neue Priesterschaft, die eine bessere Hoffnung bringt, durch die wir uns zu Gott nahen , ersetzt. Das Gesetz, das nichts zur Vollendung bringen (konnte) , wurde also von einer priesterlichen Institution abgelöst, die in denen, die sich Gott durch sie nähern, ihr Ziel erreichen wird.



c. Die Überlegenheit der neuen Priesterschaft
(
7,20 - 28 )


Wenn, wie der Autor nachgewiesen hat, Melchisedek größer als Levi war (V. 4 - 10 ) und die neue Priesterschaft die alte ablöst (V. 11 - 19 ), dann muß der neue Priester größer sein als die levitischen Priester.



Hebr 7,20-22


Das Priesteramt Christi unterscheidet sich insofern auf dramatische Weise von der levitischen Institution, als es mit einem Eid eingesetzt wurde. Die Nachkommen Aarons traten ihr Amt im Gegensatz dazu ohne Eid an. Der Verfasser zitiert hier erneut den göttlichen Eid aus Ps 110,4 ,dessen Feierlichkeit allein schon für die Überlegenheit des neuen Priesters spricht, der auf so majestätische Weise in sein Amt eingeführt wurde. Darüber hinaus ist (Jesus) durch den Eid der Bürge ( engyos ; das Wort steht nur an dieser Stelle im Neuen Testament) eines viel besseren Bundes geworden . Jesus selbst bürgt für die Überlegenheit der neuen Ordnung, denn sein Eid sichert die ewige Dauer seines priesterlichen Amtes.



Hebr 7,23-25


Kein alttestamentlicher Priester war jemals für die Ewigkeit eingesetzt, weil der Tod keinen bleiben ließ .

Jesus aber besitzt ein unvergängliches Priestertum und kann deshalb sein rettendes Werk vollenden. Bei der Versicherung daher kann er auch für immer selig machen denkt der Verfasser des Briefes an das Erbe der Erlösung, von dem er erstmals in Hebr 1,14 gesprochen hat.

Seine Leser sollen an ihrem Glaubensbekenntnis festhalten und sich selbst zu denen zählen, die durch ihn zu Gott kommen , in dem Bewußtsein, daß er sie in jeder Bedrängnis und Schwierigkeit bis zuletzt bewahren wird, denn er lebt für immer und bittet für sie . Damit kommt der Verfasser auf eine Wahrheit zurück, die er bereits verkündet hat ( Hebr 4,14-16 ): Die Leser sollen sich auf die Barmherzigkeit und Gnade, die ihnen durch die Priesterschaft Jesu zugänglich ist, berufen. Wenn sie das tun, werden sie feststellen, daß der "Anfänger des Heils" und Priester sie erlösen kann. Er kann sie siegreich in die Herrlichkeit der "vielen Söhne" führen und ihre Erlösung damit "vollenden".



Hebr 7,26-28


Einen solchen Hohenpriester haben die Menschen gebraucht. Sein Wesen ist völlig ohne Makel, und er ist höher ... als der Himmel . Infolgedessen hatte er es nicht nötig, wie die levitischen Priester täglich zuerst für die eigenen Sünden Opfer darzubringen und dann für die des Volkes . Auf den ersten Blick scheinen die Verse 27.28 an die Zeremonie am Versöhnungsfest zu erinnern ( 3Mo 16 ), doch diese Feierlichkeiten fanden nur einmal jährlich und nicht "täglich" statt. Wahrscheinlich sehen die beiden Verse jenes große Ritual mit der regelmäßigen Opferroutine zusammen. Nach der jüdischen Überlieferung scheint es so gewesen zu sein, daß ein Priester täglich Opfer darbrachte, eine Praxis, auf die sich möglicherweise die Vorschriften von 3Mo 6,12-13 beziehen.

Auf jeden Fall mußte der neue Priester weder für sich selbst Opfer darbringen noch sein Opfer für die Menschen wiederholen. Sein einmaliger Akt der Selbsthingabe war endgültig und ausreichend. Die Kapitel 9; 10 des Hebräerbriefes gehen näher auf diesen Punkt ein. An dieser Stelle begnügt sich der Verfasser damit festzustellen, daß der Sohn im Gegensatz zur levitischen Priesterschaft ein vollkommener Priester ist. Die Wendung "der ewig und vollkommen ist" nimmt die Aussage von Hebr 5,8-10 wieder auf. Das Leiden des Sohnes, das hier als priesterliche Selbstaufopferung ein für allemal (ephapax; vgl. Hebr 9,12;10,10; vgl. auch hapax , "einmal", in Hebr 9,27-28 ) dargestellt ist, hat ihn "vollkommen" gemacht für sein Amt als Fürsprecher der Seinen vor Gottes Angesicht. Das Gesetz setzte Menschen zu Hohenpriestern ein, die Schwachheit an sich haben; dies Wort des Eides aber , das erst nach dem Gesetz gesagt worden ist, setzt diesen besonderen Hohenpriester ein. An ihn können sich die Gläubigen allezeit im vollen Vertrauen darauf, daß er alle ihre Nöte stillen kann, wenden.

 

2. Der höhere Dienst
(
8,1 - 10,18 )


In Kapitel 7 setzte sich der Verfasser des Hebräerbriefes mit der Überlegenheit der neuen Priesterschaft über das alte levitische System auseinander. Aus ihr folgt, daß die neue priesterliche Ordnung auch ein höheres priesterliches Amt mit sich bringt.

Daß dies tatsächlich der Fall ist, wird in diesem Abschnitt des Briefes nun genauer entfaltet. Im folgenden wird deutlich, daß der Neue Bund diesem erneuerten priesterlichen Dienst unterstellt ist.



a. Einführung in den höheren Dienst
(
8,1-6 )


Hebr 8,1-2


Die Einleitung des neuen Abschnittes wird deutlich markiert durch die Wendung: "Das ist nun die Hauptsache bei dem, wovon wir reden." Der Verfasser faßt damit das bisher Gesagte zusammen und deutet an, daß er nun zu einem neuen Gedankengang ansetzt. Indem er Jesus als einen Hohenpriester, der da sitzt zur Rechten des Thrones der Majestät im Himmel , bezeichnet, knüpft er an die Aussage von Hebr 1,3 an (vgl. Hebr 10,12;12,2 ). Was er damit meint, ist bereits bis zu einem gewissen Grad klar, wird nun aber im folgenden detaillierter erörtert. Auch in der Wendung "ein Diener am Heiligtum und an der wahren Stiftshütte" klingen Gedanken an, die implizit schon in den bisherigen Darlegungen enthalten waren, nun aber in eine neue Terminologie gekleidet werden. Im Mittelpunkt steht jetzt der Gedanke des Dienstes ( leitourgos ist ein Diener im priesterlichen Sinne). Die "wahre Stiftshütte" ist der Himmel, in dem dieser Dienst geschieht.



Hebr 8,3-6


Das neue Thema wird zunächst in einer vorläufigen Form entwickelt: Da es zur Aufgabe eines Priesters gehört, Gaben ( dOra ) und Opfer ( thysias ; vgl. Hebr 5,1; 9,9 ) darzubringen , liegt es auf der Hand, daß auch der neue Hohepriester etwas haben (muß), was er opfern kann . Andererseits kann sein Dienst nicht irdischer Natur sein, da das levitische Opferritual weiter ausgeübt wird - diese Worte implizieren, daß der jüdische Tempel noch steht. Doch das Heiligtum , in dem das alte Opfer vollzogen wird, ist nur ein Abbild ( hypodeigmati ; vgl. Hebr 9,23-24 ) und Schatten (skia; vgl. Hebr 10,1 ) des himmlischen, in dem der neue Priester waltet. Sein Status als bloßes "Schattenheiligtum" wurde bereits festgesetzt, als Moses nach genauen göttlichen Anweisungen die Stiftshütte ( Hebr 8,5 ), das Vorbild des Tempels, errichtete. Jesu priesterlicher Dienst übersteigt den der levitischen Priester, wie der Neue Bund, dessen Garant und Mittler er ist, den ihnen gegebenen hinter sich zurückläßt. (Die Bezeichnung "Mittler" für Jesus taucht dreimal im Hebräerbrief auf - Hebr 8,6;9,15;12,24 .) In dem Begriff Amt klingt erneut das entscheidende Thema des Abschnittes an, es wird hier jedoch mit einem neuen, dem alten überlegenen Bund in Verbindung gebracht, der seinerseits auf bessere Verheißungen gegründet ist . Dieser Bund und die ihm zugrundeliegenden Verheißungen werden im folgenden näher betrachtet.



b. Der höhere Bund
(
8,7 - 9,15 )


Hebr 8,7


Unter Verweis auf ein Zitat aus Jeremia ( 31,31-34 ) belegt der Verfasser des Briefes, daß es bereits im Alten Testament eine Verheißung dieses Neuen Bundes gab, und macht gleichzeitig deutlich, daß das Vorhandensein einer solchen Verheißung die Unzulänglichkeit des Alten Bundes beweist.

 

Hebr 8,8-13


Die Verheißung eines Neuen Bundes findet sich, wie der Briefschreiber zeigt, an einer Stelle, wo Gott sein Volk tadelt . Der Alte Bund scheiterte an der Sündhaftigkeit des Volkes, die er nicht heilen konnte. Dem neuen Bund dagegen ist es möglich, diesem Mißstand endgültig abzuhelfen.

In der zitierten alttestamentlichen Passage wird zunächst die Vorhersage gemacht, daß ein Neuer Bund geschlossen werden wird (V. 8 ). Ihr folgt eine eindrucksvolle Erklärung, daß dieser Bund sich von dem vorhergehenden grundlegend unterscheiden wird (V. 9 ). Daran schließt sich (V. 10-12 ) eine Beschreibung der überlegenen Vereinbarungen oder Angebote des verheißenen Bundes an. Dazu gehören (1) die innere Neigung der Bundespartner zur Befolgung des Bundes (Gott wird sein Gesetz ... in ihren Sinn, und in ihr Herz ... schreiben ), (2) eine feste, dauerhafte Beziehung zu Gott ( Ich ... will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein ), (3) Gotteserkenntnis ( sie werden mich alle kennen ) und (4) die Vergebung der Sünden ( ich will gnädig sein ihrer Ungerechtigkeit, und ihrer Sünden will ich nicht mehr gedenken ). Dies sind die "besseren Verheißungen", von denen in Vers 6 die Rede war.

Es ist klar, daß all diese Wohltaten letztlich allen Wiedergeborenen seit der Kreuzigung Christi zugute kommen. Auch wenn der Neue Bund sich besonders an Israel richtet (vgl. Haus Israel und "Haus Juda" in Jer 31,31 ), so stehen doch die Christen der Gegenwart und aller Zeiten genauso unter seinem Segen (vgl. Lk 22,20; 1Kor 11,25; 2Kor 3,6 ). Diese Einsicht führt nicht etwa zu einer unangemessenen Vermengung von Israel und der Kirche. Der Neue Bund ist Gottes erklärtes Mittel zur Erfüllung der schon Abraham zugesagten Segnung Israels. Doch der abrahamitische Bund verhieß zugleich auch einen universalen Segen, und damit wird der Neue Bund auch zum Träger des Heils für die Gläubigen nach der Kreuzigung. Das heißt nichts anderes, als was schon Jesus sagte, als er erklärte: "Das Heil kommt von den Juden" ( Joh 4,22 ). Damit soll keineswegs der Gedanke negiert werden, daß die christliche Kirche der einzigartige Leib Christi bis zu seiner Wiederkunft ist, eng mit ihm verbunden als seine Braut und klar unterschieden vom Volk Israel. Doch wie alles Heil durch das Kreuz Christi kommt, so kommt es auch durch das Blut des Neuen Bundes.

Aus der alttestamentlichen Prophezeiung, die er soeben zitiert hat, zieht der Verfasser des Hebräerbriefes sodann die berechtigte Schlußfolgerung, daß der Alte Bund veraltet ( palaioumenon ) und überlebt und seinem Ende nahe ist. Die Zeremonien, die noch immer nach seinen Vorschriften abgehalten werden, sind in geistlicher Hinsicht anachronistisch. Die Formulierungen, die der Autor des Briefes hier wählt, deuten darauf hin, daß er dabei an die Prophezeiung Jesu denkt, daß der Tempel in Jerusalem zerstört werden würde ( Mt 24,1-2 ). Diese Prophezeiung erfüllte sich wahrscheinlich schon bald nach der Abfassung des Hebräerbriefes. Wenn das zutrifft, so war das eine dramatische Bestätigung dessen, was der Verfasser des Hebräerbriefes über den Alten Bund gesagt hatte.



Hebr 9,1-5


Mit Hinsicht auf die "Überlebtheit" des ersten Bundes führt der Autor nun dessen Satzungen für den Gottesdienst und sein irdisches Heiligtum näher aus, um die Überlegenheit des Neuen Bundes um so stärker herauszustellen. An den konkreten Bauten und Einrichtungsgegenständen, an die der Alte Bund geknüpft war, zeigt er, wie "irdisch" ( kosmikon ; V. 1 ) oder weltlich dieser Bund war. Alle diese Dinge hatten allegorischen Wert, auf den er an dieser Stelle jedoch nicht eingehen kann ( von diesen Dingen ist jetzt nicht im einzelnen zu reden , V. 5 ). Er beschränkt sich auf die Hauptmerkmale, die er zu einem Vergleich heranziehen kann.



Hebr 9,6-10


Anhand der "Satzungen für den Gottesdienst", von denen in Vers 1 die Rede war, unterstreicht er nochmals die Unzulänglichkeit des Gottesdienstes des Alten Bundes. Die Priester konnten zwar allezeit in den vorderen Teil der Stiftshütte gehen, doch nur am Versöhnungsfest (vgl. 3Mo 16 ) war es dem Hohenpriester gestattet, den andern Teil (das Allerheiligste) zu betreten, und das nicht ohne Blut, das er opferte für die unwissentlich begangenen Sünden, die eigenen und die des Volkes . Dieser eingeschränkte Zugang ist ein ganz klares Indiz dafür, daß der Weg ins Heilige (vor das Angesicht Gottes) noch nicht offenbart war, wie der Heilige Geist durch diese Anordnungen deutlich machte. Die levitischen Vorschriften sollten also nur aufzeigen, daß der wahre Weg zu Gott nicht in ihnen lag. Das bedeutet für die gegenwärtige Zeit , daß das Opfersystem des Alten Bundes dem, was die Menschen brauchten, nicht wirklich gerecht wurde, denn sie konnten nicht ihr Gewissen vollkommen machen . Die "Satzungen", die zu den Verpflichtungen der Juden auf dieses System gehörten, galten in erster Linie äußerlichen Dingen und waren ihnen nur bis zu der Zeit einer besseren Ordnung auferlegt .

Die Worte von Hebr 9,10 beziehen sich wahrscheinlich auf bestimmte jüdische Sekten, für die äußerliche Satzungen über Speise und Trank und verschiedene Waschungen von großer Bedeutung waren. Die Leser des Hebräerbriefes sollen sich dagegen an den Übergangscharakter dieser Vorschriften des "überlebten" Alten Bundes erinnern und nicht zu ihnen zurückkehren.



Hebr 9,11-12


In diesen Versen kommt die Erörterung, die in Hebr 8,7 begann, zum Abschluß. Der Verfasser hatte nachgewiesen, daß das Alte Testament den besseren Neuen Bund antizipierte ( Hebr 8,7-13 ) und daß die Rituale des Alten Bundes, die in einem "irdischen Heiligtum" vollzogen wurden, selbst auf ihre Unzulänglichkeit verwiesen ( Hebr 9,1-10 ). Nun kommt er auf die Überlegenheit des Dienstes Christi als Mittler des Neuen Bundes zu sprechen (V. 11 -15 ).

Christus aber ist gekommen als ein Hoherpriester der zukünftigen Güter durch die größere und vollkommenere Stiftshütte . Er ist durch sein eigenes Blut, (nicht durch das Blut von Tieren) ein für allemal in das Heiligtum eingegangen (V. 12 ; vgl. das Blut Christi in V. 14 ; Hebr 10,19.29;13,20 ) - ebenfalls ein Beweis für die Überlegenheit seines Dienstes, denn sein Blut hat eine ewige Erlösung erworben . Der Wert seines Opfers ist also unermeßlich viel größer als der der Tieropfer der levitischen Ordnung. Mit ihm wurde ein vollkommenes Lösegeld für die Erlösung der Menschen gezahlt, das nicht wiederholt werden muß (Christi Opfer gilt "ein für allemal", ephapax ; vgl. Hebr 7,27;10,10; die Erlösung, die er vollbracht hat, ist eine ewige).



Hebr 9,13-14


Diese "ewige Erlösung", in der die Segnungen des Neuen Bundes (vgl. Hebr 8,10-12 ) alle Menschen erreicht haben, soll sich auf den Dienst der Gläubigen für Gott auswirken. Die Rituale des Alten Bundes heiligten die Unreinen, machten sie allerdings nur äußerlich rein. Das Blut Christi dagegen bewirkt sehr viel mehr. Es war ein unschätzbares Opfer, denn Christus hat sich damit selbst als Opfer ohne Fehl durch den ewigen Geist Gott dargebracht . In dieser großartigen Zusicherung vereint der Verfasser des Hebräerbriefes alle drei Personen der Gottheit im Opfer Christi, was die Größe seiner Erlösungstat noch herrlicher erscheinen läßt. "Ohne Fehl" ( amOmon ) gibt in angemessener Weise die Vollkommenheit Christi wieder (vgl. Hebr 4,15;7,26 ), dasselbe Wort wurde auch für makellose Opfertiere verwendet.

Ein solches Opfer sollte unser Gewissen reinigen von den toten Werken . Der Ausdruck "tote Werke" steht hier eindeutig für die levitischen Riten, die im Gegensatz zum Werk Christi kein geistliches Leben schenken können.

Wie schon in Hebr 6,1 ,wo ebenfalls von den "toten Werken" die Rede war, möchte der Verfasser des Hebräerbriefes seine Leser dazu bewegen, jeden Gedanken an eine Rückkehr zu den Ritualen des Alten Bundes aufzugeben. Sie sollen innerlich so frei sein, daß sie gar nicht das Bedürfnis nach Beteiligung an derartigen Dingen verspüren, und indem sie ihr Vertrauen nach wie vor ganz auf die vollkommene und endgültige Macht des Kreuzes setzen, sollen sie bei ihrem Bekenntnis bleiben und dem lebendigen Gott im Rahmen der Ordnung des Neuen Bundes dienen .



Hebr 9,15


Damit bleiben sie in der Hoffnung auf das verheißene ewige Erbe (vgl. "ewige Erlösung" in V. 12 und "ewiger Geist" in V. 14 ), das denen zugesagt ist, die am Leben des Neuen Bundes teilhaben dürfen. Christus ist der Mittler (vgl. Hebr 8,6;12,24 ) dieses Bundes, und das "Erbe" ist den Berufenen aufbewahrt, die der Tod des Mittlers von aller Schuld aus den Übertretungen unter dem ersten Bund reingewaschen hat.

Der Verfasser des Briefes argumentiert hier möglicherweise gegen die Taktik der Sektierer und auch anderer Leute, an das Schuldgefühl der Judenchristen zu appellieren, denen sicherlich oft vorgehalten wurde, sie hätten den Glauben ihrer Vorfahren verraten. Das Blut Christi soll ihr Gewissen für immer beruhigen und sie dazu veranlassen, dem "ewigen Erbe" nachzustreben, das die Gemeinschaft des Neuen Bundes für sie bereithält. Natürlich war sich der Briefschreiber an dieser Stelle ebenso wie sonst bewußt, daß seine Leser nur "durch Glauben und Geduld die Verheißungen ererben" konnten ( Hebr 6,12 ), doch wenn sie ihr Gewissen am Kreuz reinwaschen lassen, dann können sie ungeteilten Sinnes diesem Erbe nachjagen.


c. Das höhere Opfer
(
9,16 - 28 )


Der Briefschreiber hat unmißverständlich klargemacht, daß der Tod Christi einen neuen, besseren Bund heraufgeführt hat ( Hebr 9,11-15 ), der den Tieropfern überlegen ist ( Hebr 9,12-14 ). Es muß jedoch zunächst noch festgestellt werden, ob ein solches Opfer überhaupt erforderlich war. Ein Schlüsselwort der folgenden Texteinheit ist deshalb der Begriff der Notwendigkeit, des Müssens ( anankE , V. 16.23 ). Im Laufe seiner Erörterung dieses Aspektes unterstreicht der Autor die beispiellose Größe des Opfertodes Christi.



Hebr 9,16-17


Zu Beginn des neuen Gedankenganges wandelt er den zentralen Begriff des Bundes ( diathEkE ) bedeutungsmäßig leicht ab im Sinne von Testament (im Griechischen das gleiche Wort). Ein "Bund" und ein "Testament" sind zwar nicht unbedingt dasselbe, doch der Briefschreiber vertritt die Auffassung, daß der Neue Bund bei genauerem Zusehen einer testamentarischen Verfügung gleichkommt. Wie bei einem Testament werden alle Anordnungen durch den Testator festgelegt, und die vom Testament Begünstigten können den Bedingungen lediglich zustimmen.

Ausgehend von diesem Verständnis argumentiert der Schreiber, daß die Kraft des Neuen Bundes - ähnlich wie bei einem menschlichen letzten Willen - vom Tod dessen abhängt, der das Testament gemacht hat. Erst dann tritt es in Kraft .



Hebr 9,18-21


Der Alte Bund wurde außerdem mit Blut gestiftet. Unter Bezugnahme auf Material, das wohl teilweise aus Überlieferungen stammte, die dem Verfasser des Hebräerbriefes bekannt waren, jedoch im Alten Testament nicht näher spezifizierbar sind, schildert er den ersten Bundesschluß als zeremonielles Geschehen, in dessen Verlauf es auch zur Besprengung mit Opferblut kam.

 

Hebr 9,22


In diesem Vers geht es nochmals um die Zeremonien des Alten Bundes, wobei die Wendung "fast alles" sich möglicherweise auf das Mehl-Opfer bezieht, das arme Israeliten zur Sühne für ihre Sünden darbringen konnten ( 3Mo 5,11-13 ). Doch zugleich bleibt das gesamte System einschließlich des Versöhnungsfestes im Blick, das auf die Sühne für alle Sünden des Volkes zielte und das deutlich macht: Ohne Blutvergießen geschieht keine Vergebung . Diese Aussage hat auch im Neuen Bund ihre grundlegende Gültigkeit behalten.



Hebr 9,23


Indem er den Kreis zum Neuen Bund schließt, hält der Briefschreiber fest: der Tod Christi war nötig, er mußte geschehen. Bloße Abbilder ( hypodeigmata ; vgl. Hebr 8,5;9,23 ) der himmlischen Dinge können vielleicht durch Tieropfer geheiligt werden, doch die himmlischen Dinge selbst erfordern mehr als das. Der Ausdruck "himmlische Dinge" umfaßt ganz allgemein die neuen priesterlichen Verrichtungen, in deren Mittelpunkt der Himmel steht. Auch bei ihnen geht es um die Sünde der Menschen, weshalb sie mit einem Opfer beginnen müssen, das ausreicht, diese Sünde "aufzuheben" (V. 26 ). Der Tod Christi erfüllt diese Voraussetzung.



Hebr 9,24-26


Christus wurde als Hoherpriester des Neuen Bundes eingesetzt, um die sündigen Menschen im Himmel selbst, d. h. vor dem Angesicht Gottes zu vertreten. Deshalb mußte sein Opfer größer sein als jene, die nur den Eintritt in ein Heiligtum, das mit Händen gemacht und nur ein Abbild ( antitypa ) des wahren Heiligtums ist , gestatteten. Genausowenig konnte Christus wiederholte Opfer, wie sie das levitische Opferwesen vorsah, darbringen, denn dann hätte er oft leiden müssen vom Anfang der Welt an . Es liegt jedoch auf der Hand, daß das himmlische Priesteramt Christi ein endgültiges, ausreichendes, einmaliges Opfer verlangte. Deshalb ist er am Ende der Welt ... ein für allemal ( hapax ; vgl. V. 26 ; vgl. auch ephapax in Hebr 7,27; 9,12;10,10 ) erschienen, ... die Sünde aufzuheben , was den Priestern der alten Ordnung unmöglich war. Mit der Wendung "am Ende der Welt" ist offensichtlich sowohl der Höhepunkt der Ära des Alten Testamentes gemeint als auch das unmittelbar bevorstehende Ende aller Dinge, wie der folgende Hinweis auf das zweite Kommen Christi zeigt.



Hebr 9,27-28


Mit dieser Feststellung rücken eschatologische Realitäten in den Blick. Die Menschen sind sündige Geschöpfe, die dazu bestimmt sind, einmal zu sterben, danach aber das Gericht zu durchlaufen. Diese Gefahr ist nun jedoch gebannt, weil Christus einmal (hapax; vgl. V. 28 ) geopfert worden (ist), die Sünden vieler wegzunehmen . Das wiederholte "einmal" ( Hebr 9,27-28 ) und "ein für allemal" ( Hebr 7,27;9,12.26;10,10 ) unterstreicht die Endgültigkeit und Einzigartigkeit der Opfertat Christi im Gegensatz zum regelmäßig wiederkehrenden Opferdienst der Leviten. Doch das einmalige, endgültige Opfer Christi (V. 26.28 ) gleicht auch dem einmaligen Tod, den jeder Mensch sterben muß (V. 27 ). Nun können die, die auf ihn warten ( apekdechomenois ; der Ausdruck kommt siebenmal im Neuen Testament im Zusammenhang mit der Wiederkunft Christi vor: Röm 8,19.23.25; 1Kor 1,7; Gal 5,5; Phil 3,20; Hebr 9,28 ), sich ohne Furcht vor dem Gericht, sondern in Erwartung des Heils auf sein Kommen freuen.

Sein erster Advent geschah, um die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen, doch zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen .

Der Verfasser des Hebräerbriefes gibt auf diese Weise indirekt zu erkennen, daß der Kreis derer, "die auf ihn warten", kleiner ist, als der Kreis derer, denen sein Tod zugute kam. Er setzt sich, wie die vorangehenden Ermahnungen zeigen, aus Menschen zusammen, die "die Zuversicht vom Anfang bis zum Ende festhalten" ( Hebr 3,14 ). Das "Heil", das Christus ihnen bei seiner Wiederkunft bringen wird, ist das "ewige Erbe", das sie erben sollen (vgl. Hebr 9,15;1,14 ).



d. Die Wirkung des einmaligen Opfers
(
10,1 - 18 )


Dies ist der letzte Abschnitt der thematischen Einheit, die mit Kapitel 7 begann. In diesem Kapitel stellte der Briefschreiber die Überlegenheit Christi als eines Priesters nach der Ordnung Melchisedeks über die levitische Priesterschaft heraus. In Hebr 8,1-10,18 ging es dann um die Überlegenheit des priesterlichen Amtes Christi, die auf einem neuen, besseren Bund beruht ( Hebr 8,7-9,15 ), in dessen Folge es zu einem größeren und vollkommeneren Opfer kam ( Hebr 9,16-28 ). Zum Abschluß wird nun noch die vervollkommnende Wirkung dieses einmaligen Opfers auf die Anhänger des Neuen Bundes beschrieben.



Hebr 10,1


Wegen seines vorläufigen Charakters konnte das Gesetz ... die, die opfern, nicht für immer vollkommen machen . Mit "vollkommen machen" ist nicht eine sündlose Vollkommenheit gemeint, sondern, wie die folgende Erörterung zeigt, die endgültige Aufhebung der Schuld, die denjenigen, die an die Endgültigkeit des Opfers am Kreuz glauben, freien Zugang zu Gott schenkt.


Hebr 10,2-4


Die fortgesetzten Opfer der alten Ordnung, die "alle Jahre" wiederholt werden mußten (V. 1 ), waren ein Beweis für die Unzulänglichkeit des Gesetzes, die, die den Gottesdienst ausrichten , "vollkommen" zu machen. Statt ihnen einen solchen Stand vor Gott zu verschaffen, daß sie sich kein Gewissen mehr gemacht hätten über ihre Sünden , dienten die jährlichen Opferrituale (am Versöhnungsfest) eher als eine Erinnerung an die Sünden , da Tierblut nicht die Macht hat, Sünden wegzunehmen .


Hebräer

Hebr 10,5-7


Aus diesem Grund gibt es schon im Alten Testament eine Weissagung ( Ps 40,7-9 ) über den, der Gottes Willen wirklich erfüllen wird. Dieser Ps. nahm in prophetischer Weise einige der Worte Christi bei seinem ersten Advent vorweg. Die Wendung "einen Leib aber hast du mir geschaffen" ist die Übersetzung der Septuaginta des hebräischen Ausdrucks "du hast mir Ohren gemacht". Der griechische Übersetzer, dessen Deutung dieses rätselhaft klingenden Satzes der Verfasser des Hebräerbriefes übernommen hat (und der den Text offensichtlich unter der Führung des Geistes übertrug), faßte den hebräischen Text als eine Redefigur auf (eine sogenannte Synekdoche), bei der ein Teil für das Ganze genommen wird. Wenn Gott "Ohren machen" soll, so muß er zunächst "einen Leib schaffen". Diese Auslegung ist offensichtlich gültig und richtig, wie ihre Zitation hier im Hebräerbrief beweist. In dem "Leib", den er in der Inkarnation annahm, konnte Christus sagen, daß er gekommen sei, um das zu bewirken, was die alttestamentlichen Opfer nicht vollbringen konnten, nämlich die Vervollkommnung der Anhänger des Neuen Bundes. In diesem Sinne tat er Gottes Willen.



Hebr 10,8-10


Es folgt eine genauere Darlegung des soeben zitierten Textes. Mit dem Satz "da hebt er das erste auf, damit er das zweite einsetze" (V. 9 ) bezieht sich der Briefschreiber auf die Aufhebung der Opferpraxis des Alten Bundes, die Gott letztlich nicht zufriedenstellen konnte. An ihre Stelle trat ein Bund nach dem Willen Gottes. Nach diesem Willen sind wir geheiligt ein für allemal ( ephapax ; vgl. Hebr 7,27;9,12 ) durch das Opfer des Leibes Jesu Christi .

Die Verbform "geheiligt" ( hEgiasmenoi ; vgl. 10,14.29 ) steht im Griechischen in einem Tempus, das - auch im Zusammenhang mit dem Rest des Satzes - keinen Zweifel darüber läßt, daß die Heiligung bereits eine vollendete Tatsache ist. Nirgendwo im Hebräerbrief spricht der Verfasser von einer "fortschreitenden Heiligung" im Leben des Gläubigen. "Heiligung" ist für ihn vielmehr ein funktionales Äquivalent zum paulinischen Konzept der Rechtfertigung. Durch die Heiligung, die im Tod Christi vollendet ist, werden die Anhänger des Neuen Bundes zu einem von keiner Schuld belasteten Dienst vollkommen gemacht (vgl. 2,11 ).



Hebr 10,11-14


Die soeben gemachte Aussage wird noch verstärkt durch den Gegensatz zur levitischen Priesterschaft. Die levitischen Priester konnten in ihrem Amt nie zur Ruhe kommen, weil ihr Opferdienst nie endete. Daß Christus dagegen zur Rechten Gottes (sitzt) (vgl. Hebr 1,3; 8,1; 12,2 ), ist ein Zeichen dafür, daß sein Opfer für immer ( eis to diEnekes ; vgl. den Kommentar zu Hebr 7,3 ) gilt und daß er nun mit Zuversicht seinen endgültigen Sieg über seine Feinde erwarten kann. Durch ein einziges Opfer ( Hebr 10,12.14 ) - im Gegensatz zu den vielen Opfern, die von den Priestern Tag für Tag und oftmals dargebracht werden - hat er für immer die vollendet, die geheiligt werden . Die Wendung "geheiligt werden" erweckt den Eindruck eines fortdauernden Prozesses, was jedoch im Widerspruch zu der definitiven Aussage "sind wir geheiligt ein für allemal" in Vers 10 steht. Es wäre also besser, die Wendung mit "die geheiligt sind" ( tous hagiazomenous ; vgl. V. 29 ) wiederzugeben. "Die Geheiligten" sind "vollendet" vor Gott (vgl. Hebr 11,40;12,23 ), d. h., sie dürfen sich ihm im Bewußtsein ihres Angenommenseins, das Christus durch seinen Tod für sie erwirkt hat, nähern (vgl. Hebr 10,19-22 ).



Hebr 10,15-18


Im Rückgriff auf seinen Grundlagentext über die Wohltaten des Neuen Bundes (vgl. Hebr 8,8-12 ) zitiert der Briefschreiber nochmals einige Passagen daraus (in Hebr 10,16 zitiert er Jer 31,33 und in Jer 10,17; 31,34 ). Der Autor betrachtet diesen Text als ein Zeugnis des Heiligen Geistes und als Beleg dafür, daß die endgültige Vergebung, wie sie der Neue Bund verheißt, bedeutet, daß kein Opfer mehr für die Sünde nötig sein wird. Ein Mensch, der sich von dem einen, ausreichenden und endgültigen Opfer Christi abwendet, kann kein anderes wirksames Opfer mehr finden, zu dem er seine Zuflucht nehmen könnte (vgl. Hebr 10,26 ).



D. Die vierte Warnung
(
10,19 - 39 )


In gewisser Weise ist die folgende, in steigernder Abfolge formulierte Warnung die bestimmteste und strengste im Hebräerbrief. Sie schließt sich an die Ausführung über das hohepriesterliche Amt und den priesterlichen Dienst Jesu Christi an und nimmt damit die Implikationen der in diesem Abschnitt gemachten Aussagen mit auf und führt sie zu Ende. Wie an anderen Stellen auch mischt der Briefschreiber jedoch seine feierliche Warnung mit Worten des Trostes und der Ermutigung.



1. Seelsorgerliche Ermahnung
(
10,19 - 25 )




Hebr 10,19-22


Die zentrale Aussage dieser Verse konzentriert sich in den Worten liebe Brüder (vgl. Hebr 3,1.12 ),... laßt uns hinzutreten zu Gott. Die dazwischenliegenden Äußerungen, beginnend mit dem Wort "weil" (V. 19 ), bilden die Grundlage für diesen Aufruf, sich Gott zu nähern. Die Leser des Hebräerbriefes sind Menschen des Neuen Bundes ("Brüder"), die die Freiheit ( parrEsian ; vgl. Hebr 3,6;4,16;10,35 ) haben, vor Gott zu treten. Dieser Gedanke wird noch erweitert durch den Gebrauch der Bildwelt des Alten Bundes. Gottes Anwesenheit im Heiligtum hat nun eine vollkommen neue Bedeutung gewonnen, und der Vorhang , der einst die Menschen aus dem Allerheiligsten fernhielt, existiert nicht mehr. Er war ein Symbol des Leibes Christi - ein Hinweis darauf, daß der Verfasser hier möglicherweise an das Zerreißen des Tempelvorhangs im Augenblick des Todes Christi dachte ( Mt 27,51 ). Auf jeden Fall öffnete sein Tod den Gläubigen einen neuen ( prosphaton ; das Wort kommt nur an dieser Stelle im Neuen Testament vor) und lebendigen Weg zu Gott - einen Zugang, der von den neuen und lebensspendenden Realitäten des Neuen Bundes geprägt ist.

Die Aufforderung "hinzuzutreten" stützt sich außerdem darauf, daß wir ... einen Hohenpriester über das Haus Gottes (haben) , mit allen Konsequenzen, die diese Tatsache auf dem Hintergrund der vorausgegangenen Erörterungen hat. Die Gläubigen können sich deshalb mit wahrhaftigem ( alEthinEs , "wahr, verläßlich", von aletheia , "Wahrheit") Herzen in vollkommenem Glauben nähern. Sie sollen keine Scheu vor der großartigen Realität des Neuen Bundes empfinden, sondern im freudigen Bewußtsein ihrer Freiheit von Schuld ( besprengt in unsern Herzen und los von dem bösen Gewissen ) und mit einem Gefühl für persönliche Heiligung, die das Opfer Christi ihnen ermöglicht hat ( gewaschen am Leib mit reinem Wasser ), zu Gott kommen. Wahrscheinlich sind diese Worte als eine Ermahnung zu verstehen, sich fest auf die reinigende Wirkung des Kreuzes Christi zu verlassen und in diesem Bewußtsein der inneren und äußeren Reinheit mit Freude vor Gott zu treten (vgl. 1Joh 1,9 ).

 

Hebr 10,23-25


Zu diesem freimütigen Umgang mit Gott gehört notwendigerweise das Festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung in vollem Vertrauen auf die Erfüllung der göttlichen Verheißung. Der Briefschreiber macht an dieser Stelle deutlich, daß seine Sorge um die Treue zum Glauben keine Abstraktion ist, sondern aus der Auseinandersetzung mit einer realen Bedrohung erwächst. Die Gemeinden, an die er schreibt, bedürfen dringend der wechselseitigen Fürsorge und Ermahnung ( zur Liebe und zu guten Werken ). Die Leser sollen ihre Versammlungen nicht verlassen, wie einige offenbar zu tun pflegten. Es scheinen also auch bei ihnen schon einige vom christlichen Glauben abgefallen zu sein, auch wenn seine Worte sich möglicherweise auf andere Gemeinden beziehen, in denen es zum Abfall gekommen war. In jedem Fall sollen ihre wechselseitigen Bemühungen, sich gegenseitig anzuspornen, wachsen, wenn sie sehen, daß sich der Tag naht (vgl. Hebr 10,37 ). In diesen Versen erscheint eine wichtige neutestamentliche Begriffstrilogie: Glaube (V. 22 ), Hoffnung (V. 23 ) und Liebe (V. 24 ).

Dieser erneute Hinweis auf den zweiten Advent Christi erweckt den Eindruck, als ob der Verfasser des Hebräerbriefes sich Sorgen machte, daß wirklich Gläubige in Gefahr waren, die Hoffnung auf das Kommen des Herrn aufzugeben und ihr Bekenntnis zum Glauben an Christus zu widerrufen (vgl. den Kommentar zu Hebr 1,13-2,4;6,9 ). Sie sollen stattdessen ihre Erwartungen an die Zukunft als Gewißheiten ansehen ( denn er ist treu, der sie verheißen hat ). Wenn sie nur ihre Augen heben, muß ihnen klar werden, daß "der Tag naht".



2. Erneute Warnung
(
10,26 - 31 )


Hebr 10,26-27


Der Satz "wenn wir mutwillig sündigen" zielt, wie aus dem Kontext ersichtlich ist (vgl. V. 23 ), wiederum auf die im ganzen Brief spürbar werdende Angst vor dem Abfall vom Glauben. Die meisten Sünden geschehen "mit Absicht", doch an dieser Stelle ist der Verfasser offensichtlich von der altestamentlichen "Sünde aus Vorsatz" (vgl. 4Mo 15,30-31 ), die außerhalb der Opfervorkehrungen des Gesetzes lag, beeinflußt. Der Abfall vom Glauben wäre eine solche "vorsätzliche" Tat, und für diejenigen, die sie begehen, gibt es hinfort kein andres Opfer mehr (vgl. Hebr 10,18 ). Wenn das wirksame Opfer Christi abgelehnt wird, bleibt kein anderes, das den Apostaten vor dem Gericht und dem gierigen Feuer schützen kann. Ein Christ, der "die Zuversicht vom Anfang" ( Hebr 3,14 ) aufgibt, stellt sich selbst auf die Seite der Feinde Gottes und kreuzigt damit "den Sohn Gottes abermals" und macht ihn "zum Spott" ( Hebr 6,6 ), wie der Verfasser des Hebräerbriefes es zuvor schon angedeutet hatte. Ein solches Verhalten verdient nichts anderes als Gottes flammende Empörung und Vergeltung. Auch hier handelt es sich jedoch nicht um eine Anspielung auf die Hölle (vgl. den Kommentar zu Hebr 6,8 und Hebr 10,29 ).



Hebr 10,28-29


Unter dem Alten Bund wurde ein Israelit, wenn er das mosaische Gesetz mißachtete und mindestens zwei oder drei Zeugen seine Handlungsweise bezeugen konnten, zum Tode verurteilt. Vor diesen Hintergrund stellt der Briefschreiber nun die schwerwiegendere Übertretung: Wenn schon die Mißachtung eines Bundes, der weniger vollkommen war, so schwerwiegende Vergeltungsmaßnahmen nach sich zog, wieviel schlimmer muß dann erst die Mißachtung des Neuen Bundes geahndet werden, der ja, wie im bisherigen Argumentationsverlauf ganz deutlich gemacht wurde, dem Alten Bund in jeder Hinsicht überlegen ist? Die Antwort kann hier nur sein, daß die Bestrafung in diesem Fall um vieles härter sein wird.

Um das zu demonstrieren, zeigt der Verfasser den Abfall vom Glauben im folgenden in erbarmungslosem Licht. Ein Mensch, der vom Neuen Bund abfällt, (tritt) den Sohn Gottes mit Füßen und (hält) das Blut des Bundes (vgl. "das Blut des ewigen Bundes"; Hebr 13,20 ) für unrein, durch das er doch geheiligt wurde . Die Verbform "geheiligt wurde" bezieht sich eindeutig auf wahre Christen, die der Autor schon zuvor als "ein für allemal geheiligt durch das Opfer des Leibes Jesu Christi" ( Hebr 10,10 ) und als durch dieses heiligende Werk "für immer vollendet" (V. 14 ) bezeichnet hat. Manche Exegeten gehen jedoch von dieser Auslegung ab und behaupten, daß Christus der Geheiligte sei, von dem hier die Rede ist, bzw. daß diese Person nur vorgibt , "geheiligt" zu sein. Derartige Thesen liegen dem Verfasser des Hebräerbriefes jedoch fern und sind so sehr an den Haaren herbeigezogen, daß sie ihre eigene Widerlegung schon in sich tragen. Der Ernst, der in einer solchen Handlung liegt, ist vielmehr sein größtes Anliegen. "Das Blut des Bundes" (das die Gläubigen heiligt) als etwas "Unheiliges" ( koinon , "profan") zu behandeln und seine Wirksamkeit zu bestreiten hieße, eine verabscheuungswürdige Sünde zu begehen, die selbst die tödlichen Vergehen gegen den Alten Bund in den Schatten stellt. Dieser Sünde fügt ein Apostat dann noch die Schmähung des Geistes der Gnade hinzu, die ihn ursprünglich für den Glauben an Christus gewann. Ein solcher geistlicher Aufstand verlangt ganz eindeutig nach einer sehr viel härteren Strafe, als es die Todesstrafe war, die der mosaische Bund forderte.

Doch auch hier denkt der Verfasser nicht an die Hölle. Es gibt viele Formen göttlicher Vergeltung im Menschenleben, die schlimmer sind als ein plötzlicher Tod. Ja, Jeremia beklagte sich gerade in diesem Sinne über die Strafe, die über Jerusalem verhängt worden war ( Kl 4,6.9 ). Oder man denke nur an König Saul, dessen letzte Tage mit so schwerer geistiger und emotionaler Verwirrung belastet waren, daß der Tod geradezu eine Befreiung dagegen schien.



Hebr 10,30-31


Niemand sollte eine solche Warnung als leere Drohung abtun. Gott selbst hat sich das Recht vorbehalten, Vergeltung zu üben und sein Volk zu richten . Mit diesem Zitat bezieht sich der Verfasser des Hebräerbriefes zweimal auf das 5. Buch Mose ( 32,35 - 36 ), eine Passage, die das Bild des vom göttlichen Vergeltungsgericht gebeugten Volkes Israel besonders anschaulich macht (vgl. v. a. 5Mo 32,19-27 ). Wer diesen Text und andere Schilderungen des göttlichen Zorns über "sein Volk" kennt, wird zustimmen: Schrecklich ist's, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.



3. Erneuter Zuspruch
(
10,32-39 )


Wie jedesmal nach besonders strengen Worten der Ermahnung schließt der Briefschreiber seine Warnung mit tröstendem Zuspruch.



Hebr 10,32-34


Um Menschen für künftige Anfechtungen zu wappnen, ist es häufig hilfreich, sie an den Mut zu erinnern, den sie in der Vergangenheit in ähnlichen Situationen gezeigt haben. An diesen Punkt knüpft der Briefschreiber an. Seine Leser wissen, was es heißt, einen großen Kampf des Leidens durchzustehen. (Die Verbform "erduldet habt", hypemeinate , ist die Übersetzung eines Wortes, das gewöhnlich mit "nicht aufgeben, standhaft bleiben" wiedergegeben wird, vgl. V. 36 .) Sie wissen auch, was es heißt, öffentlich verspottet und verfolgt zu werden oder anderen zu helfen, die eine solche Erfahrung gemacht haben (V. 33 ). Sie haben Mitgefühl für ihre Brüder, die eingesperrt waren, gezeigt und haben den Verlust irdischer Besitztümer freudig hingenommen, weil sie die Gewißheit himmlischen Reichtums besitzen (V. 34 ). Es wäre gut, wenn sie sich wieder auf diese ihre standhafte Haltung besinnen. Was immer ihnen auch bevorstehen mag - und der Briefschreiber nimmt an, daß es ähnlich sein wird wie das Vergangene -, es wird ihnen helfen, wenn sie der früheren Tage, ... nachdem sie erleuchtet waren, gedenken (vgl. "die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben", Hebr 10,26 ,und "erleuchtet worden sind" in Hebr 6,4 ).



Hebr 10,35-36


Dies ist nicht die Zeit, das Vertrauen ( parrEsia ; vgl. Hebr 3,6;4,16;10,19 ), das sie haben, wegzuwerfen . Alles, was bisher über das "ewige Erbe" gesagt worden ist - die Herrlichkeit der vielen Söhne - sollte ihnen eigentlich zeigen, daß dieses Vertrauen, wenn sie es festhalten, eine große Belohnung hat . Die Leser des Hebräerbriefes brauchen daher nur eines, wie der Verfasser schon mehrmals implizit und explizit deutlich gemacht hat: Geduld ( hypomonEs ), damit sie, indem sie den Willen Gottes tun (vgl. Hebr 10,9 ), das ihnen Verheißene empfangen . Dieser Satz bringt wie kaum ein zweiter das zentrale paränetische Anliegen des ganzen Hebräerbriefes auf den Punkt.

 

Hebr 10,37-38


Wenn sie über die offensichtliche Verzögerung der Wiederkunft Christi bekümmert sind, so können sie sich in der Gewißheit beruhigen, daß es nur noch eine kleine Weile dauern wird, so wird kommen, der da kommen soll, und wird nicht lange ausbleiben . Diese Formulierung und das Folgende sind der Septuaginta-Übersetzung von Jes 26,21 und Hab 2,3-4 entnommen. Es handelt sich dabei allerdings nur um Anspielungen und nicht um präzise Zitate, wie das Fehlen einer einleitenden Wendung, etwa "er sagt" zeigt. In dem Ausdruck "Mein (oder "der") Gerechter" (nur einige wenige griechische Handschriften haben die Lesart "mein") taucht der paulinische Gedanke des durch den Glauben gerechtfertigten Menschen auf. Es ist anzunehmen, daß der Verfasser des Hebräerbriefes diesen Gedanken ähnlich verstand. Ein Gerechtfertigter soll aus Glauben leben - wie es der Briefschreiber seinen Lesern nahegelegt hat.

Wenn er aber zurückweicht , d. h., wenn ein solcher "Gerechter" abfällt und sein christliches Bekenntnis schmäht, so kann Gottes Wohlgefallen nicht länger auf seinem Leben ruhen. Im Bewußtsein der schwerwiegenden Konsequenzen seiner Aussage mildert der Schreiber das Gesagte und behält damit den ermutigenden Ton bei, der ihm hier so wichtig ist.

 

Hebr 10,39


Er bekräftigt: " Wir aber sind nicht von denen, die zurückweichen und verdammt werden." Auch im Originaltext ist dieses "wir", das der Autor immer wieder verwendet (vgl. Hebr 2,5;5,11;8,1 usw.) und wohl im Sinne eines redaktionellen "wir" gebraucht, betont. In diesem Fall würde die Äußerung besagen: "Ich meinerseits bin fest entschlossen, nicht zurückzuweichen und die schlimmen Erfahrungen zu machen, die die göttliche Vergeltung über mich bringen würde." Die Verbform "verdammt werden" gibt das griechische apOleia wieder, das sich sowohl auf das zeitliche als auch auf das ewige Verderben beziehen kann. Hier ist das erstere gemeint. Statt das Verderben zu erleben, das ein Apostat über sich heraufbeschwört, möchte der Briefschreiber unter denen sein, die glauben und die Seele erretten ( eis peripoiEsin psychEs ). Das ist nicht als Hinweis auf die Bekehrung mißzuverstehen, vielmehr könnte man Vers 39 auch so wiedergeben: "Sondern (wir haben) den Glauben, der zur Bewahrung der Seele führt" (vgl. den Kommentar zu 1Pet 2,9 ). "Seele" wird hier allerdings im hebräischen Sinn für die Person selbst oder ihr Leben gebraucht und bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Beständigkeit im Glauben den einzelnen vor dem Elend bewahrt, das diejenigen überwältigt, die "zurückweichen". Auch wenn der Briefschreiber hier in erster Linie von seiner eigenen inneren Entschlossenheit spricht, so geht er doch eindeutig davon aus, daß seine Leser seine Auffassung teilen. Der Schlußsatz seiner Warnung ( Hebr 10,19-39 ) wird so zu einem Aufruf zu entschlossenem Durchhalten.



IV. Teil III: Die Antwort des Glaubens
( Hebr 11-12 )


Dieser letzte Hauptteil des Briefes artikuliert die Aufforderung an die Leser, in der einzig angemessenen Weise, nämlich mit Glauben, auf die bisher erörterten Gegebenheiten zu antworten. Die entscheidende Bedeutung des Glaubens ist zwar bereits transparent gemacht worden, doch seine Wichtigkeit und sein Wert sind in den Augen des Briefschreibers noch nicht ausführlich genug betrachtet worden. Wie zuvor folgt der Darlegung ( Hebr 11 ) auch hier eine Warnung und eine Mahnung ( Hebr 12 ).



A. Das Leben des Glaubens
( Hebr 11 )


Schon am Ende der vorangehenden Passage berührte der Verfasser das Thema eines Lebens aus dem Glauben (vgl. Hebr 10,37-39 ). Nun legt er dar, was das wirklich bedeutet, und zwar in einer Art und Weise, die seine Leser besonders gut nachvollziehen können, denn er beruft sich dabei auf die Glaubenserfahrungen wichtiger Gestalten der alttestamentlichen Geschichte. Wenn diese Leute den Glauben an sich erlebt haben, können es auch die Leser des Hebräerbriefes.



1. Prolog
(
11,1-3 )


Hebr 11,1-3


In einem kurzen Prolog geht der Verfasser auf drei Grundgedanken zum Glauben ein: seine Beschaffenheit, seine Verwurzelung in der Geschichte und seine Weltsicht. Seinem Wesen nach ist der Glaube eine feste Zuversicht ( hypostasis , in Hebr 1,3 in bezug auf Gott mit "Wesen" übersetzt) und ein Nichtzweifeln ( elenchos , von dem Verb elenchO , "beweisen oder überzeugen") an Hoffnungen und Dingen, die für den Menschen unsichtbar sind. Daß dieser Glaube richtig ist, zeigt sich daran, daß die Vorfahren , die ehrwürdigen Gestalten des Alten Testamentes,

durch ihn Gottes Zeugnis empfangen haben. Aber der Glaube ermöglicht es den Menschen auch, ihre Erfahrungen einzuordenen, denn durch ihn sehen die Gläubigen die Welt ( tous aiOnas , wörtlich: "die Zeitalter", auch in Hebr 1,2 mit "Welt" übersetzt) als das, was sie ist - eine Schöpfung Gottes.


2. Die Annahme des Glaubens
(
11,4 - 16 )


In seinem ersten Argumentationsdurchgang arbeitet der Briefschreiber das in Vers 2 Gesagte noch genauer heraus: Der Glaube gewinnt das Wohlwollen Gottes und findet reichen Lohn.



Hebr 11,4


Abel war gerecht und wurde von Gott angenommen, weil er ihm ein besseres Opfer dargebracht hatte - er ist ein Sinnbild jenes "Gerechten", von dem in Hebr 10,38 die Rede war. Wie Abel haben auch die Leser des Hebräerbriefes wegen des "besseren" und vollkommenen Opfers des Neuen Bundes Gnade vor Gottes Augen gefunden. Ihre ungläubigen Brüder dagegen haben wie Kain die göttliche Billigung verwirkt. Selbst der Tod löscht die Wirkung des Zeugnisses eines Mannes wie Abel nicht aus.



Hebr 11,5-6


Henoch dagegen führte ein Leben, das Gott wohlgefiel, weil er im Glauben wandelte (wie es auch die Leser des Hebräerbriefs tun sollen). Wenn Christus zu ihren Lebzeiten gekommen wäre, dann hätten auch sie den Tod nicht gesehen. Auf jeden Fall können sie Gott nur gefallen, wenn sie bei ihrem Glauben bleiben, daß er ist und daß er denen, die ihn suchen, ihren Lohn gibt .



Hebr 11,7


Daß Gott die, die ihn suchen, tatsächlich belohnt, zeigt auch das Beispiel von Noah , der ebenfalls durch den Glauben ein Erbe der Gerechtigkeit wurde. Was er erbte, war die Neue Welt, die nach der Sündflut entstand, so wie auch die Leser "die zukünftige Welt" (vgl. Hebr 2,5 ) erben werden. Der Hinweis auf Noah, der sein Haus rettete, erinnert an die Bedeutung, die der Briefschreiber dem Erbe der Christen, der Rettung, beimaß und deutet darüber hinaus darauf hin, daß ein Mensch durch seinen persönlichen Glauben in seiner Familie, mit der er ihn teilt, fruchtbar werden kann.

 

Hebr 11,8-10


Daß die Leser auf "die zukünftige Welt" vorausblicken und ihr gegenwärtiges Leben als Pilgerschaft sehen sollen, ist eine Forderung, die durch das Beispiel von Abraham gestützt wird. Dieser große Patriarch lebte als Fremdling in dem ihm verheißenen Land . So werden auch die Leser des Briefes zu Erben werden, wenn sie, wie ihr Ahnherr, auf die Stadt, die einen festen Grund hat , warten - ein Hinweis auf das himmlische, ewige Jerusalem (vgl. Offb 21,2.9-27 ).


Hebr 11,11-12


An dieser Stelle führt der Briefschreiber die erste "Heldin" des Glaubens ein, die in der Lage war, über die physische Beschränktheit ihrer Unfruchtbarkeit hinauszublicken und aus diesem Grund zur Stammutter vieler wurde. Sie hielt den für treu, der es verheißen hatte , und die Leser sollen ihrem Beispiel folgen (vgl. Hebr 10,23 ). Durch ihren Glauben kam es zu der überwältigenden Nachkommenschaft ihres Mannes, obwohl die Kraft Abrahams schon erstorben war .



Hebr 11,13-16


In einer beeindruckenden Zusammenfassung seiner Erörterung führt der Briefschreiber aus, daß all diese Menschen im Glauben leben, auch wenn sie zum Zeitpunkt ihres Todes das Verheißene noch nicht erlangt ... haben . Im Glauben sahen diese alttestamentlichen Heiligen die Dinge, die ihnen verheißen waren, von ferne , hielten daran fest, daß sie Gäste und Fremdlinge auf Erden waren, weigerten sich, (umzukehren) in das Land ..., von dem sie ausgezogen waren , und suchten stattdessen ein Vaterland . So sollen auch die Leser des Hebräerbriefes nicht umkehren, d. h. nicht zu ihren alten Religionen zurückkehren, sondern nach einem besseren Vaterland, nämlich dem himmlischen , suchen. Wenn sie sich an das Vorbild der Patriarchen halten und das tun, wird Gott (sich) ihrer nicht schämen, ihr Gott zu heißen.



3. Verschiedene Beispiele für Glaubenserfahrung
(
11,17 - 40 )


An dieser Stelle beginnt ein neues Thema: das Leben im Glauben. In einer Vielfalt von Erfahrungen bleibt der Glaube die Konstante, in der diese Erfahrungen gemacht und verstanden werden können. Der Glaube ist die "Weltsicht" (vgl. Hebr 11,3 ) eines wahren Christen.



Hebr 11,17-19


Mit Abraham kommt der Briefschreiber hier auf das Thema der "Prüfung" zu sprechen. Aus der Erprobung seines Glaubens, in der er aufgefordert wurde, den einzigen Sohn zu opfern, sollen die Leser lernen. Obwohl das, was Gott von ihm verlangte, der göttlichen Verheißung zu widersprechen schien, gelang es Abraham, sich über seine Bedenken hinwegzusetzen und auf die Macht Gottes, Leben zu schenken, zu vertrauen. So sollen auch die christlichen Leser dieses Briefes sich manchmal über die Erfahrungen ihres Lebens hinwegsetzen, wenn Gottes Verheißungen sich nicht zu erfüllen scheinen, und daran denken, daß ihre Auferweckung all diese Verheißungen erfüllen wird.



Hebr 11,20-22


Auch die anderen Patriarchen, von denen hier die Rede ist, sahen im Glauben ... auf die zukünftigen Dinge. Isaak , der daran glaubte, daß Gott seine Verheißung an Abraham und seinen Nachkommen erfüllen würde, segnete seine beiden Söhne Jakob und Esau im Blick auf ihre Zukunft. Durch den Glauben segnete Jakob, als er starb, die beiden Söhne Josefs - ebenfalls ein Werk der Treue. So sollen nun auch die Leser dieses Briefes bis ans Ende ihres Lebens bei ihrer Anbetung bleiben und an die Zukunft, die Gott verheißen hat, glauben. Josef gab, als er starb , seinem Vertrauen darauf Ausdruck, daß Gott die Israeliten aus der ägyptischen Knechtschaft befreien würde. Wie er sollen alle Christen in wahrem Glauben Vertrauen auf die Zukunft des Gottesvolkes haben.

 

Hebr 11,23


Indem er sich im folgenden dem Leben des Mose zuwendet, geht der Briefschreiber auf die Art und Weise über, wie der Glaube Widerstand und Feindseligkeit begegnet - ein Thema, das seinen Lesern wohlbekannt ist. Durch den Glauben wurde Mose ... von seinen Eltern (verborgen) , die ihm damit das Leben retteten. Sie taten das, weil sie sahen, daß er ein schönes ( asteion ; das Wort steht im Neuen Testament außer an dieser Stelle nur noch in Apg 7,20 ,wo es sich ebenfalls auf Mose bezieht) Kind war . In ihrer Freude über das kostbare Geschenk, das Gott ihnen in ihrem Sohn gemacht hatte, glaubten die Eltern des Mose offensichtlich, daß er etwas Besonderes mit ihm vorhabe. Sie fürchteten sich nicht vor des Königs Gebot und sorgten dafür, daß ihr Kind am Leben blieb. Und wirklich belohnte Gott ihren Glauben mit dem einzigartigen Lebenslauf ihres Sohnes.



Hebr 11,24-26


In einer klassischen Darstellung der Art und Weise, wie der Glaube zwischen dem verlockenden, aber vorübergehenden Genuß der Sünde und der Aussicht auf die Schmach Christi wählt, zeigt der Briefschreiber Mose als einen wahren Glaubenshelden, der ein besonderes Gespür für die eschatologischen Hoffnungen des Volkes Israel hatte. Auch seine Leser sollen die "Schmach" auf sich nehmen und auf den "Genuß der Sünde" verzichten, und es wird ihnen nicht schwerfallen, so zu handeln, wenn sie wie Mose auf die Belohnung blicken.



Hebr 11,27-28


Zur Zeit des Exodus ließ Mose sich nicht von Furcht vor dem Zorn des Königs abschrecken. Er hielt ... das Passa und das Besprengen mit Blut , das das Volk vor dem Gericht Gottes bewahrte. Genauso unerschrocken sollen auch die Leser ihre Abgesondertheit von der sie umgebenden heidnischen Welt beibehalten. Sie sollen an dem Gottesdienst festhalten, der durch das Blut des Neuen Bundes gestiftet wurde. Dann werden sie nicht unter die göttliche Vergeltung fallen (vgl. Hebr 10,19-31 ).



Hebr 11,29-31


Die Leser des Hebräerbriefes können sich außerdem auf den Sieg über ihre Feinde freuen (vgl. Hebr 1,13-14 ). Aus der Niederlage der Ägypter und dem Fall der Mauern Jerichos können sie lernen, welche Triumphe der Glaube über seine Widersacher feiern kann. Wenn es, wie es scheint, auch einige Heiden in der Empfängergemeinde gab, so konnten diese aus der Episode um die Hure Rahab Trost schöpfen, einer Heidin, die bei der Plünderung Jerichos verschont wurde.

 

Hebr 11,32-35 a


Das Alte Testament kennt zu viele Glaubenshelden, als daß der Verfasser des Hebräerbriefes auf sie alle eingehen könnte, daher greift er im folgenden nur noch einige besondere Beispiele heraus. Ganz oben auf dieser Liste stehen die Frauen, die ihre Toten durch Auferstehung wiederbekommen haben - ein wahrhafter Sieg des Glaubens, der sich nicht einmal vom Tod beugen läßt (vgl. 1Kö 17,17-24; 2Kö 4,8-37 ).



Hebr 11,35-38 (Hebr 11,35b-38)


In Abweichung von seinem bisherigen Gedankengang wendet sich der Briefschreiber nun von den offensichtlichen Triumphen des Glaubens seinen scheinbaren Niederlagen zu, die jedoch in Wirklichkeit gar keine Niederlagen waren. All diejenigen, die gemartert wurden und die Freilassung nicht angenommen haben, handelten so, weil sie wußten, daß ihre Leiden sie zu einer Auferstehung, die besser ist , führen würden. So sollen auch die Leser dieses Briefes ihre Leiden standhaft ertragen und ihren Lohn in der künftigen Welt erwarten. In der Tat haben Gläubige alle Arten physischer Leiden (V. 36 - 37.38 b zitieren ungefähr ein Dutzend Formen der Verfolgung und Peinigung) wie auch die Verbannung aus ihrer Heimat ertragen - eine Erfahrung, die wohl auch den Lesern dieses Briefes bevorstand. Doch der Verfasser tröstet sie mit der Bemerkung, daß die Welt derer nicht wert war , die sie in Acht und Bann schlug.


Hebr 11,39-40


In einer abschließenden Zusammenfassung weist der Briefschreiber darauf hin, daß sich die eschatologischen Hoffnungen der großen Glaubenshelden, von denen er sprach, bisher noch nicht verwirklicht haben. Diese Tatsache zeigt in seinen Augen, daß Gott etwas Besseres für sie und uns vorgesehen hat . Es ist in der Tat "besser für uns", daß die Zukunftshoffnungen, nach denen sie gestrebt haben, sich noch verzögern, denn nur so können die Gläubigen die Erfahrung der Nachfolge Christi machen, des Messias, der sie in die Herrlichkeit führt. Die Vervollkommnung (vgl. Hebr 10,14;12,23 ) der ehrwürdigen Gestalten des Alten Testamentes, d. h., die Verwirklichung ihrer Hoffnungen, vollzieht sich also erst, wenn alle Gläubigen mit ihnen vereint sind.



B. Die letzte Warnung
( Hebr 12 )


Der Autor schließt den Hauptteil des Briefes mit einer letzten Mahnung und Warnung. Diese Mahnung erwächst auch hier ganz direkt aus den vorhergehenden Ausführungen. Die Erörterungen über das Glaubensleben führen erneut zu einem Aufruf zur Beständigkeit.



1. Einleitende Ermahnung
(
12,1-2 )


Hebr 12,1-2


Eine Wolke von Zeugen aus dem Alten Testament steht für das engagierte Glaubensleben, von dem im Hebräerbrief die Rede ist. (Das heißt nicht, daß diese Zeugen die heutigen Christen beobachten.) Daher sollen die Gläubigen laufen mit Geduld ( hypomonEs ; vgl. Hebr 10,32.36;12,2-3.7 ) in dem Kampf , in dem sie sich als Christen bewähren müssen, und ablegen alles, was sie beschwert, und die Sünde, die sie ständig umstrickt ( euperistaton ). Ihr höchstes Vorbild dabei ist immer noch Jesus , wie bewundernswert die alttestamentlichen Gestalten auch sein mögen. Er ist sowohl beides, der Anfänger und Vollender des Glaubens . Der Begriff "Anfänger des Heils" ( archEgon ) tauchte schon in Hebr 2,10 auf (vgl. den Kommentar dort) und ist ein Ausdruck dafür, daß Jesus den Christen auf dem Pfad des Glaubens, auf dem sie ihm nun folgen sollen, "voranging". Zugleich "vollendete" er den Glaubensweg auch, indem er ihn erfolgreich bis ans Ende ging. Er behielt das Ziel seines Auftrags im Auge, die Freude, von der in Hebr 1,9 die Rede ist, wo ihm der ewige Thron zugewiesen wird. Auch die Gläubigen werden Anteil an dieser Freude haben und sollen immer an sie denken. Nachdem er das Kreuz erduldete ( hypemeinen , das Verb ist verwandt mit dem Substantiv hypomonE in Hebr 12,1; vgl. V. 3.7 ) und die Schande gering achtete , nahm Jesus den Ehrenplatz zur Rechten des Thrones Gottes ein (vgl. Hebr 1,3;8,1;10,12 ), der schon jetzt auf seinen endgültigen Sieg und den der Gläubigen hindeutet (vgl. Hebr 1,13-14 ).

Hebräer

2. Ermutigung zu standhaftem Ausharren
(
12,3 - 11 )


Es ist nur natürlich, daß die Menschen den Ernst ihrer Lage leicht überschätzen. Dennoch möchte der Schreiber des Hebräerbriefes seine Leser zu einer objektiven Einschätzung ihrer Situation bringen.



Hebr 12,3-4


Wenn sie an den Widerspruch ... von den Sündern denken, mit dem Jesus konfrontiert war und den er erduldet hat ( hypomemenEkota ; vgl. Hebr 12,1-2.7 ), so müßten sie eigentlich Mut fassen. Immerhin mußten sie im Kampf gegen die Sünde noch nicht bis aufs Blut widerstehen . Mit "Sünde" meint der Verfasser wahrscheinlich hauptsächlich das Verhalten der "Sünder", die sich gegen sie stellten. Doch er dachte dabei sicher auch an ihre eigene Sündhaftigkeit, der sie sich entgegenstellen mußten, um in ihrem christlichen Bekenntnis standhaft zu bleiben.



Hebr 12,5-8


Die Leser des Hebräerbriefes hatten offenbar den Trost in Sprüche Hebr 3,11-12 vergessen , in dem von der göttlichen Erziehung als Beweis für die göttliche Liebe die Rede ist. Sie sollen den Mut nicht sinken lassen (vgl. Hebr 12,3 ), sondern diese Erziehung ... dulden ( hypomenete , wörtlich "standhaft bleiben"; vgl. Hebr 12,1-3 ) und als einen Beleg ihrer Gotteskindschaft betrachten, d. h. als Beweis dafür, daß sie auf die Herrlichkeit der vielen Söhne (vgl. Hebr 2,10 und den dortigen Kommentar) vorbereitet werden. Alle Gotteskinder werden von Gott gezüchtigt. In der Antwort auf die Wendung "denn wo ist ein Sohn, den der Vater nicht züchtigt?" gebraucht der Briefschreiber zum letzten Mal den Begriff metochoi ("Teilhaber"; vgl. Hebr 1,9;3,1.14;6,4; wörtlich heißt es im Griechischen: "... Züchtigung, die doch alle erfahren haben"). Bei denen, die ohne Züchtigung und daher Ausgestoßene und nicht Kinder sind, denkt er wahrscheinlich an Christen, die durch ihre Treulosigkeit im Glauben ihres Erbes (d. h. der Belohnung) verlustig gingen, das die vielen Söhne und Töchter erhalten. (In der römischen Welt war ein illegitimes Kind nicht erbberechtigt.) Solche Christen erleben, wie der Verfasser des Briefes gezeigt hat, eine schwere Bestrafung. Diejenigen Gläubigen dagegen, die Gottes "Züchtigung" durchlaufen, werden durch diesen erzieherischen Prozeß ( paideia , "Kindererziehung"; vgl. Eph 6,4 ) auf ihre Belohnung im Tausendjährigen Reich vorbereitet.



Hebr 12,9-11


In Analogie zu den erzieherischen Maßnahmen von irdischen Vätern hält der Briefschreiber seine Leser dazu an, sich bereitwillig der Disziplinierung unterzuordnen, die von ihrem geistlichen Vater ausgeht. Die Erziehung Gottes führt zum Leben ( damit wir leben ) und gibt denen, die sie erfahren, Anteil an seiner Heiligkeit und schließlich Frieden und Gerechtigkeit als Frucht. Doch damit es so weit kommen kann, müssen die Christen sich Gottes Erziehung ganz aussetzen und in ihr geübt werden.


3. Aufruf zu geistlicher Erneuerung
(
12,12 - 17 )


Hebr 12,12-13


Der Verfasser des Hebräerbriefes spürt eine gewisse Tendenz zu geistlicher Erlahmung bei seinen Lesern und ermuntert sie deshalb, im Lichte der Wahrheit, die er ihnen nahegebracht hat, neue Kraft zu schöpfen.

Wenn sie sichere Schritte machen, wie sie aus wirklicher Gerechtigkeit kommen, dann werden auch die Schwächsten unter ihnen ( ein Lahmer ) nicht mehr straucheln, sondern vielmehr gesund werden. Ihre eigene Glaubensfestigkeit kann schwächeren Christen Halt geben.



Hebr 12,14


Christen müssen unter allen Umständen den Frieden ... mit jedermann und ihre persönliche Heiligung ( hagiasmos ) suchen, denn ohne einen solchen Wandel wird niemand den Herrn sehen . In Gottes Gegenwart kann keine Sünde bestehen, deshalb müssen die Christen sündlos sein, wenn sie den Herrn erblicken (vgl. 1Joh 3,2 ) - ein Zustand, den sie auch tatsächlich erreichen werden. Diese Erkenntnis spornt dazu an, hier und jetzt nach Heiligkeit zu streben. Der Verfasser mag jedoch vielleicht auch daran gedacht haben, daß das Maß der Erkenntnis, die der Christ von Gott hat, auch jetzt schon von dem Grad seiner Heiligung bestimmt wird (vgl. Mt 5,8 ).



Hebr 12,15-17


Der Briefschreiber malt seinen Lesern in düsteren Farben aus, was mit einem Gläubigen geschehen kann, der Gottes Gnade versäumt : Er kann eine bittere Wurzel inmitten der Gemeinde werden, deren Untreue gegenüber Gott andere ansteckt. Das ist sicherlich eine Anspielung auf 5Mo 29,17 ,wo ein Abtrünniger des Alten Bundes als "eine Wurzel ..., die da Gift und Wermut hervorbringt", bezeichnet wird. Ein solcher Mensch ist ein Gottloser ( bebElos , "profan, unheilig, entweiht") wie Esau , Jakobs Bruder, dessen oberflächlicher und weltlicher Charakter ihn dazu veranlaßte, um der einen Speise willen seine Erstgeburt zu verkaufen. Der Autor des Hebräerbriefes warnt seine Leser eindringlich davor, dem vorübergehenden Druck von außen nachzugeben und damit ihr Erbe aufs Spiel zu setzen. Wenn sie nicht standhaft bleiben, werden sie diesen törichten Schritt am Ende bedauern und möglicherweise feststellen, daß sie die Vorrechte ihres Erbes genauso unwiderruflich verloren haben wie Esau die seinen. Dieser Fall tritt natürlich vor allem dann ein, wenn jemand vom Christentum abfällt, eine Entscheidung, vor der der Hebräerbrief immer wieder warnt.



4. Die Warnung
(
12,18 - 29 )


Hebr 12,18-21


In lebhaften Farben schildert der Verfasser die Situation am Sinai und die ehrfurchtgebietenden Umstände bei der Stiftung des Alten Bundes (vgl. 2Mo 19,9-23; 5Mo 9,8-19 ).



Hebr 12,22-24


Die Gegebenheiten, mit denen es das Volk des Neuen Bundes zu tun hat, sind in ihrer Art sogar noch eindrucksvoller, denn die Menschen sind nun zum himmlischen Jerusalem und zu den vielen tausend Engeln und zu der Versammlung (gekommen) . Der Begriff Gemeinde der Erstgeborenen bezieht sich möglicherweise auf die Versammlung all derer, deren Erbrecht bereits bestätigt ist (nach dem Gesetz des Alten Testamentes war der "Erstgeborene" der Erbe; vgl. Hebr 12,16 ). Sie haben bereits Eingang in den himmlischen Bereich gefunden, wo die Engel sind. Vor allem aber kamen sie zu Gott, dem Richter über alle . Tatsächlich gibt es offenbar einige Menschen, deren Leben seiner Prüfung standhält ( zu den Geistern der vollendeten Gerechten ; vgl. Hebr 10,14;11,40 ). Sie kamen zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus (vgl. Hebr 8,6;9,15 ), dessen versöhnendes Blut nicht nach Rache schreit wie das des ermordeten Abel, sondern den Anhängern des Neuen Bundes die Aufnahme in Gottes Reich sichert.

Bei rechtem Bedenken all dieser Dinge müssen die Leser des Hebräerbriefes Ehrfurcht empfinden und sich angespornt fühlen, dem Ruf zu den höchsten Vorrechten, die der Neue Bund gewährt, nachzukommen.

 

Hebr 12,25


Der Gegensatz zwischen den beiden Bundesschlüssen wird nun als ein Gegensatz zwischen einer Warnung, die auf Erden ausgesprochen wurde, und einer, die vom Himmel selbst kam, definiert. Da diejenigen, die den Alten Bund ablehnten, nicht entronnen sind , wie können dann die Menschen des Neuen Bundes, die ihn abweisen, erwarten, ihm zu entrinnen (vgl. Hebr 2,3 )? Die Stimme des Warners setzt der Briefschreiber hier eindeutig mit der des Stifters dieses Neuen Bundes gleich, der nun "zur Rechten der Majestät in der Höhe" sitzt ( Hebr 1,3 ).


Hebr 12,26-27


Die göttliche Stimme hat einst die Erde erschüttert , am Ende aber wird sie nicht allein die Erde, sondern auch den Himmel erbeben lassen. Der Hinweis auf Hag 2,6 wird vom Briefschreiber im Sinne der endgültigen Umgestaltung des Himmels und der Erde nach dem Tausendjährigen Reich verstanden (vgl. Hebr 1,10-12 ). Was nach diesem umwälzenden Ereignis zurückbleibt, wird ewig sein.


Hebr 12,28-29


Ewig ist auch das Wesen des Reiches, das wir empfangen . Die Wendung "laßt uns dankbar sein" kann auch mit "laßt uns die Gnade haben" (oder "bewahren"; griechisch echOmen charin ) wiedergegeben werden. Es ist vielleicht ein letzter Hinweis auf den Überfluß an Gnade, der den Gläubigen durch den Hohenpriester zugänglich geworden ist (vgl. Hebr 4,14-16 ). Das wird bestätigt durch die Worte und so ( di? Es , wörtlich "durch was"), die die Leser daran erinnern sollen, daß diese Gnade erforderlich ist, um Gott in der neuen Bundesgemeinschaft zu dienen ( latreuOmen , das Wort taucht auch in Hebr 8,5;9,9;10,2;13,10 auf), wie es ihm gefällt . Gegen die Verweigerung dieses Dienstes steht der abschreckende, feierliche Schlußgedanke, daß unser Gott ... ein verzehrendes Feuer (ist) (vgl. Hebr 10,26-27 ). Ein Gläubiger, der seine herrlichen Vorrechte verschmäht, beschwört dadurch Gottes Vergeltung über sich herauf.



V. Epilog
( Hebr 13 )


Der Epilog des Hebräerbriefes unterscheidet sich insofern vom übrigen Briefinhalt, als dort relativ allgemeine Ermahnungen und Warnungen ausgesprochen werden, während der Epilog ganz spezielle Mahnungen enthält. In gewisser Weise geht es dabei darum, Gott zu "dienen, wie es ihm gefällt" (vgl. Hebr 12,28 ). Darüber hinaus enthält die Schlußrede einige persönliche Bemerkungen des Verfasser an die Adressaten und seine Abschiedsworte.



Hebr 13,1-6


Der erste Abschnitt des Epilogs umfaßt moralische Direktiven. Den Lesern wird eingeschärft, daß sie sich in der brüderlichen Liebe (V. 1 ) bewähren, gastfrei (V. 2 ) gegenüber Fremden sein und Gefangenen (V. 3 ) ihr Mitgefühl nicht versagen sollen. Darüber hinaus werden sie zu sexueller Reinheit aufgerufen, wobei der Ehe ein hoher Stellenwert eingeräumt wird (V. 4 ). Sie sollen sich nicht zur Geldgier hinreißen lassen, sondern mit dem zufrieden sein, was da ist (V. 5 ; vgl. Lk 12,15; Phil 4,11; 1Tim 6,6-10 ). Auch wenn sie materiell gesehen arm sind, so haben sie doch den Herrn ( Hebr 13,5 ) und seine Hilfe (V. 6 ).



Hebr 13,7-8


Auf diese moralischen Anweisungen folgen religiöse, die sich bis Vers 17 des Epilogs erstrecken. Die Aufforderung "gedenkt an eure Lehrer" bezieht sich vielleicht auf ehemalige Gemeindeleiter, die inzwischen verstorben waren. Die Leser sollen zu ihrem eigenen Besten das Ende dieser Menschen bedenken und ihrem Glauben nachfolgen. Diese führenden Persönlichkeiten waren gestorben, aber Jesus Christus , von dem sie den Lesern erzählt haben, ist für immer derselbe .



Hebr 13,9


Aus diesem Grund müssen auch alle neuen Lehren, die mit der unwandelbaren Botschaft über Jesus Christus nicht übereinstimmen, zurückgewiesen werden. Der Hinweis des Verfassers auf mancherlei und fremde Lehren klingt keineswegs so, als ob er von der normativen jüdischen Religion spräche, sondern als ob die Leser des Hebräerbriefes es mit einer bestimmten sektiererischen Variante des Judentums zu tun hatten (vgl. den Kommentar unter "Hintergrund und Umfeld des Briefes" in der Einführung ).


Hebr 13,10-14


Falls es sich bei den Leuten, die mit diesen "fremden Lehren" hausieren gingen, um eine Gruppe handelte, die dazu tendierte, die Wüstenerfahrung Israels und die Stiftshütte zum Ideal zu erheben, so gewinnen die folgenden Worte des Briefschreibers ein besonderes Gewicht. Die Christen haben einen besonderen Altar (wahrscheinlich eine Redefigur für das Opfer Christi), von dem sie ihre geistliche Nahrung empfangen. Die der Stiftshütte dienen , haben kein Recht, an dieser geistlichen Speise teilzunehmen. Wenn manche Menschen ein Leben des Rückzugs in die Wüste vorzogen und sich selbst als Diener der alten Stiftshütte betrachteten, so waren sie damit nach den Worten des Briefschreibers von den christlichen Privilegien ausgeschlossen. Unter der alten priesterlichen Ordnung wurde das Blut der Opfer am Versöhnungsfest in das Heilige getragen , während die Leiber der Tiere ... außerhalb des Lagers verbrannt wurden (V. 11 , ein Ort, der in den Jahren des Irrens durch die Wüste als unheilig galt). Auch Jesus hat draußen vor dem Tor (d. h. außerhalb von Jerusalem) gelitten , doch sein Opfer war dazu da, das Volk zu heiligen. Statt durch die Verbindung mit ihm unheilig zu sein, wie manche ungläubigen Juden meinten, sind die Leser des Hebräerbriefes in Wirklichkeit "heilig" (oder "geheiligt"; vgl. Hebr 2,11;10,10.14 ) und sollen nicht zögern, seine Schmach ebenfalls auf sich zu nehmen (vgl. Hebr 12,2 ), indem sie aus dem Lager des Judentums hinausgehen und sich mit Jesus identifizieren. Wenn die Leser des Briefes mit den Sektenniederlassungen in ihrer Region vertraut waren, so hatte diese Mahnung sicherlich besondere Durchschlagskraft. Ihre wahre Heimat ist kein Lager und keine Siedlung, die jetzt existiert, sondern die zukünftige (Stadt) (vgl. Hebr 11,10.16;12,22 ).



Hebr 13,15-16


Nach Jesu Tod sind keine Blutopfer mehr nötig, nur noch Lobopfer und Gutes zu tun und mit andern zu teilen, ... denn solche Opfer gefallen Gott (vgl. Hebr 10,25 ).



Hebr 13,17


Die Christen sollen ihrer früheren Lehrer gedenken und das, was sie von ihnen gelernt haben, behalten ( 13, 7 - 8 ), ihren gegenwärtigen Gemeindevorstehern aber sollen sie gehorchen.

Sie sollen ihre Verantwortlichkeit vor Gott anerkennen und ihnen ihr Hirtenamt nicht durch Ungehorsam erschweren. ( Damit sie das mit Freuden tun heißt wahrscheinlich eher "damit ihr Bericht (an Gott) über euch freudig geschehe".)



Hebr 13,18-19


In der gleichen Gesinnung der Bescheidenheit, die ihn in den meisten seiner warnenden Passagen das Pronomen "wir" gebrauchen ließ, fordert der Briefschreiber seine Leser zur Fürbitte auf, um so mehr , daß er ihnen möglichst bald wiedergegeben werde . Er nimmt persönlich Anteil am Schicksal der Adressaten seines Briefes und ist begierig darauf, sie zu sehen.



Hebr 13,20-21


In einem wunderschönen Segenswunsch, der nochmals eine Reihe der wichtigsten Punkte des Briefes herausgreift (z. B. Frieden, Blut, Bund , Auferstehung, Hirte , tüchtig machen), gibt der Verfasser des Hebräerbriefes seinem Vertrauen in unsern Herrn Jesus Christus, (den großen Hirten) des neuen Bundesvolkes, durch den Gott seinen Willen in den Herzen der Leser und im Briefschreiber selbst wirken kann ("tüchtig machen" ist katartisai , "vorbereiten"; vgl. Eph 4,12 ), Ausdruck. Das ist es, was er für seine Leser erbittet.



Hebr 13,22-25


Mit der nochmaligen Bitte, dies Wort der Ermahnung anzunehmen, verknüpft er die Hoffnung, daß er und Timotheus die Gemeinde bald besuchen werden. Nach einem letzten Gruß befiehlt er die Adressaten des Briefes der Gnade Gottes .



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